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INTERNATIONAL/170: Strukturwandel ist kein Naturereignis (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2016

Gutes Essen - schlechtes Essen
Strukturwandel wohin?

Strukturwandel ist kein Naturereignis
Verkehrte Rahmenbedingungen prägen den Ernährungssektor

von Jürgen Maier


Strukturwandel ist ein Wort, das recht fatalistisch klingen kann. Wie ein Naturereignis sucht es ganze Branchen, ganze Landstriche heim, so kommt es den Betroffenen oft vor. Dabei ist Strukturwandel die Folge menschlicher Entscheidungen - ob gewollt oder ungewollt ist eine andere Frage. In der Land- und der Ernährungswirtschaft beschleunigt sich der Strukturwandel derzeit in einem solchen Tempo, dass man schon von Strukturbrüchen sprechen muss. Kaum ein Sektor zeigt so eindringlich die Irrungen und Wirrungen einer fehlgeleiteten Globalisierungspolitik wie die Land- und Ernährungswirtschaft.

Die Milchpreiskrise hat letztes Jahr deutlich gezeigt, wie sehr das Schicksal von Bauern heute von Marktbedingungen abhängt, auf die sie keinen Einfluss haben. Die Überproduktion kommt nicht von kleinen Bauernhöfen, sondern von den großen Marktakteuren, die in geradezu industriellen Strukturen mit hochgezüchteten Turbokühen produzieren. Diese leiden zwar durch ihre Überschüsse auch unter den sinkenden Erzeugerpreisen, aber kleinen Bauernhöfen geht schneller die Luft aus - ein brutaler Verdrängungskampf der Großen gegen die Kleinen. Auch der Molkereisektor ist längst hochkonzentriert: Eine Fusion und Übernahme nach der anderen hat zu Oligopolartigen Strukturen geführt, in denen Erzeugerpreise regelrecht diktiert werden können. Dies setzt sich im Einzelhandel fort, wo immer weniger Konzerne ein Oligopol bilden.

Eine marktwirtschaftlich orientierte Politik müsste sich längst an die kartellrechtlich verordnete Aufspaltung dieser Molkerei- und Handelsriesen machen. Fehlanzeige. Stattdessen gibt es Ministererlaubnisse für Großübernahmen - und parallel versuchen Europas Regierungen, europäischen Supermarkt- und Discounterketten weiteres Wachstum im Ausland zu er möglichen, indem man mit Freihandelsabkommen dort Marktzugang erzwingt. Muss Indien wirklich dazu gedrängt werden, Aldi, Lidl & Co. ins Land zu lassen, wodurch lokale Märkte zerstört und damit Millionen Menschen arbeitslos würden? Wer beschließt so eine Politik?


Macht der Verbraucher?

Das Bemerkenswerte daran ist, dass die Verbraucherpräferenzen längst ganz anders liegen. In einer Marktwirtschaft sollte man meinen, dass die Kaufentscheidungen der Verbraucher den Markt in ihrem Sinne lenken. Regionale Produkte sind heute angesagt, keineswegs nur in Deutschland. Betreten Sie einen Supermarkt, und Sie finden speziell beworbene regionale Produkte. Wie groß die Region eigentlich ist, wieviel regionale Wertschöpfung eigentlich im Produkt drin ist, ist sicherlich eine andere Frage. Aber es sagt viel über die Verbrauchertrends aus, dass es keinen, wirklich gar keinen Supermarkt gibt, der eine Sonderwerbeaktion für "Spitzenprodukte der globalen Agrarindustrie" macht.

Dennoch, die regionale Land- und Lebensmittelwirtschaft hat es immer schwerer. Längst ist auch sie dem Diktat der Weltmärkte ausgesetzt. Das Ceta-Abkommen (Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen EU - Kanada), das Bundesregierung und Kommission gegen alle Widerstände durchsetzen wollen, führt zu einem weiteren Globalisierungsschub: 12-mal so viel Rindfleisch, 14-mal so viel Schweinefleisch können aus Kanada künftig zollfrei in die Europäische Union (EU) exportiert werden. Das ist preisrelevant, wird die Erzeugerpreise weiter unter Druck setzen. In einer Situation, in der in Deutschland ohnehin der Fleischabsatz sinkt, die Produktion aber steigt, ist das fatal - aber politisch gewollt. Mit mehr als einem Dutzend anderer Freihandelsabkommen versucht die EU, Fleischmärkte in Vietnam, den Philippinen, Japan usw. zu öffnen, um für die agrarindustrielle Überproduktion in der EU neue Märkte zu finden - und dort bäuerliche und regionale Strukturen plattzumachen. Mit den geplanten Freihandelsabkommen mit den Agrarexportländern Südamerikas sowie Australien und Neuseeland soll umgekehrt die heimische Landwirtschaft unter weiteren massiven Preisdruck gesetzt werden. Ein regelrechter Preiskrieg, Roulettespiel mit der Zukunft der Landwirtschaft, politisch gewollt von Europas Regierungen und EU-Kommission.


