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HUNGER/320: Nicaragua - Hungertragödie im Anmarsch (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Juli 2014

Nicaragua: Hungertragödie im Anmarsch

von José Adán Silva


Bild: © Guillermo Flores/IPS

Der Las-Canoas-See in Tipitapa in der Nähe von Nicaragua trocknet jedes Mal, wenn 'El Niño' erscheint, aus und nimmt den Menschen Fisch und Wasser zur Bewässerung der Felder
Bild: © Guillermo Flores/IPS

Managua, 14. Juli (IPS) - In Nicaragua bahnt sich eine Hungerkrise an. Das zweitärmste Land Lateinamerikas, das zudem zu den zehn Ländern der Welt gehört, die am anfälligsten für die Folgen des Klimawandels sind, leidet unter den Auswirkungen des ENSO-Klimaphänomens, das dem zentralamerikanischen Land mitten in der Regenzeit eine Dürre beschert hat.

ENSO ist die Abkürzung von 'El Niño - Südliche Oszillation' und meint das Auftreten von ungewöhnlichen, nicht zyklischen, veränderten Strömungen im ozeanographisch-meteorologischen System des äquatorialen Pazifiks. In Nicaragua zeichnet es sich durch eine geringere Verfügbarkeit von atmosphärischer Feuchtigkeit aus - mit Folgen für die Niederschlagsmenge in der Regenzeit von Mai bis Oktober. In den vergangenen 27 Jahren hat El Niño ('das Christkind') die Region sieben Mal heimgesucht und mit Dürren 'beschenkt'.

Der Bauer Crescencio Polanco lebt im Landkreis Tipitapa nördlich der Hauptstadt Managua. Er ist eines von Tausenden Opfern des Klimaphänomens. Im Mai und im Juni wartete er vergeblich auf Regen, um Getreide und Gemüse zu pflanzen. Seine Mais- und Bohnenernte ist inzwischen hin. Noch hofft er auf den nächsten Pflanzzyklus im September. Er hat einen Kredit in Höhe von 400 Dollar aufgenommen, um neues Saatgut zu kaufen und die Verluste wettzumachen. Sollten die Niederschläge aber erneut ausbleiben, wäre dies für ihn und seine siebenköpfige Familie die Katastrophe.

"Das Saatgut, das wir im Mai ausbringen, kaufen wir in der Regel von den Einnahmen aus den Ernten des Vorjahres", berichtet er. "Der neue Kredit, mit dem wir die Verluste auffangen wollen, könnte uns das Genick brechen", ist er sich des eingegangenen Risikos bewusst. "Ich weiß nicht, was wir tun sollen, wenn der Regen wegbleibt."

Rund 45 Kilometer südlich von Tipitapa, im Südwesten Managuas, klagt Luis Leiva über den dürrebedingten Verlust seiner Mais- und Kürbisernte. Normalerweise verkauft er seine Erzeugnisse auf einem Markt in Managua. Auch er verwendet die Einnahmen stets für neues Saatgut und für die Ernährung seiner Familie. Dieses Jahr hat er alles verloren und bekommt auch keinen Kredit mehr, um die Pachtgebühren für das Feld zu bezahlen.

"Drei Mal hat es erbärmlich wenig geregnet. Das Wasser hat die Böden lediglich benetzt", sagt er. "Alles ist hin, und nun muss ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit ich Ende August beziehungsweise Anfang September doch noch neu aussäen kann."

Der diesjährige Mairegen fiel um 75 Prozent geringer aus als sonst. Die Wissenschaftler am Nicaraguanischen Institut für Territorialstudien (INETER) sprechen von einer "historisch geringen Niederschlagsmenge". In einigen Teilen des Landes am Pazifik ging sie um 88 Prozent zurück - der traurigste Rekord seit der Aufzeichnung der Niederschläge in Nicaragua. INETER zufolge könnte sich die Dürre bis weit in den September hinein fortsetzen.

Laut Sinforiano Cáceres, dem Vorsitzenden der Nationalen Vereinigung der Kooperativen, ist die gesamte Pazifikseite und die Landesmitte Nicaraguas von der Dürre betroffen. Die Organisation vertritt die Interessen von 300 großen Agrarverbänden. "Wir haben die Mai-Saat verloren. Sollten wir auch noch die August/September-Saat verlieren, wird es zu einer Hungerkrise im Land und einem Anstieg der Grundnahrungsmittelpreise kommen", warnte Cáceres auf einem Forum von Produzenten und Experten, auf dem Lösungen für die Probleme diskutiert wurden. Die dritte Aussaatmöglichkeit besteht im Dezember.

