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DISKURS/086: Die Neue Bürgerlichkeit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010

Die Neue Bürgerlichkeit: Von der Projektion zum Projekt - und wieder zurück

Von Albrecht von Lucke


In ihrer ersten Regierungserklärung vom 10. November 2009 präsentierte die alte und neue Kanzlerin voller Stolz ihre neue "bürgerliche Koalition der Mitte". Unser Autor analysiert die "geistig-politische Wende" der Liberalen, mit der Westerwelle einen Weg aus der Sloterdijkschen Lethargokratie" finden will, und geht auf die Schnittmenge und mögliche Zukunft einer schwarz-grünen Koalition ein.


Was bereits seit einigen Jahren als "Neue Bürgerlichkeit" durch die Gazetten geistert, soll nun, mit der "bürgerlichen Koalition der Mitte", endlich Realität und Projekt geworden sein. Wenn jedoch diese schwarz-gelbe "Wunschkoalition" (Guido Westerwelle) etwas vor allem anderen vermissen ließ, dann ein konkretes, bürgerlich stimmiges und durchgerechnetes Konzept. Stattdessen waren die Fliehkräfte von Beginn an immens: auf der einen Seite die Steuersenkungsversprechen der FDP, auf der anderen der Spar- und Konsolidierungsanspruch der Kanzlerin und ihres Schatzmeisters Wolfgang Schäuble. So prägte kleinliches Parteiengezänk ohne jede Linie die ersten Regierungsmonate.

Insofern kommt es gerade der FDP sehr gelegen, dass einige beflissene Intellektuelle bereitwillig einsprangen, um für den fehlenden geistigen Überbau zu sorgen. Zahlreiche "Geistesschaffende", von Arnulf Baring über Norbert Bolz und Hans Olaf Henkel bis Hans Werner Sinn, schwangen sich in den Debatten zu Stichwortgebern der Neuen Bürgerlichkeit auf und forderten in bewährter Manier (und als hätte es eine Finanzmarktkrise nie gegeben) verstärkten Sozialstaatsrückbau. Die Speerspitze dieser "Bewegung" markierte jedoch vor allem einer, nämlich Peter Sloterdijk. Mit seinem "bürgerlichen Manifest" im Magazin Cicero, dem selbsternannten bürgerlichen Salon der Republik, beauftragte er explizit die FDP mit der Bekämpfung der grassierenden "Leistungsträgerverleumdung": "Es ist ihre objektive Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Leistungsträgerkern der deutschen Population sich in Zukunft nicht nur fiskalisch stark mitgenommen fühlt, sondern sich endlich auch politisch, sozial und kulturell gewürdigt weiß." Diese Aufgabe sei das Gebot der Stunde.


Westerwelles anti-bürgerlicher Vulgärliberalismus

Nach Sloterdijk leben wir seit der Ära Helmut Kohls in einer "Lethargokratie", sprich: in einem zunehmend verfettenden, unbeweglich werdenden Gemeinwesen. Die "Produktiven" würden durch die "Unproduktiven" bzw. die "Steueraktiven" oder "Transfermassengeber" durch bloße "Transfermassennehmer" ausgebeutet. Deshalb gelte es nun, zum Zeitpunkt der neuen Koalition von Schwarz und Gelb, ein neues "Manifest der Leistungsträger" zu begründen, das dem Begriff der Freiheit einen ganz neuen Stellenwert beimisst. Denn, so Sloterdijk: "Der Geist der Zeit sendet neue Signale. Es wäre fatal, sie nicht empfangen zu wollen."

Einer jedenfalls war allzu willig, die Sloterdijkschen Signale zu empfangen: Als hätte Guido Westerwelle nur auf diese Vorlage gewartet, postulierte er seine "geistig-politische Wende". Dreifach geschlagen - mit verheerenden eigenen Sympathiewerten, mit einer die eigene Steuersenkungspolitik konterkarierenden Union und mit einer mediokren FDP-Ministerriege vom Schlage Brüderle und Niebel - trat er die Flucht nach vorn an. Um die vakante Stelle des bürgerlichen Vordenkers zu besetzen, transformierte er die Sloterdijksche Lethargokratie schlicht ins Historische: die Rede von der "spätrömischen Dekadenz" war geboren. Mit seiner infamen Philippika gegen angeblichen "anstrengungslosen Wohlstand" der Hartz IV-Empfänger machte er die Schwächsten der Gesellschaft als perfekten Sündenbock in Krisenzeiten aus, um die wachsende Wut und Verunsicherung der Mittelschichten zu kanalisieren und auf die Mühlen der FDP zu lenken. Und zwar durchaus mit Erfolg, wie der Anstieg der Umfragewerte für die FDP signalisierte - bei gleichzeitigem weiteren Absturz der Sympathiewerte für den pöbelnden Außenminister.

