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GAZA/077: Waffengang und Widerstand - denkbar wäre auch ... (Uri Avnery)


Sohn des Todes

von Uri Avnery, 23. August 2014



DER KRIEG war vorüber. Die Familien kehrten in ihre Kibbuzim in der Nähe des Gazastreifens zurück. Die Kindergärten öffneten wieder. Die Feuerpause war in Kraft und wurde verlängert und noch einmal verlängert. Offensichtlich waren beide Seiten erschöpft.

Und dann kam plötzlich der Krieg zurück.

Was ist geschehen? Nun, die Hamas hat mitten in der Feuerpause Raketen in Richtung Beersheva abgeschossen.

Warum? Es gab keinen Grund. Man weiß doch, wie die Terroristen sind. Blutrünstig. Sie können nicht anders - genau wie Skorpione.

Doch so einfach ist es nicht.


DIE KAIRO-Gespräche waren fast ein Erfolg, so schien es wenigstens. Aber Benjamin Netanjahu war in Schwierigkeiten. Er hat den Entwurf eines ägyptischen Abkommens für eine lange Feuerpause sogar vor seinen Kabinett-Kollegen geheim gehalten. Sie erfuhren davon erst durch die Medien, deren Veröffentlichungen auf palästinensischen Quellen beruhten.

Dem Entwurf zufolge, sollte die Blockade stark gelockert, wenn nicht gar offiziell beendet werden. Gespräche über den Bau eines Hafens und eines Flughafens sollten innerhalb eines Monats beginnen.

Was? Was hätte Israel davon? Nach all dem Schießen und Töten: 64 israelische Soldaten waren tot - nach all den grandiosen Reden über unseren gewaltigen Sieg, war das alles? Kein Wunder, dass Netanjahu versuchte, das Dokument zurückzuhalten.

Die israelische Delegation wurde ohne Unterzeichnung nach Hause gerufen. Die verzweifelten ägyptischen Vermittler erreichten weitere 24 Stunden Verlängerung der Feuerpause. Sie sollte Dienstag um Mitternacht ablaufen, aber auf beiden Seiten erwartete man, dass sie immer wieder verlängert würde. Und dann geschah es.

Etwa um 16 Uhr wurden drei Raketen nach Beersheva abgeschossen und fielen aufs offene Feld. Keine Warnung durch Sirenen. Seltsam. Hamas leugnete, sie abgeschossen zu haben, und keine andere palästinensische Organisation übernahm die Verantwortung. Das war seltsam. Nach jedem vorangegangenen Raketenangriff aus Gaza hatte irgendeine palästinensische Organisation immer stolz behauptet, dafür verantwortlich zu sein.

Wie üblich starteten sofort israelische Flugzeuge, um als Vergeltung Gebäude im Gazastreifen zu bombardieren. Wie gewöhnlich regneten Raketen auf Israel. (Ich hörte die Abfangjäger in Tel Aviv)



ALLES LIEF wie gewöhnlich? Nicht ganz.

Zuerst wurde bekannt, dass eine Stunde, bevor die Raketen flogen, die israelische Bevölkerung nahe Gaza durch die Armee gewarnt wurde, ihre Schutzkeller und "sicheren Räume" vorzubereiten.

Dann kam heraus, dass das erste getroffene Gebäude in Gaza der Familie eines Hamas-Militärkommandeurs gehörte. Drei Leute wurden getötet unter ihnen ein Baby und seine Mutter.

Und dann verbreiteten sich die Nachrichten. Es war die Familie von Mohammed Deif, dem Kommandeur der Izz al-Din al Qassam-Brigaden, des Militärflügels der Hamas. (Qassam war ein palästinensischer Held, der erste Rebell gegen die britische Herrschaft in Palästina in den 30er-Jahren. Er wurde gejagt und von den Briten getötet). Unter den Getöteten dieser Woche waren Deifs Frau und sein Sohn der noch ein Baby war. Es scheint, daß Deif selbst nicht dort war.

Das war an sich kein Wunder. Deif hat ein Dutzend Mordversuche überlebt. Er hat ein Auge verloren und verschiedene Gliedmaßen, kam aber immer wieder mit dem Leben davon.

