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FORSCHUNG/996: Speisen wie zur Steinzeit (Leibniz)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 3/2015

Speisen wie zur Steinzeit

von Wiebke Peters


Wovon unsere Vorfahren sich ernährten und was wir daraus bis heute lernen, darüber forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an mehreren Leibniz-Instituten.

Waldpilze, Wildkräuter, Beeren, Fleisch, genau gesagt Wild: Aus diesen Zutaten kreiert Koch Sven Laschinski vom Bistro "Heimathirsch" auch an diesem Abend wieder im Museum Monrepos ein schmackhaftes Menü. Wie stets ist es etwas ganz Besonderes, denn es orientiert sich am Speiseplan unserer Vorfahren aus der Altsteinzeit, dem Paläolithikum. Die Gerichte werden beim "Paläo-Abend" serviert. Dieser findet zweimal im Monat im Archäologischen Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution, so der vollständige Namen, statt. Die Idee ist: Forschung erlebbar machen. Und das mit allen Sinnen. Das Abendessen ist dabei Teil des prähistorischen Erlebnisses. Zuvor werden die Gäste exklusiv von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern durch eine Ausstellung geleitet; denn zu dieser Zeit ist das Museum für die Öffentlichkeit bereits geschlossen.

"Wir versuchen, die Menschen des Paläolithikums - also der Altsteinzeit - von vor 2,5 Millionen Jahren bis vor rund 10.000 Jahren, so zu zeigen, dass der heutige Besucher sich in ihnen wiederentdeckt", beschreibt Lutz Kindler, Zooarchäologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in Monrepos, das Konzept des Hauses. In der Ausstellung des im Sommer 2014 wiedereröffneten Museums wird aus vier Blickwinkeln heraus die Geschichte der menschlichen Ernährung beleuchtet: der ökologischen, die aufzeigt, dass Menschen Teil eines regional unterschiedlichen Nahrungsnetzes sind; der energetischen, die die Verwertbarkeit der Nahrung und den menschlichen Stoffwechsel thematisiert; der technologischen, die zeigt, wie die paläolithische Küche aussah und mit welchen Waffen gejagt wurde; und schließlich der strategischen, bei der es um die soziale Organisation der Nahrungsbeschaffung geht. Aus den vier Perspektiven ergibt sich ein Gesamtbild, das uns die Ernährung in der Steinzeit nahe bringt. So erfahren etwa die Besucherinnen und Besucher, wie der Mensch vor etwa 40.000 Jahren lernte, das Spektrum seiner Nahrungsquellen zu erweitern, und auch Vögel, Hasen und Kaninchen verzehrte. "Hier erkennen wir den heutigen Menschen gut wieder: Schließlich konsumieren wir nach wie vor auch eine große Bandbreite von Tieren", resümiert Lutz Kindler.


Proteinreich und fett

Die Paläo-Abende liegen voll im Trend. Was bei "Jägers und Sammlers" auf den Tisch kam, das ist en vogue. Die vielen Kochbücher, Sendungen, Restaurants, die mit dem Slogan "Essen wie in der Steinzeit" werben, zeugen davon. Und: Der moderne Mensch will sich gesünder, regionaler, möglichst auch nachhaltiger ernähren und Lebensmittel wie Milchprodukte und Getreide eher vermeiden. Steinzeitkost also, denn der Altsteinzeit-Mensch lebte von dem, was er fand oder erjagen konnte. Ackerbau und Viehzucht waren noch kein Thema. Aßen aber unsere Vorfahren wirklich gesünder als wir? Und wie nah kommen die Menüs der Paläo-Abende an den steinzeitlichen Speiseplan wirklich heran?


Strategien zum Überleben

Für Lutz Kindler greifen solche Fragen zu kurz. Ernährung in der Steinzeit - das hieß vor allem, das Problem der Essensbeschaffung zu lösen. "Hunger", sagt der Wissenschaftler, "ist ein zentraler Motor der menschlichen Entwicklung." Dass tierisches Eiweiß und Fett prächtige Energielieferanten sind, wussten offenbar schon frühe menschenartige Wesen. Bereits 3,4 Millionen Jahre alte Tierknochen aus Dikiia in Äthiopien tragen Schnittspuren von Steinmessern. Nahezu gleich alt sind die ältesten Steinartefakte aus Lomekwi am Turkanasee in Kenia. Um Tiere erlegen zu können, die größer, stärker und schneller waren als unsere Vorfahren, mussten die Steinzeitmenschen Strategien entwickeln: So gingen sie in der Gruppe jagen und fertigten geeignete Waffen. Die Entwicklung des menschlichen Soziallebens sowie erste technische Innovationen waren also direkt mit der Nahrungsmittelbeschaffung verknüpft. Zudem entwickelten unsere Vorfahren im Zuge der Evolution einen für die Jagd geeigneten Körperbau: Die Beine wurden länger, der Körper richtete sich auf - gut, um schnell zu laufen und Speere zu werfen.