Hier bereits zeigte sich, dass die heutigen Liberalen meilenweit entfernt sind von der einstigen Professoren-Partei der 70er-Jahre. Der vulgäre Krawallliberalismus des Guido Westerwelle hat mit dem Rechtspopulismus Jörg Haiders weit mehr zu tun als mit dem bürgerlichen Liberalismus eines Ralf Dahrendorf oder Werner Maihofer. Insofern geht der Gedanke von Zeit-Vize Bernd Ulrich, Westerwelle habe die Wahl, Genscher oder Haider zu werden, wofür er sich entscheide, sei offen, schlicht an der Realität vorbei. Westerwelle hat seine Wahl bereits getroffen: Im Wissen darum, dass es bei ihm nicht zum Genscher (und auch nicht zum Joschka Fischer) reichen wird, hat er sich für den Weg in den Rechtspopulismus entschieden. Mit seiner Philippika nimmt er jenen Faden wieder auf, den er im Zuge des Möllemann-Skandals (notgedrungen?) fallen lassen musste. Offenbar erscheint ihm nur das Ressentiment von oben erfolgsträchtig genug zu sein, um jene nicht-traditionellen FDP-Wähler der letzten Wahl zu halten, die aus den unteren Lohn- und Einkommensschichten stammen und die FDP als Anwalt ihrer neuen Besitzinteressen gewählt haben.

Womit Westerwelle damit dezidiert bricht, ist die Vorstellung einer Kultur der Neuen Bürgerlichkeit. So entlarvte sich bereits unmittelbar nach der Wahl der angeblich zivile, bürgerliche Liberalismus der neuen geläuterten FDP in Windeseile als alter Klientel- und "Klingelbeutelliberalismus" (Franz Josef Strauß) - mit nach wie vor mächtigem Beutel, wie die ungebrochene Spenden-Tradition, von Flick bis Mövenpick, belegt.


Die Zeit drängt zu Schwarz-Grün

Die Neue Bürgerlichkeit ist somit nach wie vor nicht Regierung gewordenes Projekt, sondern sie bleibt Projektionsfläche. Hierin aber liegen - ironischerweise - gerade deren Stärken: Denn damit bedeutet Schwarz-Gelb nicht das Ende der Idee einer Neuen Bürgerlichkeit. Diese verweist vielmehr bereits heute auf die Zeit nach Schwarz-Gelb; sie bleibt als unerfülltes Projekt erhalten und wirksam.

Gleichzeitig ist damit der Besetzungskampf um das positiv besetzte Label der Neuen Bürgerlichkeit neu eröffnet. Dass einzelne Wirtschaftsliberale wie die oben Genannten, aber auch Springers Welt, an der Spitze der stellvertretende Chefredakteur der Welt am Sonntag Ulf Poschardt, ihre Hoffnungen stark auf die FDP fokussieren und deshalb Schwarz-Gelb mit dem Label des Bürgerlichen aufzuwerten trachten, ändert nichts daran, dass die eigentlichen Protagonisten einer Neuen Bürgerlichkeit in einem anderen Lager stehen, nämlich dem schwarz-grünen.

Tatsächlich nahm die Vorstellung einer Neuen Bürgerlichkeit ihren Ausgang bei jungen Liberalkonservativen wie Paul Nolte und Florian Illies - und vor allem im Umfeld der Zeit, die in den letzten Jahren, unter ihrem stellvertretenden Chefredakteur Bernd Ulrich, vom einstigen sozial-liberalen Flaggschiff zum schwarz-grünen Leitorgan mutierte. Bereits Anfang der 90er Jahre hatte Ulrich, damals Mitarbeiter der grünen Bundestagsabgeordneten Antje Volmer, in den Blättern für deutsche und internationale Politik mit dem heutigen Chef der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks eine Zukunft der Grünen nach der "Verflüchtigung von rot-grün" propagiert. Heute vergeht, gerade mit Blick auf die kommenden Wahlen in Nordrhein-Westfalen, kaum eine Woche, in der Ulrich nicht seine Vision eines schwarz-grünen Bündnisses in schillernden Farben ausmalt.

Damit verbindet sich in der Zeit die libertär-elitäre Haltung der "Generation Golf" des Florian Illies, dem heutigen Feuilletonchef, mit der "Generation Reform" des Paul Nolte, regelmäßiger Zeit-Autor und in seinem religiös grundierten Wertkonservatismus dem eines Bernd Ulrich eng verwandt. Diese grün-angehauchte neue Bürgerlichkeit ist keineswegs radikal anti-etatistisch wie die neoliberalen Propagandisten des Welt-Umfeldes, sondern sie setzt auf einen vernünftigen, ausgleichenden Staat, der das Gemeinwohl und vor allem das der Schwächsten im Auge hat. Auf der anderen Seite steht diese Strömung für eine Politik der Zumutungen an jeden Einzelnen - etwa im Sinne klarer Moral- und Verhaltenscodices, wie sie in den Artikeln von Nolte und Ulrich zum Ausdruck kommen. Gegen das während der letzten 20 Jahre dominierende vulgär-neoliberale Denken setzen sie ein neues wertkonservatives, das aber durchaus bürgerlich-elitär konnotiert ist.

