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DISKURS/007: In der Krise zurück zu Humboldt? (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 28 - Mai 2010 - Forum der Universität Tübingen

In der Krise zurück zu Humboldt?

Von Wolfgang Borgmann


Ausbildung, Nutzen, Exzellenz und Effizienz waren die Schlagworte der Bildungsdiskussion der vergangenen Jahre. Doch ganz allmählich vollzieht sich scheinbar eine Rückbesinnung auf das ganzheitliche, nicht berufsbezogene Humboldt'sche Bildungsideal.


"Bei Bildung wird nicht gespart", klingt es, je nach Ton- und Haushaltslage unterschiedlich, landauf, landab. Bravo, möchte man rufen, zumal der hohe Wert der Forschung gleich mitbesungen wird. Das ist erstaunlich, da es in Krisenzeiten in der Regel keine Tabus mehr gibt. Wenn selbst Medizin und erst recht nicht die Kultur von Sparmaßnahmen ausgenommen werden, dann muss die Bildung schon ein großes, gar unantastbares Gut sein. Wie immer die Realität dann aussieht, wenn die tapferen Gesänge verstummt sind und es in die Verteilungskämpfe geht, ist dann eine andere Frage. Aber worum geht es denn eigentlich bei der Hochschulbildung? Geht es um Bildung für möglichst viele, gar alle oder um Bildung für wenige, möglichst Hochbegabte, auf die sich die Mittel konzentrieren?

Es ist schon erstaunlich, dass über die Frage der Höhe und der Verteilung der Mittel für die Bildung hinaus eine breite inhaltliche und öffentliche Debatte bisher nicht so recht zu erkennen ist. Diese aber sollte stärker geführt werden, wenn abzusehen ist, dass mit wachsender Finanznot in den öffentlichen Kassen und verschärften Sparzwängen die grundsätzliche Frage nach der volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rendite der universitären Bildung früher oder später gestellt wird. Während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt ereilte die universitäre Forschung die Frage nach deren praktischem Nutzen unvorbereitet, zumal sie mit Sparandrohungen verbunden war, und sie musste erst mühevoll lernen, wie wichtig es war, ihre "Bringschuld" öffentlich zu begleichen.


Forderung nach Mitbestimmung

Als kurz vor der teils reformerischen, teils revolutionären 68er-Phase Studentenvertreter mit bildungsbürgerlichem Hintergrund im Hamburger Audimax die Talare der Magnifizenzen zu lüften versuchten, um daraus den "Muff von tausend Jahren" zu verjagen, da ging es ihnen erst einmal vorwiegend um Ausbildungsdefizite, um bessere Ausbildung, nicht so sehr um Bildungsinhalte. Erst nach und nach wurden Bildungsinhalte wichtiger, die Frage, wie diese Ausbildung aussehen und wer in ihren Genuss kommen sollte. Die Forderungen nach Partizipation, Demokratisierung und Mitbestimmung, die kritische Reflexion von Lehrinhalten in den selbst organisierten "Kritischen Universitäten" mündete schließlich in eine Auseinandersetzung über die Strukturen der ganzen Gesellschaft.

Im selben Maße verhärteten sich auch die Auseinandersetzungen zwischen Professoren und Studenten, verlor der Wille zum Pragmatismus auf beiden Seiten zunehmend an Kraft, eroberten sich radikale Parolen zeitweise die Deutungshoheit und drängten zumindest in der Öffentlichkeit die Notwendigkeit praktischer Reformen in den Hintergrund. Von einer solchen Zuspitzung kann bis heute bei den Studentenprotesten in Deutschland mit anderen Schwerpunkten und Hintergründen kaum die Rede sein. Noch nicht?


Der Blick geht nach Stanford und Harvard

Deutlich hat sich der Schwerpunkt verschoben, Forderungen nach Exzellenz und Förderung der Eliten, einst verpönt, haben sich in den Vordergrund gedrängt, der Blick geht nach Amerika, nach Stanford und Harvard. Kleinere Universitäten, straffere Auswahl, Verschärfung des Tempos der Ausbildung, Effizienz bei Lehrenden und Lernenden, klare Zielvorgaben, Bachelor und Master und über die Studiengebühren Mitfinanzierung durch die Studenten - eben Klasse statt Masse. Wenn bis zum Überdruss die Forderung nach "den besten Köpfen" erhoben wird, dann klingt das gerade so, als zähle nur die Intelligenz des Gehirns und der ganze Mensch mit all seinen Schwächen und Stärken habe in Zeiten des globalen Wettkampfes nichts mehr verloren. Kopf oder Zahl, ist das wirklich die Frage?

Nein, das ist nicht die Frage, sagt etwa Hans Ulrich Gumbrecht, Literatur-Professor in Stanford und Gastprofessor an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Er hat sich wiederholt in die deutsche Bildungsdiskussion eingemischt, so in der Zeitschrift Merkur. Sein Standpunkt ist klar: Wer das Erbe Wilhelm von Humboldts vergesse und sich vom klassischen deutschen Bildungsbegriff weit entferne, der sei nicht auf der Höhe der Zeit. Er weist gerne darauf hin, dass in Stanford und anderen guten US-Universitäten verstärkt versucht wird, in den akademischen Anfangsjahren einen verbindlichen Kanon von allgemeinbildenden Fächern festzuschreiben.