Alle um ihn herum, seine aufeinanderfolgenden Kommandeure, politischen und militärischen Kollegen und Untergeordneten, Dutzende von ihnen sind während der Jahre ermordet worden. Wie durch ein Wunder blieb er sein Leben lang verschont.

Jetzt steht er auf Israels Mordliste an oberster Stelle, er ist der gesuchteste und gejagteste palästinensische Aktivist. Er ist die Nummer 1, "der Sohn des Todes", eine fast schon biblische Bezeichnung, die in Israel auf die angewendet wird, die zur Ermordung vorgemerkt werden.

Wie die meisten Bewohner des Gazastreifens ist Deif ein Kind von Flüchtlingen aus Israel. Seine Familie kommt aus dem Dorf Kawkaba, das jetzt nicht weit von Gaza entfernt, in Israel liegt. Ich kam im 48er-Krieg dort durch, bevor es dem Erdboden gleich gemacht wurde.

Für den israelischen Sicherheitsdienst ist er ein Preis, für den es sich lohnt, die Feuerpause zu unterbrechen und den Krieg wieder aufflammen zu lassen.


FÜR VIELE Sicherheitsagenturen in aller Welt, einschließlich der amerikanischen und der russischen, ist Mord wie Sport und eine Art Kunst.

Israel erhebt Anspruch auf die Goldmedaille in dieser Disziplin.

Eine gezielte Ermordung ist eine komplizierte Operation. Sie erfordert eine Menge Zeit, Übung, Geduld und Glück. Die Operateure müssen Informanten in der Nähe des Opfers rekrutiert, elektronische Geräte installiert haben, präzise Informationen über jede seiner Bewegungen erlangen, ihren Plan innerhalb von Minuten ausführen, wenn sich einmal die Gelegenheit ergibt.

Deshalb gibt es keine Zeit, sich eine Bestätigung von oben einzuholen. Vielleicht bekam der Sicherheitsdienst (gewöhnlich Shin Bet genannt) von seinem einzigen politischen Chef, Netanjahu, die Erlaubnis, vielleicht auch nicht.

Sie waren offensichtlich informiert worden, dass Deif seine Familie besucht. Das war eine einmalige Gelegenheit. Seit Monaten, tatsächlich seit Jahren, hat Deif buchstäblich im Untergrund gelebt, irgendwo im Labyrinth der Tunnel, die seine Leute neben dem Gazastreifen gruben. Er wurde nie gesichtet.

Seit Beginn dieses Krieges haben alle anderen prominenten Hamasführer unter der Erde gelebt. Von Ismail Hanieh abwärts ist keiner gesehen worden. Die unbegrenzte Herrschaft der israelischen Flugzeuge und Drohnen über den Luftraum ließ das ratsam erscheinen. Die Hamas hat keine Luftabwehrwaffen.

Es kommt mir höchst unwahrscheinlich vor, dass Deif sein Leben durch einen Besuch seiner Familie riskieren wollte. Aber der Shin Bet erhielt offensichtlich einen falschen Hinweis und glaubte ihm. Die drei seltsamen nach Beersheva abgeschossenen Raketen lieferten den Vorwand, die Feuerpause zu unterbrechen, und so begann der Krieg noch einmal.

Wahre Liebhaber der Kunst des Meuchelmords sind nicht an politischen oder militärischen Konsequenzen ihrer Aktionen interessiert. Kunst um der Kunst willen.

A propos: der letzte Krieg begann vor zwei Jahren auf dieselbe Weise. Die israelische Armee ermordete den de-facto al-Qassam-Führer, Ahmed Jaabari. Der darauf folgende Krieg mit seinen vielen Hunderten von Toten war nur ein Kollateralschaden.

Jaabari war in jener Zeit Vertreter von Deif, der sich in Kairo erholte.


ALL DIES ist natürlich viel zu kompliziert für amerikanische und europäische Diplomaten. Sie mögen einfache Geschichten.

Das Weiße Haus reagierte unmittelbar auf den Wiederbeginn der Feindseligkeiten, indem sie die Hamas wegen des Raketenbeschusses verurteilte und erneut bestätigte, dass Israel ein Recht auf Selbstverteidigung habe. Die westlichen Medien plapperten dies nach.

