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INTERNATIONAL/135: Indien - Indigene Priesterinnen als Hüterinnen von alten Hirsesorten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. Juli 2015

Indien: Indigene Priesterinnen als Hüterinnen von alten Hirsesorten

von Manipadma Jena


Bild: © Manipadma Jena/IPS

Priesterinnen von der Volksgruppe der Dongria Kondh im ostindischen Niyamgiri-Gebirge führen erst ein Ritual durch, bevor sie sich auf die Suche nach altem traditionellen Saatgut machen
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NIYAMGIRI, INDIEN (IPS) - Die Frauen geben mit ihren Schritten den Takt vor. Als der dumpfe rhythmische Klang ihrer stampfenden Füße anschwillt, stimmen sie ein Lied für den Waldgott Niyam Raja an, damit er ihrem Vorhaben wohl gesonnen ist. Dann stellen sie sich hintereinander auf und setzen sich - jede mit einem irdenen Gefäß auf dem Kopf - in Bewegung. Der Auszug aus dem Dorf Kadaraguma beginnt.

Die Frauen sind Priesterinnen ('Bejuni') der Volksgruppe der Dongria Kondh, die in den Niyamgiri-Bergen im ostindischen Bundesstaat Odisha beheimatet ist, und in wichtiger Mission unterwegs: Sie wollen eine verloren geglaubte Hirsesorte nach Hause bringen. Hirse ist eine traditionelle Kulturpflanze der 10.000 Mitglieder zählenden Ethnie.

"In meiner Kindheit wurden hier mehr als 30 unterschiedliche Hirsesorten angepflanzt. Vor zehn Jahren waren es dann nur noch elf Sorten, und heute sind es nur noch zwei", erzählt die 68-jährige Dasara Kadraka. Sie ist die ranghöchste Priesterin von insgesamt 22 Dörfern, die die in den vergangenen Jahrzehnten verlorene Vielfalt wiedererlangen wollen.


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Dasara Kadraka, die ranghöchste Priesterin von 22 Dörfern, die bei der Suche nach alten traditionellen Hirsearten im indischen Bundesstaat Odisha zusammenarbeiten
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Die widerstandsfähige und nahrhafte Getreideart wurde einst in ganz Indien im großen Stil angebaut, dann aber in den letzten Jahrzehnten durch den industriellen Reisanbau verdrängt. Hinzu kommt, dass sich Bergbauunternehmen in dem rohstoffreichen Bundesstaat viele Hektar Agrarland einverleibt haben. Beschleunigt wurde der Niedergang der Hirsekulturen auch von einem staatlichen Reissubventionsprogramm.

Indigene Gemeinschaften wie die Dongria Kondh, die Hirse als unverzichtbaren Energielieferanten schätzen und ihr einen spirituellen und kulturellen Wert beimessen, sind entschlossen, die vergessenen Hirsesorten wiederzufinden und zu bewahren. Deshalb ziehen die Priesterinnen von Tür zu Tür, von Dorf zu Dorf, um die Angehörigen ihrer Volksgruppe zu ermutigen, ihr einzigartiges Erbe wiederzubeleben.

Kadaraguma besteht aus 31 Haushalten, denen eine Schlüsselrolle bei dem Projekt zukommt. In höher liegenden Dörfern, die sich nur zu Fuß erreichen lassen, ist es den Menschen gelungen, etliche der vom Aussterben bedrohten Varietäten wie die gegen Diabetes bewährte, ballaststoffreiche Kodohirse wiederzuerlangen.


Kompliziertes Verfahren

Das Sammeln von Saatgut ist ein komplizierter Vorgang. Zu Fuß machen sich mehrere Priesterinnen auf, um diejenigen Dörfer zu besuchen, von denen sie gehört haben, dass dort eine alte Sorte ausgebracht wird. Im Tausch gegen die Kulturtiere Henne und Taube erhalten sie von den lokalen Bejuni genug Hirse, um sie in vier Bambuskörbe zu füllen, die mit weißen Tüchern ausgeschlagen sind.


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Priesterinnen im Gespräch, bevor sie aufbrechen, um in einem Nachbardorf im Osten Indiens nach einer gefährdeten Hirsesorte zu suchen
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Die Saatkörner werden nach der Rückkehr der Priesterinnen in ihr Heimatdorf zu gleichen Teilen unter fünf Familien aufgeteilt und im Juni ausgesät. Im Dezember kann geerntet werden. Die Erträge ergeben etwa das 50-Fache des eingesetzten Saatgutes. Die Priesterinnen machen sich mit acht gefüllten Körben erneut auf den Weg, um sich bei den Nachbarn zu revanchieren, denen sie die Erträge verdanken.