Damit werden eben jene beiden Milieus wieder zusammengeführt und versöhnt, die sich im Zuge des Aufstandes der 68er gegen ihre bürgerlichen Väter (und Mütter) einst radikal getrennt hatten. Die Eingeweihten wissen es schon lange: Der eigentliche Hort der Neuen Bürgerlichkeit liegt bei den vormals rebellischen Grünen. Setzten diese früher gegen die Härte des Staates die Unbedingtheit des Protestes, sind sie heute längst zu moderaten Staatsbefürwortern geworden, bei gleichzeitiger Betonung der bürgerlichen Tugenden der Zivilgesellschaft. Die Grünenspitze, insbesondere Renate Künast, geht sogar so weit, die Grünen dezidiert als "Partei des Bürgertums" zu bezeichnen - und lässt keinerlei Zweifel an ihrem Macht- und Regierungswillen auch unter schwarz-grünen Vorzeichen.


Das neue Latte-Macchiato-Bürgertum

Dieses schwarz-grüne Projekt als neue Projektionsfläche verbindet die konservative Sehnsucht nach Kontinuität und Verbindlichkeit mit der progressiven nach Kreativität und Mobilität - und vor allem nach zivilem Ausgleich in der Republik. Dieses, böse gesprochen, gut situierte und weltoffene Latte-Macchiato-Bürgertum - unter Spöttern ist bereits von einem Bionade-Biedermeier die Rede - will vor allem eines: von der vulgären Aggressivität eines Guido Westerwelle, der jetzt mit der Verve eines 68ers die Spießbürger auf die Barrikaden trommelt, ja von konfrontativer Politik insgesamt verschont bleiben.

Dahinter verbirgt sich der Wunsch nach einer moderaten Wohlfühl-Politik, die am liebsten von allem etwas sein möchte: etwas grün in der Nachhaltigkeitsfrage (was sowohl die Umwelt wie den Sozialstaat betrifft), etwas konservativ in den Fragen der Erziehung - und etwas links in den Fragen der Gerechtigkeit. Hätte es des Beweises noch bedurft, dass der real-existierende Parteiliberalismus mit dieser moderaten Bürgerlichkeit nichts zu tun hatte, der Pamphletist Guido Westerwelle hat ihn allzu gerne und bereitwillig erbracht - und damit die Wertkonservativen in der Union ein weiteres Stück in Richtung der Grünen getrieben.

Und dennoch: Die Zeit von Schwarz-Grün ist (noch) nicht gekommen. Keiner weiß das besser als die Kanzlerin, die - anders als die eigentlichen Protagonisten dieses Projektes - mit merklicher Zurückhaltung damit umgeht. Während die Grünen-Spitze, insbesondere Renate Künast, dezidiert von dem "Reiz" von Schwarz-Grün spricht, insistiert Merkel auf Schwarz-Gelb als dem Projekt mit den größten Schnittmengen. Tatsächlich dürfte der Weg bis zur Umsetzung von Schwarz-Grün auf Bundesebene, ungeachtet des künftigen Wahlausgangs in Nordrhein-Westfalen, noch erheblich holpriger sein, als es von seinen eifrigen Befürwortern erhofft wird. Wo die künftigen Stolpersteine liegen, machte bereits der heftige Streit über den Vorstoß von Umweltminister Norbert Röttgen (dem derzeit wohl klarsten schwarz-grünen Protagonisten innerhalb der CDU) deutlich. Auf seinen Vorschlag, schneller aus der Atomkraft auszusteigen, erntete er heftige Proteste aus den eigenen Reihen, insbesondere seitens der CSU.

Das aber bedeutet: Das schwarz-grüne Projekt der neuen Bürgerlichkeit bleibt vorerst weiter unabgegolten. Als wirksame Projektionsfläche verfügt es über enorme Ausstrahlungskraft in alle Medien, wie die ständigen Koalitions-Spekulationen belegen. Diesem Projekt und seiner Projektion hat die bundesrepublikanische Linke gegenwärtig weder strategisch noch konzeptionell etwas entgegenzusetzen - und darin liegt ihre vielleicht größte Schwäche.


Albrecht von Lucke (* 1967) ist Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik (www.blaetter.de) in Berlin. 2008 erschien 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht; 2009 Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin, beide bei Wagenbach.
albrechtvonlucke@blaetter.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010, S. 24-27
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2010