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USA/281: Eine neue US-Außen- und Sicherheitspolitik? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009

Die Rückkehr der Mittellage
Eine neue US-Außen- und Sicherheitspolitik?

Von Jochen Thies


Auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik kommen neue Herausforderungen zu, die maßgeblich durch die neue Administration in Washington geformt werden. Um dabei Einflussmöglichkeiten gegenüber den USA und Russland zu gewinnen, muss Deutschland aber vor allem auf die Geschlossenheit Europas hinwirken.


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Analysiert man den Beginn der Amtszeit von Präsident Barack Obama, die Berufungen in Washington, das handelnde Personal im State Department und im Pentagon, die neuen Sonderberater, dann spricht eine Menge dafür, dass sich die US-Außenpolitik in den kommenden Jahren nicht dramatisch verändern wird. Unterhalb der Ebene von Obama wurde ein solider Unterbau von Personen zusammengestellt, der seine prägenden Erfahrungen in der Zeit des Vorgängers Bill Clinton erhalten hat.

Darüber hinaus sollte nicht übersehen werden, dass die in Europa zum Schluss in Bausch und Bogen verdammte Bush-Administration in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit sehr wohl den Versuch unternommen hatte, zu einer Politik des Multilateralismus, der Konsultationen mit ihren wichtigsten Verbündeten zurückzukehren. Der Wahlkampf und die von Amerika ausgehende Finanzkrise trugen am Ende das ihrige dazu bei, hierzulande ein vernichtendes Gesamturteil über George Bush jr. und seine acht Jahre als US-Präsident zu fällen. Aber dies muss nicht die endgültige Einschätzung über ihn sein. Ein schwerer Terroranschlag auf amerikanischem Boden während der Präsidentschaft von Obama könnte bereits zu einer günstigeren Beurteilung des Vorgängers führen. Henry Kissinger meint schon heute, dass Bush im Laufe der Zeit historische Gerechtigkeit widerfahren wird. Wer in den zurückliegenden Jahren die USA bereiste, wer Bush bei längeren Interviews und bei Reden in voller Länge in den Medien studieren konnte, wird schon heute das holzschnittartige Bild über ihn nicht teilen können, das die deutschen elektronischen Medien mit ihren hektischen Kurzausschnitten und suggestiven Bildern von ihm verbreiteten.

In Asien ist die Einschätzung von Bush schon heute eine andere. Schritt für Schritt haben die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren ein sehr gutes Verhältnis zu jeder einzelnen Macht in der Region entwickelt, heiße sie China, Indien oder Pakistan. Die Beziehungen dieser Staaten zu Washington sind besser als zu dem jeweiligen Nachbarn in einer Region, die von großen Mächten, Rivalitäten und einem nuklearen Habenichts geprägt wird. Es war somit kein Zufall, dass die erste große Auslandsreise von Hillary Clinton, der neuen Chefin des State Department, nach Asien führte. Aufschlussreich war ferner der Eröffnungszug der Obama'schen Außenpolitik mit einer Charmeoffensive gegenüber der muslimischen Welt und der Entsendung des Sondergesandten Mitchell nach Nahost. Vermutlich wird in die Zeit von Obama die letzte Chance fallen, zu einer Zweistaatenlösung für den Nahen Osten zu kommen. Danach werden sich die demografischen Verhältnisse immer mehr gegen Israel kehren.


Neue Herausforderungen

Auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik kommen - ausgerechnet in Zeiten einer weltweiten Finanzkrise - zwei neue Herausforderungen zu: eine Erneuerung der transatlantischen Beziehungen und damit eine Neubewertung der Rolle Deutschlands in der NATO, speziell in Afghanistan, sowie der Umgang mit Russland - in amerikanischer Sicht ein Schlüsselproblem. Während im ersten Fall die Deutschen die Dinge selbst in der Hand haben, lässt sich dies von der Russland-Problematik nur bedingt sagen.

In der Rückschau zeigt sich, dass die faktische Teilung der Europäer hinsichtlich ihrer Haltung beim Irak-Krieg Folgen hat. Der Büroleiter von Willy Brandt in dessen Zeiten als Außenminister, der Diplomat und Buchautor Hans Arnold, hält die Auswirkungen für eine europapolitische Katastrophe. Tatsache ist, dass die Abstimmung zwischen den europäischen Regierungschefs in den großen Fragen der Weltpolitik seitdem nicht mehr klappt. Stattdessen ist eine Re-Nationalisierung der Außenpolitik zu beobachten, die Europa gefährlich schwächt. Hinzu kommen persönliche, mentalitäts- und erfahrungsbedingte Unverträglichkeiten, wie das Nicht-Verhältnis zwischen dem französischen Präsidenten und der Bundeskanzlerin.

