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RUSSLAND/159: Russen wollen soziale Gerechtigkeit und starken Staat (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 9 vom 1. März 2013
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Weniger Interesse an "westlichen Werten"
Russen wollen soziale Gerechtigkeit und starken Staat

von Willi Gerns



Im Frühjahr 2012 hat das Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie zum "Russischen Traum" angefertigt. 1750 Russinnen und Russen im Alter zwischen 16 und 55 Jahren aus 20 Regionen des Landes wurden repräsentativ befragt, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. Leider wurde die große gesellschaftliche Gruppe der Rentnerinnen und Rentner und damit der Großteil derjenigen Menschen, die die meiste Zeit ihres Lebens unter den Bedingungen der Sowjetmacht gelebt haben, nicht in die Befragung einbezogen. Das muss gerade bei Fragen nach gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu einem verzerrten Bild führen. Dennoch sind die Ergebnisse der Befragungen äußerst aufschlussreich.

Selbstverständlich spielen, wie überall in der Welt, auch für die Russinnen und Russen die Bedingungen des täglichen Lebens eine herausragende Rolle bei den Wünschen die sie bewegen. So wünschen sich 40 Prozent der Befragten die Möglichkeit, Geld auszugeben, ohne jede Kopeke umdrehen zu müssen. 33 Prozent träumen von Gesundheit, 23 von familiärem Glück und 21 Prozent von einem Eigenheim. Hinsichtlich der Politik und der Zukunft des Landes stehen die Wünsche nach sozialer Gerechtigkeit, gleichen Rechten für alle und einem starken Staat, der sich um seine Bürger kümmert, ganz im Vordergrund. Erst dahinter folgen dann Werte wie Demokratie, Menschenrechte, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und andere. Für den sozialen Schutz der Bevölkerung sehen 90 Prozent den Staat in der Verantwortung und 71 Prozent möchten seine Rolle gestärkt sehen.

Individualismus und Liberalismus westlichen Typs werden von 54 Prozent der Befragten abgelehnt. Auch die Demokratievorstellungen unterscheiden sich wesentlich von den im Westen gängigen Klischees. Als demokratisch sehen 79 Prozent der befragten Russinnen und Russen eine Gesellschaft, wenn soziale und demokratische Rechte gewahrt werden. Auf die Frage welche Bedingungen unbedingt erfüllt werden müssen, damit in einer Gesellschaft alle Träume von Demokratie erfüllt sind, nannten 77 Prozent die Gleichheit vor dem Gesetz, 40 Prozent geringe Einkommensunterschiede und 37 Prozent unabhängige Gerichte. Freie Wahlen, die im Westen als das Nonplusultra der Demokratie gelten, wurden nur von 27 Prozent genannt. Ein Viertel der Befragten gibt an, dass ihre Vorstellungen über einen demokratischen Aufbau der russischen Gesellschaft sich nicht erfüllt haben. Zwei Drittel wünschen sich eine Gesellschaft der sozialen Gleichheit in Russland. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich werden von 83 Prozent der Befragten als zu groß und die Verteilung des Privateigentums von zwei Dritteln als ungerecht empfunden. Zwei Drittel stimmten der Aussage zu, es sei nötig, die Rolle des Staates in allen Bereichen zu stärken sowie Großbetriebe und strategisch wichtige Branchen zu verstaatlichen. Nur 28 Prozent sehen dagegen die Notwendigkeit, "alle Lebensbereiche zu liberalisieren und die Wirtschaft von der Macht der Bürokraten zu befreien." Das von der russischen Regierung bestätigte Vorhaben, die noch in Staatsbesitz befindlichen Großunternehmen in den nächsten Jahren zu privatisieren, steht folglich in krassem Gegensatz zum Willen der überwältigenden Mehrheit der Russinnen und Russen.

Als Resümee lässt sich feststellen, dass trotz Konterrevolution und Wiederherstellung des Kapitalismus bei der großen Mehrheit der russischen Bevölkerung das nicht nur durch die Sowjetzeit, sondern bereits durch die bäuerliche Dorfgemeinschaft und andere Traditionen in Kultur und Lebensweise geprägte Gemeinschaftsdenken offenbar nach wie vor tief verwurzelt ist. Die "westlichen Werte" sind hier wenig gefragt. Anders selbstverständlich bei der russischen Bourgeoisie. Und auch bei der wachsenden Zahl derjenigen, die den städtischen Mittelschichten zuzurechnen sind, bestimmen mehr und mehr Individualismus und bürgerlicher Liberalismus das Denken und Handeln.


(Die angeführten Daten aus der Studie des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften und der Friedrich-Ebert-Stiftung sind dem Beitrag von Felix Hett und Reinhard Krumm "Russlands Traum: Gerechtigkeit, Freiheit und ein starker Staat" entnommen, der in den "Russland-Analysen" Nr. 250 v. 25.1.2013 erschienen ist.)

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 45. Jahrgang, Nr. 9 vom 1. März 2013 2013, Seite 7
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2013