Regional als "neues Bio"?

Weil diese Politik nicht mehr sonderlich populär ist, werden jetzt spezielle Förderprogramme und Herkunftssiegel für regionale Land- und Ernährungswirtschaft aufgelegt. Vor allem Landwirtschaftsminister der Bundesländer schmücken sich gerne öffentlichkeitswirksam mit solchen Ideen. Sie sind aber eigentlich sinnlos. Es wäre schon völlig ausreichend, wenn man den Druck der politisch forcierten Weltmarktintegration von der regionalen Land- und Ernährungswirtschaft nehmen würde, damit sie wieder auskömmliche Erzeugerpreise erwirtschaften kann. Aber das plant keine Regierung in Europa. Weltmärkte für Milch und Fleisch sind ein Irrweg und gehören massiv zurückgedrängt, nicht politisch vorangetrieben. Würden EU-Verhandlungsmandate öffentlich und demokratisch diskutiert statt in Hinterzimmern geheim ausgekungelt, wäre das schon längst geändert worden. Auch nach dem TTIP-Fiasko (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft EU - USA) steht dies weiterhin nicht auf dem Programm der EU, allen Transparenzversprechen zum Trotz.

"Regional" ist en vogue, aber es ist nicht das neue Bio. Kaum etwas ist schärfer reguliert als der Begriff "bio", während "regional" ein ziemlicher Allerweltsbegriff ist. Auch die Biobranche ist denselben Konzentrationstendenzen ausgesetzt wie die "konventionelle" Land- und Ernährungswirtschaft, und die Sinnhaftigkeit eines wachsenden "Weltmarkts" für Bioprodukte kann unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten sehr wohl hinterfragt werden. Auch hier Marktversagen auf der ganzen Linie: Die Verbrauchernachfrage nach bio und regional steigt, aber nicht die Bioproduktion der deutschen Landwirtschaft steigt, sondern die Importe. Was ist eigentlich schiefgelaufen, wenn die konventionelle Landwirtschaft zunehmend in die ökonomische Krise kommt, die Bio-Nachfrage steigt, und trotzdem immer weniger Landwirte auf Bio umstellen? Politikversagen oder Marktversagen?


Politik für Konzerne

Was alles schiefläuft in der heutigen Agrar- und Ernährungspolitik, kann man auch an der geplanten Bayer-Monsanto-Fusion gut sehen. Bayer betont zwar, es sei eine "Übernahme" und keine Fusion, schaut man sich aber die Eigentümerstruktur an, merkt man schnell, was Sache ist. "Bei Bayer und Monsanto haben die gleichen Großaktionäre die Macht. Verhandeln die Fonds bei der Übernahme mit sich selbst?", fragte die Süddeutsche Zeitung (21. September 2016). Wenn demnächst nur noch 3 Konzerne den globalen Saatgutmarkt kontrollieren, so die Kartellämter denn Ja sagen (was zu befürchten steht), ist marktwirtschaftlicher "Wettbewerb" nur noch eine leere Hülse. Bauern in der Abhängigkeit von globalen Finanzspekulanten? Nicht wirklich eine gute Idee. Auch hier fragt man: Wo bleibt eigentlich die politische Gegensteuerung? Völlige Fehlanzeige, im Gegenteil: Fester Bestandteil der EU-Handelspolitik seit 25 Jahren ist die Verschärfung der Saatgutgesetze, das Durchsetzen ausufernder "geistiger Eigentumsrechte" auf Saatgut und die Kriminalisierung von Bauern, die ihre Ernte als Saatgut wiederverwenden, statt bei Agrarkonzernen Saatgut neu einzukaufen.

