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ASYL/823: Mehr als eine Geste ist notwendig - Öffnung der Grenzen für syrische Flüchtlinge (Pro Asyl)


Pro Asyl - Pressemitteilung vom 11. September 2013

Mehr als eine Geste ist notwendig:
PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern Öffnung der Grenzen für syrische Flüchtlinge

Heute landet der erste Charterflug mit 110 von 5.000 syrischen Flüchtlingen, deren Aufnahme Bund und Länder im Mai 2013 vereinbart haben, in Hannover. PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen erklären dazu:



Wir begrüßen, dass Bundesinnenminister Friedrich und der niedersächsische Innenminister Pistorius die syrischen Flüchtlinge heute persönlich willkommen heißen. Es ist ein wichtiges Signal, dass die Politik öffentlich für die Aufnahme von Schutzbedürftigen einsteht. Gemessen an den Ausmaßen der syrischen Flüchtlingskatastrophe ist die Aufnahme von 5.000 Menschen in den kommenden Monaten jedoch nur eine Geste.

Um die Verhältnisse deutlich zu machen: 5.000 ist die Größenordnung, in der die Menschen derzeit täglich aus Syrien fliehen. Nach UN-Angaben sind insgesamt mehr als zwei Millionen Menschen geflohen, über vier Millionen innerhalb Syriens vertrieben. Mehr als 97% der Flüchtlinge haben Zuflucht in den Nachbarländern gefunden.[1] Doch die Anrainerstaaten sind an ihre Grenzen gelangt. Konflikte um Ressourcen drohen zu eskalieren. Kinder, die die Hälfte der Flüchtlinge ausmachen, drohen neben traumatischen Gewalterfahrungen nun auch noch Opfer von Menschenhandel, Kinderarbeit und sexueller Ausbeutung zu werden. Flüchtlinge, die sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machen, stoßen auf geschlossene Grenzen. Die Europäische Union nimmt selbst den Tod von Flüchtlingen billigend in Kauf.

PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern eine umfassende, organisierte Rettungspolitik für die syrischen Flüchtlinge:

1. Europa muss seine Grenzen für Flüchtlinge endlich öffnen! Die europäischen Staaten sollten, wie von UN-Flüchtlingskommissar António Guterres gefordert, unbegrenzt syrische Flüchtlinge aufnehmen.

2. Bundesinnenminister Friedrich muss selbst die Initiative für ein wirklich großzügiges EU-Aufnahmeprogramm ergreifen, um Menschen aktiv aus der Region zu holen.

3. Die hier lebenden Angehörigen von Flüchtlingen müssen die Möglichkeit haben, ihre Verwandten nach Deutschland zu holen. Die Bundesländer müssen die Familiennachzugsregeln so ausgestalten, dass dies realistisch erreichbar ist.

4. Asylsuchende aus Syrien müssen als Flüchtlinge anerkannt werden und ein sicheres Aufenthaltsrecht erhalten.


Zu den Forderungen im Einzelnen:

1. Europa muss seine Grenzen endlich öffnen! Es darf nicht sein, dass an Leib und Leben bedrohte Menschen auf der Flucht nach Europa erneut ihr Leben riskieren müssen. Syrische Flüchtlinge sterben im Mittelmeer und in der Ägäis. Völkerrechtswidrig werden Schutzsuchende aus dem Bürgerkriegsland an der griechisch-türkischen Land- und Seegrenze zurückgewiesen. Europa ist mitverantwortlich für diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen an seinen Grenzen. Flüchtlinge werden abgedrängt, abgewiesen oder als angeblich "illegale" Einwanderer inhaftiert. Beendet werden muss auch die unwürdige Praxis der Nichtzuständigkeitserklärungen für Asylsuchende im Dublin-System. Wer Verwandte oder Bekannte in einem bestimmten EU-Staat hat, soll dorthin weiterreisen und dort den Asylantrag stellen dürfen.

