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AUSSEN/508: Eine Brücke nach Asien (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 19.09.2011
(german-foreign-policy.com)

Eine Brücke nach Asien


BERLIN/ANKARA - Anlässlich seines Deutschland-Besuchs bietet der türkische Staatspräsident Abdullah Gül der Bundesrepublik eine exklusive Zusammenarbeit an. Zwischen den beiden Ländern solle eine enge Kooperation eingeleitet werden, "wie sie heute zwischen Frankreich und Deutschland besteht", schlägt Gül vor. Dabei könne die Türkei als "Brücke" nach Asien dienen. Gül spielt damit auf die wachsenden Einflussaktivitäten Ankaras vor allem im Nahen und Mittleren Osten an, die zuletzt in Konfrontationen mit Israel gipfelten. Berlin könne in Zukunft, wenn es sich mit Ankara abstimme, eine stärkere Rolle in der arabischen Welt spielen, erklären Befürworter einer intensiveren deutsch-türkischen Zusammenarbeit. Konkretere Vorschläge Ankaras werden von der heutigen Berliner Rede des türkischen Staatspräsidenten erwartet. Deutschland hat starke Interessen in der Türkei, die neben der politischen auch die ökonomische Expansion betreffen.


Deutsche Interessen

Die deutschen Interessen in der Türkei hat mehrfach der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags, Ruprecht Polenz (CDU), beschrieben. Man müsse "daran denken, wie Europa in Zukunft neben den Riesen China, Indien und Nordamerika bestehen" könne, erklärt der CDU-Politiker. Dabei sei es "von entscheidender strategischer Bedeutung", das große ökonomische Potenzial der boomenden Türkei zu nutzen und zugleich ihre "Funktion als Brücke für unsere Energieversorgung" - also für Öl- und Gastransporte aus Zentralasien und Mittelost - angemessen zu stabilisieren.[1] Um beides dauerhaft sicherzustellen, spricht sich Polenz für den EU-Beitritt der Türkei aus, der aber in Berlin gegenwärtig keinerlei Aussicht auf eine Mehrheit hat. Polenz erklärt, eine zuverlässige Anbindung Ankaras könne auch die Stellung der EU in denjenigen Gebieten stärken, in denen die Türkei sich um größeren Einfluss bemühe - etwa im Kaukasus, aber auch im Nahen und Mittleren Osten.[2] Gemeinsam könne es dabei gelingen, die arabisch-islamische Welt langfristig auf die EU auszurichten.


Die Lokomotive Europas

Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül hat Berlin nun vor seinem gestrigen Eintreffen in der deutschen Hauptstadt eine engere Kooperation angeboten. Zwar betont er weiterhin, sein Land wolle alles unternehmen, um in die EU aufgenommen zu werden. Beobachtern zufolge hat sich jedoch in Ankara in Wirklichkeit die Überzeugung durchgesetzt, Brüssel nutze die Annäherung der Türkei nur aus, um sich bessere Zugänge zu dem Land zu verschaffen, ohne einen EU-Beitritt und die damit verbundenen Vorteile wirklich gewähren zu wollen.[3] Die türkische Regierung, heißt es, habe daher die EU-Mitgliedschaft in Wirklichkeit längst abgeschrieben. Laut jüngsten Äußerungen von Gül kann Ankara allerdings ersatzweise einer exklusiven Partnerschaft mit Deutschland etwas abgewinnen. Eine enge Zusammenarbeit, "wie sie heute zwischen Frankreich und Deutschland besteht", solle "auch zwischen Deutschland und der Türkei bestehen", erklärt Gül. Deutschland sei "ein großer Staat, die Lokomotive Europas und der EU, ein Land mit einer starken Wirtschaft". Es passe deshalb zu Ankara, denn in Europa gebe es heute "zwei gesunde Nationen: Deutschland und die Türkei". Sie müssten enger kooperieren.[4]


Ideale Exportbasis

Seinen Einsatz für den Ausbau der bilateralen Wirtschaftsverflechtung dokumentiert der türkische Staatspräsident mit seinem Auftritt beim Deutsch-Türkischen Wirtschaftsforum an diesem Montag. Für deutsche Unternehmen ist dies von erheblicher Bedeutung: Experten sagen der Türkei für die kommenden Jahre ein anhaltend hohes Wirtschaftswachstum voraus - genannt werden Raten von sieben Prozent -; einer Studie der Investmentbank Goldman Sachs zufolge könnte das Land bis 2050 sogar zur neuntgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Zudem stufen Unternehmerkreise die Türkei als "eine ideale Exportbasis" [5] für Ausfuhren in den Kaukasus, vor allem aber in den Nahen und den Mittleren Osten ein. Bislang läuft es gut für die deutsche Wirtschaft. Die Bundesrepublik ist schon seit Jahren der größte Auslandsinvestor in der Türkei (8,5 Milliarden US-Dollar seit 1980) und der größte Handelspartner (Handelsvolumen: 26 Milliarden Euro, ungefähr zehn Prozent des gesamten türkischen Außenhandels), auch wenn China mit hoher Geschwindigkeit an Bedeutung gewinnt. Auch die Zahl deutscher Firmen in der Türkei sowie türkischer Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung nimmt stetig zu und hat inzwischen fast 4.500 erreicht.