In Zeiten niedriger Zinsen suchen Finanzinvestoren nicht nur Immobilien in Städten, sondern auch landwirtschaftliche Flächen. Seit 2007 haben sich die Verkaufswerte von landwirtschaftlich genutztem Land im Schnitt mehr als verdoppelt. Normale Bauern können in diesem Bieterkampf oft nicht mehr mithalten. Auch kann man sich dabei verspekulieren, wie die Pleite der KTG Agrar im Herbst zeigt. Sie war mit 42.000 Hektar Deutschlands größter Landwirtschaftsbetrieb. Aus der Konkursmasse haben sich wieder Finanzinvestoren bedient, so z. B. die Münchner Rück. Warum verhindert die Politik nicht, dass Agrarfläche in die Hände solcher Finanzspekulanten gerät?


Ländlicher Raum in der Krise

Es ist kein Wunder, wenn bei solchen Rahmenbedingungen immer mehr bäuerliche Betriebe auf der Strecke bleiben. Ist das "Strukturwandel"? Oder die logische Folge einer fehlgeleiteten Politik? Man mag die reale ökonomische Bedeutung bäuerlicher Betriebe geringschätzen, und wer nur in Dimensionen von Euro und Bruttoinlandsprodukt denkt, wird das auch tun. Aber mit dem Niedergang einer regional verankerten Landwirtschaft verarmen auch ländliche Regionen. Junge Menschen wandern ab, gerade die besser ausgebildeten, zurück bleiben Alte und weniger Mobile und fragen sich, welche Perspektive ihre Heimat noch hat. Die Vorstellung, mit weltmarktintegrierten Gewerbegebieten den Niedergang regionaler Landwirtschaft zu kompensieren, ist eine reine Wunschvorstellung.

Die Entleerung des ländlichen Raumes ist aber kein auf Europa begrenztes Phänomen. Sie findet auch in vielen Entwicklungsländern statt. Kürzlich feierte die Welt es geradezu als Erfolg, dass erstmals in der Geschichte mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten lebt. Hauptursache: Kleinbäuerliche Landwirtschaft bietet immer weniger wirtschaftliche Perspektiven. Konsequenz: Vor 30 Jahren waren 30 Länder Netto-Nahrungsmittelimporteure, heute sind es 110. Mehr als die Hälfte aller Länder sind für ihre Ernährung von den Preisschwankungen eines von global agierenden Finanzkonzernen dominierten Weltmarkts betroffen. Ausufernde Megastädte, perspektivlose ländliche Regionen, zunehmende Migrationsströme - man muss blind sein, wenn man nicht den Zusammenhang mit einer Politik sieht, die seit Langem billigend in Kauf nimmt, oder es geradezu als Fortschritt feiert, dass auf regionale Märkte ausgerichtete Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung kaputtgehen und damit die Existenzgrundlage vieler Millionen Menschen.

Landwirtschaft und Ernährung sind aber auch die Bereiche, in denen die progressive Zivilgesellschaft am meisten gelernt hat. Dass es nicht nur um die Moral gehen kann, sondern auch ums Fressen gehen muss, mag bei diesem Thema vielleicht besonders offensichtlich sein. Umweltschützer, Tierschützer, Verbraucher, urbane Zivilgesellschaft stellen sich nicht (mehr) gegen Bauern, sondern treten gemeinsam mit der Agraropposition gegen die forcierte Industrialisierung der Land- und Ernährungswirtschaft an. Wir können von Bauern nicht mehr Umwelt- oder Tierschutz verlangen, wenn sie auf den Kosten sitzenbleiben. Es geht nicht nur um zertifizierte Produkte, es geht um andere Strukturen, andere Marktbedingungen. Eine zukunftsfähige Land- und Ernährungswirtschaft produziert primär in der Region für die Region, gibt ländlichen Regionen eine wirtschaftliche Perspektive, und sie lässt die Wertschöpfung in der Region und nicht an Weltmarkt-Finanzinvestoren abfließen - in Europa genauso wie in den Ländern des Südens. Eine zukunftsfähige Gestaltung der Globalisierung heißt im Falle der Land- und Ernährungswirtschaft auch, die Globalisierung und die Konzentration der Weltwirtschaft wieder ein gehöriges Stück zurückzudrängen. Das wäre ein Strukturwandel, der zu begrüßen wäre!


Autor Jürgen Maier ist Geschäftsführer des Forum Umwelt und Entwicklung.

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Quelle:
Rundbrief 4/2016, Seite 2 - 4
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2017

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