2. Die europäischen Staaten müssen ein groß angelegtes Aufnahmeprogramm einrichten und Flüchtlinge aus der Region aufnehmen. Während des Bosnien-Kriegs fanden allein in Deutschland über 300.000 Menschen Zuflucht, weil die Einreisebedingungen vergleichsweise großzügig gestaltet waren. Vor diesem Hintergrund ist das bislang beschlossene deutsche Kontingent von 5.000 beschämend gering. Wir fordern Bundesinnenminister Friedrich auf, die Initiative für ein großzügiges, gemeinsames EU-Aufnahmeprogramm zu ergreifen und das deutsche Kontingent deutlich zu erhöhen.

3. Der Familiennachzug muss unbürokratisch gewährt werden. In Deutschland leben rund 40.000 syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltserlaubnis. Bislang haben die Bundesländer Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Thüringen Aufnahmeanordnungen erlassen oder angekündigt, nach denen Angehörige hier lebender Syrer/innen unter bestimmten Bedingungen ein Visum für Deutschland erhalten. Als Stolperstein könnte sich schon der Zugang zum Visumverfahren bei den deutschen Botschaften erweisen, die in der Vergangenheit häufig auf Monate hinaus keine Termine mehr frei hatten. Baden-Württemberg begrenzt die Zahl der aufzunehmenden Personen von vornherein auf magere 500 und das bevölkerungsreiche Nordrhein-Westfalen sogar auf 1.000 (bei 12.700 syrischen Staatsangehörigen im Land). Bayern äußert sich noch zurückhaltender und spricht explizit von "Einzelfällen". Der Wortlaut der bislang vorliegenden Aufnahmeanordnungen lässt befürchten, dass es sich ohnehin nur wohlhabende Familien leisten könnten, Angehörige nach Deutschland zu holen. Grund dafür ist die obligatorisch verlangte Verpflichtungserklärung. Ein Beispiel: Welche Familie kann auf unbestimmte Zeit monatlich 1.300 Euro Unterhalt, davon allein 680 Euro Kranken- und Pflegeversicherungsschutz, für die beiden Großeltern zahlen? Dabei sind Kosten für eine zusätzliche Unterkunft noch nicht einmal einger echnet. Als einziges Bundesland hat Niedersachsen niedrigere Maßstäbe an das verfügbare Einkommen angelegt. Für viele dürfte es dennoch nur schwer möglich sein, mit dem Familiennettogehalt auch nur die Pfändungsfreigrenze zu überschreiten. Bund und Länder sind gefordert, die Regelungen praktikabel zu machen. Insbesondere müssen der Krankenversicherungsschutz der Angehörigen über eine pauschale Regelung sichergestellt und die Anforderungen an den materiellen Beitrag der hier Lebenden abgesenkt und zeitlich befristet werden. Auch darf der Nachweis einer nahen Verwandtschaft die Betroffenen nicht vor unnötige bürokratische Probleme stellen.

4. Asylsuchende aus Syrien müssen den Schutz erhalten, der ihnen zusteht: Den Flüchtlingsstatus. Seit Beginn des Krieges 2011 haben nur etwas über 15.000 syrische Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragt. Rund 80% erhalten lediglich einen Aufenthaltstitel als subsidiäre Schutzberechtigte. Damit stehen die Betroffenen - im Unterschied zu nach der Genfer Konvention anerkannten Flüchtlingen - beim Familiennachzug vor hohen Hürden. Schweden hat es bereits vorgemacht und spricht rund 8.000 syrischen Staatsbürgern, die bislang nur ein befristetes Aufenthaltsrecht hatten, und allen künftig ankommenden syrischen Asylsuchenden einen dauerhaften Status mit dem Recht auf Familiennachzug zu.


Anmerkung
[1] Nach UNHCR-Angaben beherbergt allein der Libanon (4,3 Mio Einwohner) derzeit über 720.000 Flüchtlinge, Jordanien (6,5 Mio Einwohner) über 500.000. In der Türkei haben über 450.000 Menschen Zuflucht gesucht, rund 180.000 im Irak und 120.000 in Ägypten.

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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 11. September 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2013