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TÜRKEI/008: 10 Jahre AKP-Regierung, eine Bilanz (SOLIDAR WERKSTATT)


SOLIDAR WERKSTATT für ein solidarisches, neutrales und weltoffenes ÖSTERREICH
WERKSTATT-Blatt Nr. 2/2012

Türkei
10 Jahre AKP-Regierung - eine Bilanz



Die Türkei wird in der europäischen Öffentlichkeit seit Jahren als aufsteigender Stern am Himmel der Wirtschafswelt bejubelt. Der seit nunmehr 10 Jahren amtierende türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) werden von deutschen Politikern und Medien als "große Demokraten" gefeiert. Ein Beispiel hierfür war der kürzlich gescheiterte Versuch, den renommierten Steiger Award "für seine Bemühungen um einen demokratischen Wandel in seinem Land" an Erdogan zu verleihen. Ein Blick auf die Entwicklungen im letzten Jahrzehnt macht deutlich, dass dabei unbequeme Wahrheiten völlig ausgeblendet werden.


Unterdrückung der politischen Opposition

Unter der AKP-Regierung gingen die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei unvermindert weiter. Im Jahresbericht 2011 der "amnesty international" zur Türkei heißt es u.a.: "Nach wie vor fanden Strafverfahren statt, mit denen das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt wurde. Vorschläge zur Einrichtung unabhängiger Mechanismen zur Wahrung der Menschenrechte wurden nicht umgesetzt. Es trafen weiterhin Berichte über Folter und andere Misshandlungen ein. Ermittlungen und Strafverfahren gegen Beamte mit Polizeibefugnissen in solchen Fällen waren noch immer ineffektiv. Auch im Berichtsjahr fanden (...) zahlreiche unfaire Gerichtsverfahren statt."

In der Regierungszeit der AKP verdoppelte sich die Gesamtzahl der Inhaftierten. Angaben internationaler Menschenrechtsorganisationen zufolge sitzen über 11.000 Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung in türkischen Gefängnissen. Seit Ende 2011 wurden weltweit knapp 33.000 Verfahren mit dem Tatvorwurf "Terrorismus" eingeleitet. Rund 15.000 dieser Verfahren laufen vor türkischen Gerichten. Allein diese Zahl zeigt, dass jegliche politische Opposition unter dem Vorwand der "Terrorismusbekämpfung" staatlicher Verfolgung ausgesetzt ist. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Angeklagten um Kommunalpolitiker, Gewerkschafter, Studierende, Umweltschützer oder Vertreter anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen, die die Regieruung kritisierten und sich für demokratische Rechte einsetzten.


Kurden auf der Zielscheibe

Besonders betroffen von den Repressionen sind das kurdische Volk und dessen Repräsentanten. Die Zahl der seit 2009, im Rahmen der so genannten KCK-Operation verhafteten kurdischen Oppositionellen, darunter Kommunalpolitiker, Funktionäre der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Journalisten und Intellektuelle, wird aktuell auf über 7.000 beziffert. Der Einsatz für die demokratische Lösung der kurdischen Frage oder für die Einführung eines Unterrichts in kurdischer Muttersprache reicht aus, um als "Terrorist" vor Gericht gestellt zu werden.

Auch die AKP-Regierung setzt die Politik der Gewalt und Krieges gegen die Kurden fort. Angebliche Stellungen der PKK werden dies- und jenseits der Grenze bombardiert, was zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung fordert. Zuletzt wurden kurz vor Jahreswechsel an der irakischen Grenze 34 kurdische Bauern bei Luftangriffen der türkischen Luftwaffe getötet. Die Verantwortlichen dieses Massakers wurden bis heute nicht vor Gericht gestellt.


Gewerkschafts- und Arbeiterrechte wie vor 200 Jahren

Die Türkei ist Mitglied der G20-Staaten. Aufgrund des Wirtschaftswachstums wird sie als "China Europas" bezeichnet. Dass diese hochgelobte wirtschaftliche Entwicklung nur durch die enorme Vertiefung der sozialen Ungerechtigkeit und die weitere Beschneidung von Arbeiterrechten möglich war, wird allzuoft verschwiegen. Während das Land auf der Liste der stärksten Wirtschaftsnationen an 17. Stelle geführt wird, belegt sie nach UN-Angaben auf dem "Index Menschlicher Entwicklung" Platz 77. Seit Amtsantritt Erdogans gingen die Reallöhne in der Türkei um 20 Prozent zurück. Die Auslandsverschuldung stieg um das 2,5-Fache. Jährlich sterben 1.100 Arbeiter bei Arbeitsunfällen.