Die Entdeckung seltener Sorten spricht sich dank der Dom, einer vorwiegend den kastenlosen Dalit zugerechneten Volksgruppe, schnell herum. Die Dom, die seit Jahrhunderten in nächster Nachbarschaft zu den Dongria Kondh leben, fungieren als Boten. Erst kürzlich haben sie die Kunde von zwei Neuentdeckungen überbracht: von 'Khidi Janha', einer nahen Verwandte der Sorghumhirse, und einer Kolbenhirsespezies.

Je mehr Menschen von solchen Geschichten erfahren, umso größer das Interesse der gesamten Gemeinschaft. Immer wenn sich Menschen bei Dorfritualen oder auf dem Wochenmarkt treffen, sind die Netzwerke der Bejuni eifrig bemüht, von wiederentdeckten Saatkörnern zu erfahren. Wenn sich größere Klans der Dongria Kondh, die sich über 120 Dörfer in den Niyamgiri-Bergen verteilen, zu Hochzeiten oder Klanfestivitäten treffen, lautet die erste Frage, ob man von einer neuen Hirsesorte erfahren habe.

2013 hatten Dongria Kondh weltweit für Schlagzeilen gesorgt, als sie einem britischen Bergbauunternehmen entschlossen Widerstand leisteten, das in ihren Wäldern Bauxit abbauen wollte. Die Indigenen erreichten den Abzug des Multis aus Niyamgiri.

Vor 60 Jahren wurde Hirse in ganz Indien auf 40 Prozent der für den Getreideanbau vorgesehenen Anbauflächen kultiviert. Heute sind es nur noch elf Prozent. Zahlen der Weltagrarorganisation FAO zeigen, dass die Hirseproduktion vor 20 Jahren kontinuierlich an Boden gewann. Doch zur Jahrtausendwende ging der Anbau wieder zurück, und 2010 wurde kaum mehr Hirse produziert als 1990.


Fehlentscheidungen

In Niyamgiri war der Niedergang der Hirseproduktion noch drastischer. "Ein Regierungsprogramm zur Förderung des Ananas-, Kurkuma- und Ingweranbaus in den Dongria Kondh-Gebieten hat die Hirseanbaufläche in den letzten 15 Jahren halbiert", berichtet Susanta Kumar Dalai, eine Sozialaktivistin, die eng mit den Dongria Kondh zusammenarbeitet.

Doch die Fähigkeit von Hirse, sich unter schwierigen Bedingungen zu behaupten und mit den zur Regenzeit üblichen Niederschlägen zu begnügen, spricht für die Wiederbelebung der alten Sorten. Hirse ist zudem reich an Proteinen, Vitamin B und Mineralien wie Magnesium, Kalium, Zink und Kupfer und spielt somit eine entscheidende Rolle für die Ernährung der Indigenen. Sechs von zehn Schulkindern der Dongria Kondh sind chronisch unternährt, bei den Erwachsenen sind es 55 Prozent.

Gemessen an dem von der indischen Regierung mit 2.400 angegebenen Tagesbedarf an Kalorien sind 83 Prozent der Menschen von Niyamgiri chronisch unterernährt. Kein Dorf der Dongria Kondh hat Zugang zu Strom, Sanitäranlagen und Leitungswasser, was Gesundheitsprobleme mit sich bringt. Die Menschen können zwar auf lokale Heilpflanzen zurückgreifen, doch gegen moderne Epidemien wie chronische Diarrhö oder andere, durch unsauberes Wasser bedingte Krankheiten sind sie weitgehend machtlos.

Der rasche Zugriff auf Medikamente ist begrenzt, da die Dörfer oftmals mehr als 20 Kilometer von den nächsten Gesundheitszentren entfernt sind. Hinzu kommt, dass die Zentren vielerorts nur zu Fuß erreichbar sind. Für die auf selbstgemachten Tragen transportierten Kranken und ihre Begleiter ist dies mit einer beschwerlichen Odyssee verbunden.

Dorfbewohnern zufolge könnte die Rückkehr zu traditionellen Anbaupraktiken und der alten Ernährungsweise zur Lösung vieler Probleme beitragen. "Als wir noch mehr Hirsevarietäten kannten, war es üblich, auf einem Stück Land neun unterschiedliche Sorten zusammen mit Linsen auszubringen", erläutert der 53-jährige Krusna Kadraka, Vorsteher der Ortschaft Kadaraguma.