Großbritannien muss nach wie vor als engster Verbündeter der USA angesehen werden. Es steht zwar einerseits im Begriff, sein Irak-Engagement zu beenden, das die USA nicht honoriert haben. Gleichzeitig wurden jedoch die Truppen in Afghanistan erheblich verstärkt. Gleiches werden nun die Amerikaner tun, die das mit Abstand größte ausländische Kontingent in diesem Land um 1.700 Mann aufstocken werden. Obama unternimmt damit einen letzten großen Versuch, diese Weltregion unter Einbeziehung Pakistans zu stabilisieren.


Stärkeres militärisches Engagement gefordert

Die Erwartungen an die deutsche Adresse, zumal im Zeichen von Richard Holbrooke, dem Sondergesandten und Kenner Deutschlands, sind hoch. Die geschmeidigere Rhetorik bei den Auftritten von Vizepräsident Biden und dem neuen Sicherheitsberater Jones bei der Münchner Sicherheitskonferenz darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die Amerikaner nicht nur flankierende Maßnahmen in Afghanistan erwarten, sondern einen substanziellen militärischen Beitrag der Bundesrepublik ohne Beschränkungen. Da sich die Sicherheitslage verschlechtert hat, erwartet Washington, dass sich die Deutschen mindestens vorübergehend militärisch stärker in Afghanistan engagieren. Nur dann kann der Einsatz der westlichen Helfer im Zivilbereich zum Tragen kommen. Aber auch hier ist die deutsche Leistungsbilanz nicht günstig, der Aufbau der afghanischen Polizei nach deutschen Vorstellungen gescheitert, übrigens auch aufgrund des Kompetenzgerangels zwischen Bundesregierung und Ländern.

Wie wichtig die deutsche Vorbildfunktion innerhalb des westlichen Bündnisses ist, mag ein kurzer Überblick über die Situation bei den Nachbarn belegen, bei denen der Krieg in Afghanistan ähnlich unpopulär wie in Deutschland ist. Aber insgesamt ist Europa in dieser Frage wie im Irak-Krieg gespalten. Denn eine Reihe von Staaten werden von sich aus Truppenverstärkungen anbieten und damit andere unter Druck setzen.


Differenziertes Europa

In Frankreich, das sich beim Irak-Krieg an der Seite Berlins befand, ist die Situation fast genauso kritisch wie in Deutschland. Paris lehnte sogar den Einsatz von AWACS-Flugzeugen in Afghanistan ab. Verteidigungsminister Morin wies unlängst den Gedanken an eine Truppenverstärkung zurück. Aber das wird angesichts eines sprunghaft agierenden, prestigesüchtigen Präsidenten Nicolas Sarkozy wenige Wochen vor dem NATO-Gipfel in Straßburg und Kehl, bei dem die Rückkehr Frankreichs in die Bündnisstrukturen gefeiert werden soll, nicht das letzte Wort sein. Angekündigte Truppenreduzierungen in einer Reihe von französischen überseeischen Standorten könnten Reserven für Afghanistan schaffen - keine einfache Situation für Berlin.

Mehrere andere NATO-Mitglieder wackeln ebenfalls: voran die Holländer, deren Parlament für das kommende Jahr den Abzug aus Afghanistan bereits beschlossen hat, und die Kanadier. Aber Obama hat seine erste Auslandsreise zum nördlichen Nachbarn unternommen. Stabil und aufgeschlossen gegenüber den Vorstellungen Washingtons verhalten sich die Skandinavier. Und Truppenverstärkungen sind sicherlich von den Osteuropäern zu erwarten, falls diese gefordert werden, aber auch von den Italienern und Spaniern. Berlusconi ist bereits vorgeprescht. Die Regierung Zapatero hat sich unlängst dafür entschieden, die Plafondierung der im Afghanistan-Einsatz befindlichen Truppen zu beenden. Dies könnte ebenfalls Auswirkungen auf die deutsche Sicherheitspolitik haben.

Sehr viel unangenehmer ist für die deutsche Außenpolitik die Frage, wie sich Berlin künftig gegenüber einem Russland positionieren soll, das nicht dazu bereit ist, eine Zivilmacht zu werden. Nur mit großem Glück konnte der offene Ausbruch einer großen Krise zwischen den Europäern einerseits und Europa und den USA andererseits beim Georgien-Krieg im letzten Sommer abgewendet werden. Hier wie in den Monaten danach, als die Russen der Ukraine den Gashahn zudrehten, wurde deutlich, dass die Große Koalition in Berlin nicht dazu bereit ist, mit Russland zu brechen, selbst nicht im Falle, dass die russische Führung noch autoritärer und noch unberechenbarer agieren sollte, als sie dies schon heute tut. Damit zeichnen sich neue Konfliktlinien ab, sowohl in Europa als auch in den transatlantischen Beziehungen. Berlin droht das aus der jüngeren deutschen Geschichte sattsam bekannte Problem der Mittellage, die unruhige Position zwischen Ost und West. Noch gibt es kein wirkliches Misstrauen bei den Partnern Deutschlands, aber die Alarmzeichen nehmen zu. Denn neben den Osteuropäern neigten auch die Briten und die Skandinavier während und nach dem Georgien-Krieg zu einer klareren Position gegenüber Russland. Die USA schließlich waren unter Bush für eine "Bestrafung" Moskaus wegen seiner militärisch unangemessenen Antwort auf die georgische Aggression in Südossetien. Noch ist es offen, welche Russland-Politik die neue amerikanische Administration verfolgen wird. Obama und Clinton gingen zunächst auf die Russen zu. Aber russische Avancen wechseln sich mit Sticheleien und Ohrfeigen für Washington ab. So kündigte Moskau unlängst an, Militärstützpunkte im Nahen Osten und am Persischen Golf zu errichten. Fernbomber wurden vorübergehend nach Venezuela verlegt. Modernste Einheiten der russischen Seestreitkräfte hielten Manöver in der Karibik ab und machten Halt in Kuba. Mit Bolivien (!) wurde eine militärtechnische Zusammenarbeit beschlossen.