Damit die Unternehmer ungestört ihre Profite steigern können, wird das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung weiter eingeschränkt. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter werden entlassen. Wer sich für bessere Arbeitsbedingungen und Gewerkschaftsrechte einsetzt, setzt sich dem Polizeiterror aus.


Journalisten hinter Gittern

In der Türkei sitzen aktuell über 100 Journalisten hinter Gittern. Auch in ihrem Fall spricht die AKP-Regierung von "Terroristen oder gewöhnlichen Kriminellen, die nicht wegen ihrer journalistischen Tätigkeiten inhaftiert" seien. Die internationale Journalistenorganisation "Reporter ohne Grenzen" führt dagegen die Türkei auf der "Rangliste Pressefreiheit 2011" auf Platz 148.


Kinder und Jugendliche als "Staatsfeinde"

In türkischen Gefängnissen sitzen derzeit über 2.000 Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren. Den meisten von ihnen wird vorgenommen, an Demonstrationen in kurdischen Städten teilgenommen und Polizisten mit Steinen beworfenb zu haben. Täglich werden Berichte über die Mißhandlung und Vergewaltigung von inhaftierten Kindern bekannt, wobei die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Die Zahl der inhaftierten Studierenden, deren einziges Verbrechen in der Teilnahme an Protestaktionen gegen Studiengebühren etc. liegt, beläuft sich auf über 600.


Frauen und ihre Rechte werden mit Füssen getreten

Die Absicht der AKP-Regierung, die Türkei zu einem religiös orientierten reaktionären Staat zu machen, wird am besten in der Frauenpolitik sichtbar. Ob Reformen im Bildungswesen, oder Änderungen im Strafrecht, alle Regierungsvorhaben verfolgen das Ziel, Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen und zu gehorsamen Müttern und Ehefrauen zu machen. Die Folge dieser Politik drückt sich in der Statistik aus: Gewalt an Frauen nimmt zu. Im letzten Jahrzehnt stieg die Zahl der von ihren Männern getöteten Frauen um das 14-Fache.


Glaubensfreiheit oder abweichende Lebensstile bleiben auf der Strecke

Auch im Bereich Glaubensfreiheit ist die Türkei von den Normen eines demokratischen Rechtsstaates meilenweit entfernt. Religionsgemeinden wie die Aleviten, die nicht zur islamischen Hauptströmung der Sunniten zählen, warten noch wie vor auf ihre Rechte und werden rechtlich wie gesellschaftlich diskriminiert. Das kürzlich gefällte Skandalurteil über das so genannte Sivas-Urteil ist das letzte Beispiel dafür. Mit der Begründung, die Tat sei verjährt, stellte ein Strafgericht in Ankara das Verfahren gegen fünf Personen ein, denen die Beteiligung an einem Pogrom an hauptsächlich alevitischen Intellektuellen und Jugendlichen vorgeworfen wurde. Im Jahre 1993 waren in der Stadt Sivas 35 Menschen von einer fundamentalistischen Horde verbrannt worden. Die jetzt in die Freiheit entlassenen Mörder konnten trotz internationaler Haftbefehle unbehelligt ihr Leben weiterführen. Erdogan kommentierte das Urteil mit den Worten, es möge den staatlichen und Nationalen Interessen der Türkei dienen.

Auch Kriegsdienstverweigerer, Homosexuelle und Transgender oder Angehörige nationaler Minderheiten gehören wie die Aleviten zu den Bevölkerungsgruppen, die einer ständigen Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt sind.


Internationale Solidarität tut Not

Angesichts dieses Gesamtbildes kann im Hinblick auf die Türkei nicht vom demokratischen Wandel die Rede sein. Sie ist auch nicht geeignet, als Modellstaat für den Nahen Osten und die im Umbruch befindlichen Länder in der Region angepriesen zu werden, wie das die EU bei jeder Gelegenheit wiederholt. Ganz im Gegenteil: Die undemokratischen Praktiken der Erdogan-Regierung, ihre Kriegspolitik müssen angeprangert werden. Die demokratischen Kräfte in der Türkei brauchen die Unterstützung der demokratischen Öffentlichkeit in der EU. Wir rufen Sie auf, sich mit der kurdischen Bevölkerung, den Gewerkschaftern, Journalisten, Frauen und Jugendlichen in der Türkei und mit ihrem Kampf für Demokratie und Frieden zu solidarisieren.


DIDF - Föderation der Demokratischen Arbeitervereine; www.didf.at

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Quelle:
WERKSTATT-Blatt (guernica) 2/2012, Seite 13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2012