Die Ernte habe ausgereicht, um etliche 'Guli' - mit Kuhdung abgedichtete Bambuskörbe, die jeweils bis zu 200 Kilo Getreide fassen können - zu füllen, berichtet er. Doch jetzt, wo Monokulturen wie Reis die vielen Arten verdrängt hätten, ernteten 27 der 31 Haushalte von Kadaraguma, die jeweils einen Hektar Land in der Gebirgsregion bewirtschaften, höchsten zwei Guli Getreide im Jahr.


"Getreidehierarchie"

Wie Mankombu Sambasivan Swaminathan, ein bekannter indischer Genforscher, gegenüber IPS erklärte, hat Indien eine "Getreidehierarchie" mit weißem Reis an oberster Stelle entwickelt - ein gutes Geschäft für die Düngemittelindustrie und ein wichtiger Devisenbringer für die Regierung. Doch auf Drängen Swaminathans hin wird Hirse in Kürze in das öffentliche Nahrungsmittelverteilungssystem aufgenommen. Das staatliche Programm versorgt gut 820 Millionen der 1,2 Milliarden Menschen zählenden Bevölkerung mit preiswertem subventionierten Reis. Das von Korruption geplagte Programm hat einen Großteil der Landbevölkerung zu Reiskonsumenten gemacht und Hirse als menschliches Nahrungsmittel in Verruf gebracht.

Swaminathan drängt die indische Regierung dazu, den Wert von Hirse anzuerkennen. Der 88-Jährige setzt sich zudem dafür ein, dass die UN der Hirse ein internationales Jahr widmen, um dem stiefkindlich behandelten Getreide zu neuem Ansehen zu verhelfen, das einer exportorientierten globalisierten Welt zum Opfer gefallen ist.


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Hirsebrei wird in Kalebassen transportiert, die die Temperatur auch unter Sonneneinstrahlung stabil halten
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Legitimiert werden die Forderungen des Experten auch durch die Tatsache, dass allein in Indien 194,6 Millionen unterernährte Menschen leben, so die Welternährungsorganisation FAO. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass fast 1,3 Millionen indische Kinder jedes Jahr an den Folgen von Unterernährung sterben. In dem südasiatischen Land sind zudem doppelt so viele Mädchen und Jungen untergewichtig wie in Subsahara-Afrika.

Während die Probleme inzwischen auf höchster politischer Ebene diskutiert werden, haben die indigenen Gemeinschaften in den ostindischen Gebirgsregionen bereits Prozesse in Gang gesetzt, die sie zu Selbstversorgern gesunder Nahrungsmittel machen sollen. Die Dongria Kondh erhoffen sich von einer Aufwertung der Hirse auch einen größeren Schutz ihrer Hügelwälder. Eine erhöhte Nachfrage nach Hirse wäre mit einer Ausweitung des Anbaus und der Botschaft an die Bergbauunternehmen verbunden, dass die bestellten Gebiete für sie nicht mehr verfügbar sind, heißt es.


Hoffnung auf nachhaltigen Schutz der Berge

"Auch wenn wir 'Vedanta' [das britische Bergbauunternehmen] vertreiben konnten, haben wir immer noch Angst, dass es irgendwann zurückkommt und uns unsere Hügel, unsere Flüsse und Anbauflächen nimmt", sagt Kone Wadaka, eine 64-jährige Priesterin.

"Vedanta wollte uns in Gebiete umsiedeln, in denen Hirse nicht wächst. Außerdem haben wir im Tiefland keinen Zugang zu unseren Wäldern, aus denen wir unsere essbaren Blätter und Früchte beziehen und die bisher frei von Agrarchemikalien sind."

Indem sie sich auf ihre alten Anbau- und Essgewohnheiten besinnen und weite Teile ihrer heiligen Berge mit Hirse bepflanzen, hoffen die Dongria Kondh eine starke Botschaft an alle potenzielle Eindringlinge auszusenden, die die indigenen Gemeinschaften als Hindernisse betrachten, welche ihren Profitinteressen im Wege stehen. "Wir sind Dongria Kondh", meint dazu eine weitere Priesterin. "Ohne unsere Berge und unser Saatgut werden wir sterben." (Ende/IPS/kb/23.07.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/07/tribal-priestesses-become-guardians-of-seeds-in-eastern-india/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 23. Juli 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2015

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