Fleisch gekonnt zerteilen

Auch das Zubereiten und Haltbarmachen von Nahrung gehört zu den Fertigkeiten, die unsere Vorfahren im Laufe der Altsteinzeit entwickelten. An einer Fundstelle in Israel wurden vor etwa 800.000 Jahren Damhirsche ausgeweidet. "Die dort angewandte Praxis unterscheidet sich nicht von der in heutigen Metzgerbetrieben", berichtet Kindler. Die ersten Gruben, in denen nahrhaftes Knochenmark ausgekocht wurde, sind 40.000 Jahre alt; und auch Fleischspeisen wurden in paläolithischen Kochstellen zubereitet, wie verschiedene Fundstellen belegen. Tierisches Fleisch war gewiss die wichtigste Nahrungsquelle der Menschen im Paläolithikum, aber nicht die einzige. Ottmar Kullmer, Forscher am Senckenberg Forschungsinstitut in Frankfurt/Main, untersuchte die Kauflächen von steinzeitlichen Backenzähnen. Sein Befund: Unsere Vorfahren nahmen auch viel Pflanzliches zu sich, jeweils in Abhängigkeit der regional-geografischen Gegebenheiten. "Wir haben Zähne verschiedener Jäger- und Sammlergruppen untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass die Zusammensetzung der Ernährung sehr unterschiedlich war: In nördlichen Regionen war der tierische Anteil der Nahrung unserer Vorfahren höher, im Nahen Osten und in mediterranen Regionen wurde vielfältiger gegessen; schlicht, weil es das Angebot hergab - Seafood, Wurzeln, Pflanzen", berichtet Ottmar Kullmer. Die "extreme Anpassungsfähigkeit" an die Gegebenheiten ist für den Paläontologen das Entscheidende. Die Menschen kamen im Prinzip überall klar, gleichgültig wie beschränkt das Nahrungsangebot war.

An dieser enormen Flexibilität hat unsere kulturelle Entwicklung, insbesondere die Vielfältigkeit der Nahrungsaufbereitung, sicher einen erheblichen Anteil. Doch die Biologie unseres Organismus konnte mit der rasanten kulturellen Evolution nicht Schritt halten. Dies zeigt sich etwa am menschlichen Gebiss und Kiefer. Denn es bereitet uns gerade in den Industrienationen mittlerweile große Probleme. "Es herrscht kein Selektionsdruck mehr auf unserem Kauapparat; der Organismus reagiert darauf mit Reduktion. Zahnfehlstellungen und rückgebildete Kiefer gehören deswegen zu den Zivilisationskrankheiten. Unser Organismus ist evolutionär auf die Abnutzung der Zähne eingestellt; indem wir nur noch stark aufbereitete Nahrung zu uns nehmen und unsere Zähne nicht mehr wie in der Steinzeit stark beanspruchen, hebeln wir deren Funktion aus", sagt Ottmar Kullmer.


"Süß" schmeckt gut - dank der Energiedichte

Doch nicht nur was unser Kauwerkzeug betrifft, stehen wir heute noch auf dem Stand unserer Vorfahren; auch unser Geschmackssinn hinkt hinterher. "Unsere Ausstattung mit Geschmacksrezeptoren unterscheidet sich kaum von jener der Menschenaffen, und sie hat sich im Zuge der Menschwerdung nicht weiter verändert. Dabei ist Geschmack ein entscheidender Faktor bei der Auswahl unserer Nahrung", sagt Maik Behrens vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung; "Süß signalisiert uns: Dieses Lebensmittel enthält wertvolle Kalorien." Daran hat sich über die Jahrtausende nichts geändert, obwohl wir heute nicht mühsam über Stunden Beeren sammeln müssen, um uns an deren süßem Geschmack zu erfreuen: Zuckerreiche Lebensmittel gibt es in Hülle und Fülle beim Supermarkt um die Ecke. Grundsätzlich erfüllen die Rezeptoren allerdings noch ihre Funktion. So warnt uns auch bitterer Geschmack wie schon unsere Vorfahren vor Gesundheitsgefahren.

Mit bitteren Stoffen plagt jedoch Sven Laschinski seine Gäste nicht, wenn er zum Paläo-Abend in Monrepos aufkocht. Sie sollen zwar lernen, was in der Steinzeit gegessen wurde - die Zutaten werden aber selbstverständlich "nach heutiger Raffinesse zubereitet", sagt Constanze Kamm vom Museums-Marketing. Während des Essens haben die Besucherinnen und Besucher Gelegenheit, Fragen zur steinzeitlichen Ernährung zu stellen; denn die Wissenschaftler sitzen ebenfalls am Tisch. Der Austausch ist wichtig: "Zum einen macht es Spaß. Zum anderen regen uns die Fragen der Besucherinnen und Besucher zu neuen Perspektiven in der Forschung an; etwa wenn es um die Haltbarmachung von Nahrung geht", berichtet Forscher Kindler.

Das gute Essen spielt im zweiten Teil der Paläo-Abende selbstverständlich die Hauptrolle. Und was kommt heute auf den Tisch? Wildhasenkeule in pikantem Kirsch-Bratenjus, als Dessert Waldbeeren-Apfelragout mariniert mit wildem Waldhonig - das hätte auch unseren Vorfahren geschmeckt. Na dann guten Appetit!


Steinzeit-Menü
Die Paläo-Abende im Archäologischen Forschungszentrum MONREPOS unter dem Motto "Wilde Küche im Schloss der Forscher" finden etwa ein bis zwei Mal pro Monat freitags um 18 Uhr statt.

http://monrepos-rgzm.de/

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Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 3/2015, Seite 30-35
Herausgeber: Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
Matthias Kleiner
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2015

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