Ernster sind die Vorgänge in Asien. Die auf russisches Drängen erfolgte Schließung einer Luftbasis in Kirgistan bringt die USA bei der Kriegsführung in Afghanistan in Bedrängnis. Sollte diese "rauflustige" Moskauer Politik anhalten, ist zu befürchten, dass die USA weiterhin alle jene Staaten aus dem Bereich der früheren Sowjetunion "fördern" werden, die sich westlich orientieren wollen.

Somit kann die Georgien-Problematik des letzten Sommers rasch wieder aufleben. Eine "offensiv" ausgerichtete amerikanische Russland-Politik stünde dann sehr rasch in einem erheblichen Widerspruch zu anderen Politikfeldern, auf denen die Russen benötigt werden, vor allem bei der Abrüstung. Der Verzicht der Russen auf die Stationierung von Kurzstreckenraketen in Kaliningrad bringt die USA in Zugzwang bei der geplanten Errichtung ihres Raketenschirms in Polen und der Tschechischen Republik. Vermutlich werden beide Mächte hier auf Zeit spielen. Aber die Stabilisierung Afghanistans kann ohne Russland nicht gelingen, und erst recht gilt dies für die Einhegung des Iran. Für die deutsche Politik lautet die bange Frage: Wie werden sich Putin und Medwedew verhalten? Zwar sind die scharfen russischen Töne im Laufe der sich verschärfenden weltweiten Finanzkrise, die dramatische Folgen für die russische Wirtschaft hatte, weil Moskau ganz auf hohe Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft setzte, im Laufe der letzten Wochen verstummt. Aber die innere Verfassung Russlands muss Sorgen bereiten, erste Massenproteste in Sibirien, vor allem der politische Mord auf der Straße, der ungesühnt bleibt und zu einer tiefen Verunsicherung nicht nur regimekritischer Menschen führt. Ist dies auch ein Indiz dafür, dass Russland politisch und militärisch unberechenbar bleibt, ein einsamer Wolf im internationalen System?

Vielleicht wird dieses Jahr schon zeigen, ob es sich um eine emotionale Aufwallung, um Phantomschmerzen wegen des objektiv eingetretenen Statusverlustes während der letzten zwei Jahrzehnte oder um einen Kurswechsel handelt, bei dem Putin, der wirkliche Machthaber Russlands, den Versuch unternimmt, sein Land als Mitspieler in die Weltpolitik zurückzubringen.


Aus der Mitte des Geleitzuges

Fasst man die unterschiedlichen Themenfelder zusammen, spricht viel für die Annahme, dass unter französischer und deutscher Führung der wacklige Verbund der europäischen NATO-Staaten zusammengehalten werden muss, um Amerikaner wie Russen mit der Geschlossenheit Europas zu beeindrucken und gleichzeitig Einflussmöglichkeiten auf die USA zu gewinnen. In diesem Zusammenhang ist -gewissermaßen als Signal - das Angebot von Außenminister Steinmeier zu sehen, in Guantánamo inhaftierte Terrorismusverdächtige in Deutschland aufzunehmen. Joe Biden ist im Sinne des Ministers in München auf das Thema eingegangen. Damit eröffnet sich ein Feld des Dialogs, das dann Zug um Zug ausgebaut werden und sich günstig auf andere Politikfelder, z.B. bei der Kooperation in der Klimapolitik, auswirken könnte. Aber zum Klima gehören auch Solidarität und burden-sharing bei der Anwendung von hard power. Dieser Zusammenhang lässt sich in den transatlantischen Beziehungen nicht wegdiskutieren. Deutschland muss sich gedanklich und materiell aus der Mitte des europäischen sicherheitspolitischen Geleitzuges, in der es sich in letzter Zeit befand, nach vorn bewegen. Nur so entgeht es dem Dilemma und der Furcht vor der Mittellage, die einsam macht und Europa schadet.


Jochen Thies (* 1944) ist Sonderkorrespondent beim Deutschlandradio Kultur in Berlin.
jochen.thies@dradio.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009, S.17-21
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2009