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DISKURS/005: Entspannt Euch, Jungs (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2010

Entspannt Euch, Jungs
Sind Jungen tatsächlich die Bildungsverlierer des neuen Jahrtausends?

Von Katharina Oerder


Keine Wochenzeitung, die nicht über die neuen Bildungsverlierer berichtet, kein Magazin, das nicht sorgenvoll die Stirn in Falten legt, angesichts der neuesten Misere, die sich am Bildungsmarkt auftut: Jungen seien schlechter in der Schule als ihre weiblichen Altersgenossinnen, weniger kreativ und zeichneten sich vor allem durch mangelnden Ehrgeiz aus.

Dass "der Anteil weiblicher Schüler an den Gymnasien wächst", war der Zeit 2007 keineswegs eine positive Notiz wert, sondern wurde im Zusammenhang um die Sorge der "kleinen Männer" erwähnt. "Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden auch die deutschen Hochschulen über das bessere Abschneiden der jungen Frauen bei Prüfungen berichten können", prophezeit Klaus Hurrelmann, Professor für Sozial und Gesundheitswissenschaften. Bisher hatten statistisch gesehen immer die Männer die Nase vorn, was Abschlüsse und Auszeichnungen angeht, in ein paar Jahren könnte das dann anders sein. Natürlich, und das erkennt auch Klaus Hurrelmann, wird es noch lange dauern, bis sich diese besseren Abschlüsse auch in Karrieren oder gar Lohn- und Gehaltshöhen niederschlagen werden, aber allein der Gedanke scheint so erschreckend, dass Jungen bundesweit als die neuen Bildungsverlierer identifiziert werden.

Sicher, das verbreitete schlechtere Abschneiden von Jungen in der Schule ist bedenklich und diesem sollte entschieden entgegen gewirkt werden. Die Debatte um dieses Thema allerdings könnte moderner sein. Ein zentraler Grund sei nach landläufiger Meinung, die "Übermacht der weiblichen Lehrkräfte, der sich Jungen in der Grundschule entgegensehen", und von denen sie häufig benachteiligt würden (O-Ton Spiegel).

Männer müssten wieder Männer sein dürfen, auch Gewalt dürfe nicht ungesehen vom Schulhof verdrängt werden, wird argumentiert. Rechenaufgaben mit Fußbällen für Jungen, mit Ponys für Mädchen. Mehr Sport, mehr Wettkampf sollen in den Unterricht integriert werden. Jungen sollten zum Beispiel den Umgang mit Hämmern und Nägeln kennen lernen, wird im Ratgeber Jungen besser fördern des Cornelsen-Verlags empfohlen. In einem biologistischen Roll-back werden typisch männliche Eigenschaften den typisch weiblichen gegenübergestellt.

Die "Verweiblichung" der Schulkinder, weil nur durch Frauen erzogen, kann jedoch nicht als Grund für schlechtes Abschneiden in der Schule herangezogen werden. "Definitive Belege für diese These gibt es bisher nicht", gibt auch Bildungsforscher Hurrelmann zu.

Sicher wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn auch in Grundschulen Männer nicht nur als Rektoren, sondern auch als tatsächlich unterrichtende Lehrer auftreten würden. Auch in Kinderkrippen und Kindergärten sind Männer nur selten anzutreffen, was wohl nicht zuletzt an der schlechten Entlohnung dieser typischen Frauenberufe liegen dürfte.

Dass sich die Leistung von Jungen dadurch jedoch nachhaltig verbessern würde, ist fraglich. So konnte die IGLU-Studie feststellen, dass Jungen, die von Männern im Lesen unterrichtet wurden, nicht besser abschnitten, als Kinder, die eine Lehrerin hatten.

Ein nennenswerter Leistungsunterschied zwischen Jungen und Mädchen tritt mitnichten in der Grundschule, wo hauptsächlich Frauen unterrichten, sondern erst in der weiterführenden Schule auf, wo etwa gleich viele Lehrer wie Lehrerinnen angestellt sind.


