Pro Asyl - Pressemitteilung vom 30. November 2016
Fehlerträchtige Entscheidungshektik beeinträchtigt Asylverfahren
Wohlfahrtsverbände, Menschenrechtsorganisationen, Richter- und Anwaltsvereinigungen fordern faire und sorgfältige Asylverfahren in Deutschland.
Ein Zusammenschluss von zwölf Wohlfahrtsverbänden, Anwalts- und Richtervereinigungen sowie Menschenrechtsorganisationen hat heute in Berlin die Studie "Memorandum für faire und sorgfältige Asylverfahren in Deutschland" veröffentlicht. Das Bündnis begrüßt eine zügige Bearbeitung der Asylanträge. Qualität müsse dabei jedoch vor Schnelligkeit gehen.
Das Bündnis fordert in dem vorgelegten Memorandum eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität bei Asylentscheidungen: Personenidentität von Entscheider und Anhörer, sorgfältige Anhörungen mit ordentlicher Sachverhaltsaufklärung, ausreichende Schulungen von den neu eingestellten Dolmetschern und Mitarbeitenden des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie den massiven Ausbau des Qualifizierungszentrums und einer strukturellen Qualitätssicherung, auch schon vor Ort in den Außenstellen des BAMF, mit dem Auftrag, fehlerhafte Entscheidungen zu korrigieren.
Im Zentrum der Kritik stehen vor allem die oft mangelnde Aufklärung der Fluchtgründe während der Anhörung, die inzwischen flächendeckend eingeführte Trennung von Anhörung und Entscheidung im Asylverfahren und zu geringe Standards bei der Einstellung und Schulung von neuen Anhörenden und Dolmetschern. Darüber hinaus gibt der fehlende Zugang von Informationen für die Asylsuchenden zu Beginn des Verfahrens, die es ihnen ermöglichen, ihre Rechte und Pflichten wahrzunehmen, Grund zur Besorgnis.
Die Vorgabe der Bundesregierung an das BAMF, bis zum Wahljahr 2017 mehr als eine halbe Million anhängiger Asylanträge abzuarbeiten, habe zu einer fehlerträchtigen Entscheidungshektik geführt, kritisiert das Bündnis. Die Entscheidungen des Bundesinnenministeriums - wie der Wegfall des schriftlichen Verfahrens oder die Wiederaufnahme der Dublin-Prüfungen für Syrer, aber auch der Verzicht auf eine Altfallregelung - hätten bestehende Defizite weiter verschärft.
Bis das Bundesamt eine nennenswerte Qualitätskontrolle etabliert habe, seien die Betroffenen allein auf die Verwaltungsgerichte als Korrekturinstanz angewiesen, die derzeit im Akkord fehlerhafte Entscheidungen aufheben müssten. Ein Widerspruchsverfahren sei im deutschen Asylrecht nicht vorgesehen. Die Verwaltungsgerichte wurden jedoch im Gegensatz zum Bundesamt nicht gleichermaßen aufgestockt, so dass es zu weiteren Verfahrensverzögerungen kommen werde. Ebenso sind auch die Kapazitäten von Rechtsanwälten im Asylrecht und von Asylverfahrensberatern nahezu ausgeschöpft, eine flächendeckende unabhängige Rechtsberatung Asylsuchender vor allem in ländlichen Gebieten könne nicht gewährleistet werden, sodass nicht alle Betroffenen Rechtsmittel erfolgreich durchsetzen können.
Fall 1: Eine syrische Familie nimmt eine verfolgte Christin auf. Sie wird erschossen, der Familie wird gedroht. Der fluchtauslösende Sachverhalt wird in drei Zeilen notiert, aber durch keinerlei Nachfragen weiter aufgeklärt. Stattdessen folgt abrupt die Frage, was die Antragstellerin bei einer Rückkehr erwarte. Die Anhörung dauert insgesamt nur 25 Minuten, zuerkannt wird in dem Fall nur subsidiärer Schutz - zu Unrecht.
Laut Rechtsanwalt Marx ist dies eine Folge der Einführung gesonderter Anhörungszentren, in denen unter hohem zeitlichem Druck Anhörungen durchgeführt werden. Wenn unzureichend protokolliert wird und Fluchtgründe nicht ermittelt werden, führt dies zwangsläufig zu Fehlentscheidungen.
Folgenreich ist auch die Trennung von Anhörer und Entscheider, wie in Fall 2.
Fall 2: Eine afghanische Hebamme, die der Minderheit der Hazara angehört, wird zu einer Geburt gerufen. Trotz ihrer dringenden Empfehlung weigert sich die Familie, (Angehörige der paschtunischen Mehrheit) ein Krankenhaus aufzusuchen. Das Baby wird tot geboren. Der Vater ist ein lokaler Taliban. Die Frau, weil sie Schiitin ist, wird für den Tod verantwortlich gemacht und flieht nach Deutschland. Ihre Anhörung verlief korrekt und ist umfassend protokolliert, der Fall wird allerdings durch eine andere Person entschieden. Die Einführung von Entscheidungszentren und die systematische Trennung von anhörender und entscheidender Person ist eine Ursache für Fehlentscheidungen: Der Asylantrag wurde abgelehnt, ein politischer Zusammenhang bestritten. Aus einer Hazara - richtig im Anhörungsprotokoll vermerkt - wurde außerdem eine Tadschikin.
Zitate der Verbandsvertreter:
"Wir wissen, dass sich das Bundesamt in einer historisch bisher einmaligen
Situation befindet und sehen mit großer Anerkennung die Leistung, diese
Herausforderung zu meistern. Die Diakonie hat darum, ebenso wie andere
Wohlfahrtsverbände, die bundesweit Asylverfahrensberatung anbieten, im
Interesse vor allem der Schutzsuchenden stets eine zügige Bearbeitung von
Asylverfahren gefordert, allerdings nicht auf Kosten der Qualität, wie es
jetzt zum Teil der Fall ist. Wir brauchen Asylverfahren, in denen die
Fluchtgründe mit Sorgfalt gewürdigt werden - langwierige Klageverfahren
sind dem Ankommen in Deutschland abträglich."
(Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland)
"Der schutzsuchende Mensch und seine persönlichen Fluchtgründe müssen in
den Asylverfahren im Mittelpunkt stehen. Es geht um Menschenleben, die auf
dem Spiel stehen. Fehlerhafte Entscheidungen überlasten die Gerichte und
stürzen die Betroffenen in Unsicherheit. Das BAMF knabbert an den Fehlern
aus der Vergangenheit. Es muss sichergestellt sein, dass sie sich nicht
verstetigen. PRO ASYL begrüßt, dass das BAMF mit uns im konstruktiven
Dialog ist."
(Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL)
Amnesty International, Arbeiterwohlfahrt , Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein, Deutscher Caritasverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Diakonie Deutschland, Neue Richtervereinigung, Jesuiten-Flüchtlingsdienst, PRO ASYL, Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein und der Bundesrechtsberaterkonferenz
Das Memorandum für faire und sorgfältige Asylverfahren in Deutschland
finden Sie unter:
https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/Memorandum-f%C3%BCr-faire-und-sorgf%C3%A4ltige-Asylverfahren-in-Deutschland-2016.pdf
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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 30. November 2016
Postfach 160 624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: +49 069 - 23 06 88, Fax: +49 069 - 23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2016
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