Die Milch- und Fleischhersteller sind die Regierung direkt um Hilfe angegangen. So berichteten der Verband der Viehzüchterorganisationen und die Nationale Viehzuchtkommission, dass die Milch- und Fleischproduktion um 30 Prozent gesunken sei. Für den Fall, dass ENSO, wie von INETER vorausgesagt, weiter anhält, wird mit einem Rückgang von 50 Prozent gerechnet.


Rindersterben

Die Nationale Union der Bauern und Viehzüchter hat inzwischen mitgeteilt, dass mehr als 1.000 Rinder verhungert sind. Sie warnte ferner, dass die Preise für Fleisch und Milcherzeugnisse steigen werden, weil einige Viehzüchter in den Kauf von Spezialfutter, Vitaminen und Impfungen investieren, um die Gefahr, noch mehr Tiere zu verlieren, möglichst klein zu halten.

Die Land- und Viehwirtschaft erwirtschaftet in der Regel mehr als 60 Prozent der nicaraguanischen Exporteinnahmen. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt beträgt 18 Prozent. In Zahlen ausgedrückt waren dies nach Angaben der Zentralbank 2013 knapp elf Milliarden US-Dollar.

Dem Soziologe Cirilo Otero zufolge, Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation 'Zentrum für umweltpolitische Initiativen', wären die wirtschaftlichen Folgen einer Ernährungskrise für Nicaragua doppelt so schlimm, da sich das Land noch nicht von dem Schlag erholt habe, den der Rostpilz den Kaffeeplantagen des zentralamerikanischen Landes zugefügt hatte.

"Tausende kleine Kaffeeproduzenten und tausende Familien, die von der Kaffeeproduktion leben, haben bis heute weder ihre Jobs noch ihre Einnahmen zurückbekommen", meinte er. "Und jetzt schlägt El Niño zu, und wir wissen nicht, wie sich das Land von einem solchen Schlag erholen soll." Otero zufolge wird sich eine Hungertragödie nicht abwenden lassen, sollte es in der restlichen Regenzeit so trocken bleiben wie bisher. 2012 war ein Fünftel der sechs Millionen Nicaraguaner unterernährt, wie Zahlen der UN-Agrarorganisation (FAO) belegen.

"Die Bauern wissen nicht, wie sie die Auswirkungen des Klimawandels abschwächen und sich auf die neue Beschaffenheit der Böden einstellen sollen. Wenn die Regierung keine Anpassungsmaßnahmen in Angriff nimmt, werden wir 2014 und 2015 eine schlimme Ernährungskrise erleben", so der Experte.

Die Regierung hat bereits Sonderausschüsse gebildet, die sich mit dem Klimaphänomen befassen. Außerdem kommt es zu Informationstreffen mit den Agrarproduzenten. Darüber hinaus haben die Behörden die Zahl der Lebensmittelnotrationen für notleidende Familien aufgestockt. Auch die Frühstücksrationen für Schulkinder wurden erhöht und etliche kleine Programme zur Finanzierung der familienbetriebenen Landwirtschaft gestartet.

Staatspräsident Daniel Ortega ordnete im Juni die Einfuhr von 20,5 Millionen Kilo Bohnen und von 73,5 Millionen Kilo weißem Mais an, um die Engpässe auf den lokalen Märkten zu bekämpfen. Auf diese Weise sollen die hohen Preise bis zur nächsten Ernte im September gesenkt werden.

Der Preis für rote Bohnen hat sich seit Mai verdoppelt und liegt bei derzeit zwei Dollar das Kilo - viel Geld für die mehr als 2,5 Millionen Menschen, denen weniger als zwei Dollar pro Tag zur Verfügung stehen, wie eine Untersuchung der Internationalen Stiftung für globale wirtschaftliche Herausforderungen (FIDEG) ergab. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/07/el-nino-juega-con-la-comida-de-nicaragua/
http://www.ipsnews.net/2014/07/el-nino-triggers-drought-food-crisis-in-nicaragua/

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IPS-Tagesdienst vom 14. Juli 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2014