Für Netanjahu war es - ob er nun im Voraus von dem Tötungsversuch erfahren hat oder nicht - ein Weg aus einem Dilemma. Er war in der unglücklichen Position vieler Führer in der Geschichte, die einen Krieg begonnen hatten und nicht wussten, wie man da wieder rauskommen sollte.

In einem Krieg führt ein Führer hochtrabende Reden, verspricht den Sieg und großzügige Errungenschaften. Diese Versprechen wurden selten wahr. (Wenn sie wahr werden, wie beim Versailler Vertrag 1919 mag dies sogar noch schlimmer sein)

Netanjahu versteht sich gut auf Vermarktung, wenn auch auf sonst nichts. Er verspricht eine Menge, und die Leute glaubten ihm und gaben ihm eine 77-prozentige Kreditfähigkeit. Der ägyptische Entwurf für eine anhaltende Feuerpause stellte, auch wenn er im wesentlichen proisraelisch ausgerichtet war, für Israel keinen Sieg dar. Er bestätigte nur, dass der Krieg in einem Unentschieden endet. Netanjahus eigenes Kabinett rebellierte, die öffentliche Meinung war spürbar sauer. Die Wiederaufnahme des Krieges holte ihn aus diesem Tief heraus. Aber was jetzt?


DIE BOMBARDIERUNG der Gaza-Bevölkerung zieht immer mehr Kritik der Weltöffentlichkeit auf sich. Auch in Israel hat sie ihren Reiz verloren. Die Maxime: "Lasst sie uns bombardieren, bis sie aufhören, uns zu hassen" hat offensichtlich nicht ihren Zweck erfüllt.

Die Alternative ist, in den Gazastreifen einzudringen und ihn vollständig zu besetzen, so dass sogar Deif und seine Männer an die Oberfläche kommen müssen und ermordet werden können. Aber das ist ein gefährlicher Vorschlag.

Als ich im 48er-Krieg Soldat war, wurde uns gelehrt, niemals eine Situation zu schaffen, die dem Feind keinen Ausweg lässt. In solch einem Fall wird er bis zum Ende kämpfen und viele Todesfälle verursachen.

Es gibt keinen Weg aus dem Gazastreifen. Wenn die israelische Armee loslegt, den Streifen zu erobern, wird der Kampf heftig sein und Hunderte von toten Israelis und Tausende von toten Palästinensern und Verletzten und eine unbeschreibliche Zerstörung verursachen. Der Ministerpräsident wird eines der politischen Opfer sein. Netanjahu ist sich dessen voll bewusst. Er wünscht es nicht. Aber, was kann er sonst tun? Man kann den Mann nur bedauern.

Er kann der Armee natürlich den Befehl geben, nur Teile des Gazastreifens zu besetzen, ein Dorf hier und eine Stadt dort. Doch auch das würde eine Menge Tod und Zerstörung verbreiten und zu keinem Gewinn führen. Am Ende wäre die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit ebenso groß.

Hamas drohte in dieser Woche, "die Tore der Hölle" für uns zu öffnen. Dies hat die Bewohner von Tel Aviv kaum berührt, aber für die Dörfer und Städte in der Nähe Gazas ist dies wirklich die Hölle. Es gibt wenige Todesfälle, aber die Angst ist verheerend. Familien mit Kindern gehen en masse weg. Wenn die Ruhe wieder einkehrt, versuchen sie, wieder nach Hause zu kommen, aber die nächsten Raketen treiben sie dann wieder weg.

Ihr Elend ruft sehr starke Gefühlsreaktionen im ganzen Land hervor. Kein Politiker kann dies ignorieren. Am wenigsten der Ministerpräsident. Er braucht das Kriegsende. Er benötigt auch ein klares Bild vom Sieg. Aber wie soll er dies erreichen?

Der ägyptische Diktator versucht zu helfen. So auch Barack Obama, obwohl er auf Netanjahu böse ist und ihn auf den Tod nicht ausstehen kann. Dasselbe gilt für Mahmoud Abbas, der sich vor einem Sieg der Hamas fürchtet. Aber was den Augenblick betrifft, so ist der Mann, der die letzte Entscheidung trifft, der Sohn des Todes: Mohammed Deif in seinem Tunnel, gesund und munter. Der Mord an seiner Frau und dem Söhnchen hat ihn sicherlich nicht freundlicher und friedlicher gemacht.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 23.08.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2014