Natürlich hat er gut reden. Viele Jahre hat er in seinem behaglichen Zimmer auf dem sonnendurchfluteten Campus gesessen und mit sorgfältig ausgewählten Studenten in einer quasifamiliären Atmosphäre arbeiten können. Aber das schafft auch Distanz. Gumbrecht stört, wie er befindet, die allzu schmalspurige Ausbildung und eine zu starke Spezialisierung deutscher Universitäten unter dem Banner der Exzellenz. In seiner Fundamentalkritik werden Wissenschaftsrat und Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zu bloßen "Vermittlungsagenturen ", die mit daran beteiligt seien, mit ihren Steuerungsinstrumenten die verbleibende Stärke der deutschen Universitäten zu unterlaufen. "Wird nicht vor allem die staatliche Zuerkennung des Exzellenzstatus an wenige deutsche Universitäten jene Homogenität brechen, die der deutschen Universität als System eine Führungsposition bewahrt hat?", fragt er besorgt in einem Merkur-Sonderheft.

Aber auch hierzulande gibt es Stimmen, die sich, wie Gumbrecht, um den Erhalt der traditionellen Qualitäten der Universitäten sorgen. Bei dem Soziologen Ulrich Beck zum Beispiel findet dieses "Facelifting" unter dem Druck des Bologna-Prozesses kein Verständnis: Polemisch zugespitzt schreibt er in einer Zeitungskolumne von einer "McDonaldisierung" deutscher Universitäten. Das ist griffig formuliert, aber greift es? Interessanterweise nimmt auch er, wie Gumbrecht, auf Humboldt Bezug, wenn er meint: "In Harvard kann man lernen: Der Humboldt'sche Bildungsbegriff ist moderner denn je." Humboldt aber verstand Bildung als universalen, auf die Entfaltung aller Persönlichkeiten gerichteten Prozess auf allen Stufen, der sich nicht primär am schwankenden wirtschaftlichen Bedarf ausrichten sollte. Ihn ruft der eher linksliberale Beck ebenso zu Hilfe wie der eher konservative Gumbrecht. Gegen den Verlust der Sicherheiten in Krisenzeiten, gegen die, wie Beck schreibt, "Vervollkommnung der Unsicherheit" gebe es bisher nur drei Antworten: "Bildung, Bildung, Bildung! Und nicht Ausbildung, Ausbildung, Ausbildung". Werde der wirtschaftliche Bedarf zum Bezugspunkt der bildungspolitischen Anstrengungen gemacht, gerate man leicht in eine Sackgasse: Diesen Bedarf gebe es in einer rasant sich wandelnden Arbeitswelt "so gar nicht mehr".

Beck knüpft gedanklich an ein Plädoyer für die traditionelle Universität und gegen das Primat der Nützlichkeit an, das schon 2000 der langjährige Trierer Universitätspräsident Arnd Morkel in seinem Buch "Die Universität muss sich wehren" gehalten hat. Dieses Zurückbesinnen auf den ganzheitlichen, nicht berufsbezogenen Bildungsbegriff bei Wilhelm von Humboldt weist, so scheint mir, auf eine ganz allmähliche Akzentverschiebung in der Bildungsdiskussion hin. Vielleicht ist es, so gesehen, auch kein Zufall, dass die Präsidentin des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung, Jutta Allmendinger, jetzt erfrischend deutlich Stellung bezogen hat. In einem Diskussionsbeitrag für Zeit online fordert sie eine gute Grundbildung "für alle" und eine hohe Bildung "für möglichst viele". Eine "hohe Bildung" bedeute, theoretisches Wissen mit Erfahrung zu verknüpfen und zugleich soziale Kompetenz und Gemeinsinn zu entwickeln. Humboldt lässt grüßen.

Die erste weibliche Communicator-Preisträgerin bringt ihre Sicht populär formuliert so auf den Punkt: "Wir dürfen uns nicht nur über die Exzellenz da oben den Kopf zerbrechen, sondern müssen uns auch um die Bildung da unten kümmern." Vielleicht ist es kein Zufall, dass sie als Frau besonders gut weiß, wie wichtig im Alltag die Bodenhaftung ist. Diese Bodenhaftung aber ist angesichts der finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen, die wir heute erleben, auch in der Bildungsdiskussion notwendiger denn je.


Dr. Wolfgang Borgmann war bis Ende 2006 Leiter der Wissenschaftsredaktion der Stuttgarter Zeitung. Er studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaft an der Universität Hamburg und war für Stipendienaufenthalte an der London School of Economics and Political Science (LSE) und in Stanford. Außerdem war er an der Vorbereitung des Studiengangs Wissenschaftsjournalismus an der Universität Dortmund beteiligt.


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Quelle:
attempto! 28 - Mai 2010, Seite 14-15
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2010