Wie das Commonwealth

Eine herausgehobene Rolle wird in den Gesprächen, die Gül am heutigen Montag in Berlin führt, jedoch die Entwicklung in den arabischen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens spielen. Gül hebt hervor, dass Ankara dort intensiv nach Einfluss strebt. Zu den Staaten, die sich einst aus dem zerfallenden Osmanischen Reich bildeten, unterhalte die Türkei heute wieder "enge Beziehungen", die man "mit dem britischen Commonwealth vergleichen" könne.[6] Mit Ägypten etwa pflege man nicht nur umfassende politische Kontakte. Es gebe mittlerweile auch ein Freihandelsabkommen; in Kairo sei "eine türkische Industriezone" angesiedelt worden, "in der 70.000 Ägypter arbeiten". Erst letzte Woche hat die türkische Regierung mit heftigen Attacken gegen Israel deutlich gemacht, dass sie ihre Ansätze zu einer eigenständigen Nah- und Mittelostpolitik ausbauen will. Das entspricht dem Konzept der "Strategischen Tiefe", dem die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan seit einigen Jahren folgt und das der Türkei eine eigene Einflusszone sichern soll (german-foreign-policy.com berichtete [7]).


Quelle der Inspiration

Begünstigend kommt inzwischen hinzu, dass in vielen Ländern der arabischen Welt die seit einigen Jahren von Erdoğans Partei AKP regierte Türkei als attraktives Staatsmodell für islamisch geprägte Gesellschaften gilt.[8] "Die Leute haben konservative Werte, sie sind fromm und fleißig, dabei aber modern, weltoffen und produktiv", erklärt Gül: "Ich denke, in diesem Sinne sind wir tatsächlich eine Quelle der Inspiration für andere."[9] Gehe man eine enge Kooperation mit der Türkei ein, dann könne man deshalb auch auf stärkeren deutschen Einfluss in der arabisch-islamischen Welt hoffen, ist in Berlin zu hören.


Ohne Erfolg

Aussagen darüber, wie sich Ankara eine engere Kooperation mit Berlin im Nahen und im Mittleren Osten vorstellt, werden von der heutigen Rede des Staatspräsidenten an der Humboldt-Universität in Berlin erwartet. Keinen Zweifel lässt Gül daran, dass eine Zusammenarbeit auf Dauer nicht ohne das Ende der staatlichen Benachteiligung der türkischstämmigen Minderheit in der Bundesrepublik zu haben ist. Insbesondere kritisiert er die noch von der Großen Koalition verabschiedete Verschärfung der Bestimmungen für den Familiennachzug, die in hohem Maß Menschen mit engen Kontakten in die Türkei trifft. Demnach müssen auch Ehepartner einen Deutschtest bestehen, bevor sie in die Bundesrepublik einreisen dürfen. "Ich denke, dass dies den Menschenrechten widerspricht und dem Gedanken einer fortschrittlichen Demokratie", erklärt Gül. Zudem könne es nicht angehen, dass zwar Deutsche problemlos Urlaubsvisa für die Türkei bekämen, Türken umgekehrt aber keine Visa für Deutschland. Die Visaverfahren müssten "überprüft und überarbeitet werden".[10] Die Forderung wird seit längerem von der Türkei erhoben - ohne Erfolg.


Anmerkungen:
  [1] "Unsere Werte sind mit dem Islam kompatibel"; www.faz.net
  [2] Ruprecht Polenz: Besser für beide. Die Türkei gehört in die EU, Hamburg 2010
  [3] s. auch Die neuen Partner in Ankara (I)
      http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57928
  [4] "Israel hat sich schuldig gemacht"; www.faz.net 16.09.2011
  [5] Wirtschaftsbericht Türkei 2010; www.dtr-ihk.de
  [6] "Israel hat sich schuldig gemacht"; www.faz.net 16.09.2011
  [7] s. dazu Die neuen Partner in Ankara (II)
      http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57929
  [8] s. dazu Das türkische Modell
      http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58010
  [9] "Israel hat sich schuldig gemacht"; www.faz.net 16.09.2011
[10] Gül kritisiert deutsche Visa-Regeln; www.zdf.de 17.09.2011


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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2011