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BERICHT/206: Wintertagung der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft - Wohin schreitet der Fortschritt? (ubs)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 385 - Februar 2015
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Wohin schreitet der Fortschritt?
Die DLG nahm sich auf ihrer Wintertagung Raum und Zeit für Philosophie

Von Claudia Schiefelbein


Morgens war die Welt noch eine einfache. In seinen Grußworten zur alljährlichen Wintertagung der deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (DLG) zeichnete ihr Präsident Carl Albrecht Bartmer das Bild der innovationsfreundlichen, auf technischen Fortschritt setzenden modernen Landwirtschaft, die sich allerdings zunehmend - wie Fortschritt allgemein in der Geschichte immer schon - einer Gesellschaft aus kleingeistigen Zauderern und Bedenkenträgern gegenüber stehen sehe. "Fortschrittsfeindlichkeit ist Freiheitsfeindlichkeit", sprach er mit einem gewissen Pathos. Und verurteilte "eine urbane Landlustgesellschaft, die ein romantisches Bild vom bäuerlichen Familienbetrieb" speise und damit für Stagnation im ländlichen Raum eintrete. Das Land müsse doch am Fortschritt partizipieren, er schaffe Arbeitsplätze und versorge die Stadt mit guten Produkten. Dass die Frage, was Fortschritt ist, auf einem Wertesystem basiert sowie die Interessen dessen widerspiegelt, der ein Urteil darüber fällt und dass sie damit durchaus unterschiedlich beantwortet werden kann, musste sich Bartmer vom Philosophie- und Physikprofessor Klaus Kornwachs anhören. Ebenso vermittelte dessen Vortrag, dass in der Geschichte technischer Fortschritt meist den Ersatz menschlicher Arbeitskraft und damit auch soziale Verwerfungen zur Folge hatte, so dass Erfolgsbilanzen durchaus gemischt ausfallen. Wichtig sei, so Kornwachs, die Sache selbst in die Hand zu nehmen "Subjekt der Verantwortung, nicht Objekt der Geschichte" zu sein.

Zurück zur Natur

Auch sein Nachfolgeredner Andreas Möller, Buchautor und Unternehmenskommunikator, konstatierte, dass "Fortschritt heute nicht mehr automatisch Ertragszuwachs" bedeute. Leben in der Überflussgesellschaft induziere ein Infragestellen allen Wachstums, auch den oft nur formulierten Wunsch nach Verzicht und auch Technologiekritik. Gleichzeitig warnte Möller vor der Unterstellung, gerade die deutsche Gesellschaft sei pauschal technikfeindlich, ganz im Gegenteil gebe es eher sogar eine große Technikaffinität im Alltag, so seine Einschätzung. Ein "sehr deutsches Beispiel dafür" sei die Energiewende, so Müller. Auf der einen Seite der radikal, fast fatalistisch diese Technologie ablehnende Atomausstieg, auf der anderen der Einstieg in die erneuerbaren Energien, welches "vor allem als ein Projekt der als sehr deutsch geltenden Ingenieurskunst" zu bewerten sei. Oft gehe es eben bei Fortschrittskritik nur vordergründig um ein althergebrachtes "Zurück zur Natur" - etwas, was man sowieso nur wollen könne, so Möller, seit die Schattenseiten der Natur weitestgehend durch Fortschritt in den Griff gebracht sind - sondern um den Wunsch nach Beständigkeit und Transparenz, nach der Verständlichkeit von Technik und Innovation. Auch er fordert zur Mitgestaltung - und seien die Schritte auch nur klein - statt zur Opferhaltung auf.

Ressource Mensch

Dann betrat ein Gestalter die Bühne, der sich schon optisch mit roter Nickelbrille und krachlederner Knickerbocker von Vorrednern und Zuhörern abhob. Johannes Gutmann ist Gründer und Chef der österreichischen Firma Sonnentor, die mit inzwischen 700 ökologisch erzeugten Produkten, darunter Tees, Kräuter und Kaffee, 30 Mio. Euro Umsatz weltweit macht. Es gehe darum, so Gutmann, Geschichten zu erzählen, das stellte er auch gleich eindrucksvoll mit der von seiner uralten Lederhose - auf dem Dachboden entdeckt, vom Vater geerbt, ein paar mal renoviert - unter Beweis. "Da steht ihr nun mit euren iPads in euren Pinguinanzügen und seht alle gleich aus", hielt er der Versammlung lächelnd entgegen und machte deutlich, dass Fortschritt und Innovation auch heißen können, sich im Einklang mit der Gesellschaft und ihren Wünschen zu bewegen. Sonnentor setzt auf Gemeinwohlökonomie. Mitbestimmung, Transparenz, Loyalität, Solidarität und Ökologische Nachhaltigkeit sind nicht nur Schlagwörter, sondern werden gelebt durch entsprechende Vertragsgestaltungen mit den beteiligten Bauern und Bäuerinnen, aber auch den Handelspartnern und Franchisenehmern. Gutmann vermittelte, dass es nicht nur um die nächste Steigerung der Gewinnmarge durch die klassischen Rationalisierungsmechanismen gehen dürfe, sondern um die Ressource Mensch. "Die Manager haben addieren gelernt, bei uns müssen sie dividieren lernen." Der Mensch wolle Wertschätzung, gebraucht werden, mitgenommen werden, Lust bekommen mitzumachen, das habe er verinnerlicht und einfach gemacht. So sei er auch ökonomisch vom "Spinner zum Winner" geworden. Gleichzeitig sind in der strukturschwachen Region des österreichischen Waldviertels rund 600 Arbeitsplätze unmittelbar und mittelbar durch Sonnentor entstanden.

Eine zweite Erde?

Welch ein Unterschied zur Vorstellung des KWS-Sprechers Leon Broers, der die Politik aufforderte, für den Fachkräftemangel und die ungelernten Systemverlierer die Verantwortung zu übernehmen. Sie, die KWS, müssten ja schon mit technologischem Fortschritt die klimaveränderte, überbevölkerte Welt ernähren. Und würden trotzdem noch für den Einsatz von Technologie von der Gesellschaft kritisiert. Der Kieler Professor Eberhard Hartung forderte hingegen dazu auf, die Bedürfnisse anderer zu akzeptieren. Als entscheidende Triebfedern von Innovation und Fortschritt in der landwirtschaftlichen Tierhaltung sieht er in den nächsten Jahren Tierwohl und Transparenz. In der Frage der Technisierung spiele immer mehr auch eine Rolle, wie viel der vorhandenen Technik für den Menschen überhaupt intellektuell nutzbar sei. Die Komplexität der Welt und ihrer Veränderungen überfordere Menschen heute stärker als früher, resümierten auch Kornweis und Möller. Plötzlich waren alle bei den Menschen, der Gesellschaft und ein gutes Stück weg von der radikalen reinen Lehre vom technischen Fortschritt. Fortschritt in jenem Sinne arbeite daran, so Johann Gutmann, irgendwo im Orbit eine zweite Erde zu suchen. "Ich sag Ihnen, warten Sie nicht drauf, dass Sie irgendwo eine entdecken", riet er der DLG-Versammlung, "sorgen Sie dafür, dass die hier in Ordnung ist."

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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 385 - Februar 2015, S. 3
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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(verbilligt auf Antrag 28,40 Euro jährlich)


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2015

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