Bildung ist und bleibt eine soziale Frage

Die einstige "Bildungsbenachteiligung des katholischen Arbeitermädchens vom Lande wurde durch neue Bildungsverlierer abgelöst: die Jungen", sagte Dieter Lenzen, der Vorsitzende des Aktionsrates Bildung dem Spiegel. Damit verkennt er eindeutig die sozialen Realitäten. Gute Bildung ist und bleibt eine soziale Frage. "Der aktuelle Jungen-Diskurs verkürzt die Realität tragisch", kritisiert dementsprechend auch Detlef Pech, Professor für Grundschulpädagogik an der Humbolt-Universität im Tagesspiegel. Keinesfalls alle Jungen scheitern, sondern solche aus sozial schwachen Milieus. Ob ein Kind zu den Gewinnern oder den Verlierern unseres Bildungssystems gehört, ist keine geschlechtliche, sondern eine soziale Frage. Auch Mädchen aus sozial benachteiligten Familien versagen tragisch oft im deutschen Bildungssystem. Die große Männermisere zu beschreiben, verfügt jedoch über einen höheren Sensationswert, als erneut feststellen zu müssen, dass Kinder aus sozial schwachen Familien immer wieder benachteiligt werden. So werden beispielsweise Studien, die die These von den Männern als Bildungsverlierern in Frage stellen, kaum zitiert (z.B. vom Bundesjugendkuratorium, gefördert durch die Bundesregierung, oder die Studie "Bildungs(miss)erfolge von Jungen" des Bildungsministeriums). Skurrile Thesen aus Ratgeberliteratur wie Kleine Jungs - Große Not (Wolfgang Bergmann) oder Die Jungenkatastrophe (Frank Beuster), die beispielsweise besagen, dass Jungen hohe Frauenstimmen akustisch schlechter verstehen ("Mamataubheit") würden, werden hingegen höchst bereitwillig in fast allen großen Zeitungen und Zeitschriften aufgegriffen.

Antworten auf dieses Problem werden also auch nicht in der Aufhebung der sozialen Missstände und Abfederung der Chancenungleicheit, zum Beispiel mit Frühförderung oder mit Gesamt- und Ganztagsschulen, sondern in der weiteren Segregation in "Jungen" und "Mädchen" in einzelnen Schulfächern gesucht. Anstatt auf individuelle Förderung einzelner Menschen zu setzen, wird mit dieser Debatte der Graben zwischen den Geschlechtern vertieft. Dass der Leistungs- oder Persönlichkeitsunterschied zwischen einzelnen Kindern (egal ob Junge oder Mädchen) größer ist als zwischen den beiden Geschlechtern, bleibt in diesen Debatten nicht nur unbeachtet, sondern auch gleich unerwähnt.


Debatte mit "antifeministischen Zügen"

Dem Tagesspiegel sagte der Männerforscher Jürgen Budde, die angestoßene und von Politik und Medien viel befeuerte Debatte der männlichen Bildungsverlierer trage durchaus "antifeministische Züge". Es gehe um Verteilungskämpfe von Geldern für z.B. Jungenförderung. Helga Ostendorf schreibt in der APuZ, der Hype um die "Jungenkatastrophe" bewirke vor allem eins: von der noch immer bestehenden Bildungsbenachteiligung von Mädchen abzulenken. Als Beispiele werden von ihr sowohl die Berufsberatung als auch das duale Ausbildungssystem genannt, in denen strukturelle Benachteiligung von Frauen und Mädchen noch immer groß geschrieben wird.

Auf ähnliche Gedanken könnte man bei genauerer Betrachtung des angesprochenen Aktionsrates Bildung kommen, dessen Studien in den großen Wochenzeitschriften so gerne zitiert werden. Dem Aktionsrat, ins Leben gerufen vom "Verein der Bayerischen Wirtschaft", der in seinen Studien die Benachteiligung von Jungen in der Schule identifizieren zu meinen glaubte, gehörten im ersten Jahr 2007 sieben Männer und keine einzige Frau an. In seiner zweiten Studie 2009 wurde der Rat um eine Professorin ergänzt.

Dass Frauen mit den gleichen Schulabschlüssen weniger Geld verdienen, dass in nur einem der DAX-30 Unternehmen eine Frau im Vorstand sitzt, dass in Branchen, in denen vorzugsweise Frauen arbeiten, schlechter bezahlt wird als in Branchen, in denen vorzugsweise Männer arbeiten, dass nur jede 10. Professur mit einer Frau besetzt wird, ist dem Feuilleton schon lange keine Meldung mehr wert.

Also: Entspannt Euch, Jungs. Solange Ihr mit den schlechteren Abschlüssen noch immer mehr Geld verdient und die Vorstandsposten nur unter Euch aufteilt und solange die Erkenntnis, dass Jungen in der Schule nicht mehr besser sind als Mädchen, zu einem Aufschrei in der ganzen Republik führt, ist das Patriarchat noch lange nicht am Ende.


Katharina Oerder (*1984) arbeitet als Diplom-Psychologin am Lehrstuhl für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie der Universität Bonn und ist Mitglied des Juso-Landesvorstands NRW.
k.oerder@gmx.net


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2010, S. 60-62
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2010