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DISKURS/105: Rushhour-Generation - Keine Zeit für politisches Engagement (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015

Keine Zeit für politisches Engagement?
Warum die Rushhour-Generation in der Politik fehlt

Von Jana Belschner und Katharina Schiederig


Durch starke Konzentration im deutschen Lebenslaufmuster sind durch späten Berufseinstieg nach langer Ausbildung wichtige Karriereschritte und eine mögliche Familiengründung in einem engen Zeitfenster zu bewältigen. Zusätzlich Zeit zu finden für ein zuvor verfolgtes oder neu entdecktes politisches Engagement in Parteien und politischen Gremien und vielleicht sogar politisch aufzusteigen - das fällt vielen schwer.

Die schwache Repräsentation der Rushhour-Generation zeigen die Zahlen: Das Durchschnittsalter in den politischen Parteien steigt seit 1999 kontinuierlich an und liegt mittlerweile bei 59 Jahren. In den Volksparteien CDU, CSU und SPD sowie bei der LINKEN sind nur rund 12 % der Mitglieder zwischen 25 und 39 Jahre alt und damit auch im Verhältnis zu ihrem durch die Demografie bedingt ohnehin geringen Anteil von 18 % an der deutschen Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert. Lediglich bei der FDP (21%) und den GRÜNEN (24 %) stellt die Rushhour-Generation einen signifikanten Teil der Mitglieder.

Interessanterweise liegt der Anteil der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die zwischen 25 und 39 Jahre alt sind, leicht über ihrem Anteil an den Parteimitgliedschaften, nämlich sowohl bei weiblichen wie männlichen Abgeordneten bei ca. 14,5 %. Das zeigt: Wer sich in der Rushhour des Lebens für eine Karriere im politischen Hauptamt auf Bundes- oder Landesebene entscheidet, setzt andere Prioritäten und hat vielleicht ein geringeres Zeitproblem als diejenigen, die Politik ehrenamtlich zusätzlich zu Beruf und privaten Verantwortungen ausüben.

Entsprechend fehlt die mittlere Generation in der durch zeitaufwendiges ehrenamtliches Engagement geprägten Kommunalpolitik sowohl im Ehren- als auch im Hauptamt. In der repräsentativen Erhebung der EAF Berlin Engagiert vor Ort. Wege und Erfahrungen von Kommunalpolitikerinnen von Uta Kletzing und Helga Lukoschat gibt nur etwa jede zehnte ehrenamtliche Mandatsträgerin an, unter 40 Jahre alt zu sein. Den kommunalpolitischen Hauptämtern - Landrats- und Bürgermeisterpositionen - geht ein oft langjähriges ehrenamtliches Engagement voraus. Bürgermeister/innen gehören daher am seltensten der Rushhour-Generation an: Nur 6 % von ihnen sind unter 40 Jahre alt.

Welche Gründe gibt es für das schwache politische Engagement in der Lebensmitte? Vordergründig ist die Antwort einfach: keine Zeit. Zwischen intensiver Berufstätigkeit und Fürsorgearbeit bleibt kaum Zeit für lange Gremiensitzungen und abendliches Netzwerken. Doch durch das Zeitproblem spitzt sich in der Lebensmitte vor allem die Wahl der Prioritäten zu. Die Entscheidung für oder gegen ein politisches Engagement wird getroffen in einem Spannungsfeld des "Nicht Wollens" aufgrund anderer (Zeitverwendungs-)Werte, Politikverdrossenheit, der mangelnden Attraktivität von Politik als Engagement oder Beruf sowie des "Nicht Könnens" aufgrund zeitlicher Verpflichtungen und struktureller Barrieren im politischen Raum.

Gravierend ist das Fehlen der mittleren Generation insbesondere im parteipolitischen, in der Regel ehrenamtlichen Engagement. Das oben beschriebene Zeitproblem der 25- bis 39-Jährigen wirkt hier besonders stark, da ehrenamtliche Politik immer noch grundlegend auf Verfügbarkeit und Anwesenheit der Engagierten basiert. Sitzungen finden meist am frühen Abend statt, zu einer Zeit, wenn Berufstätige oft noch arbeiten, oder aber rare Familienzeit für ihr Engagement opfern müssten. Zusätzlich erschwerend wirkt die Tatsache, dass die Sitzungen und Treffen meist kein verbindliches Ende haben, sondern in informelle Strukturen ("noch auf ein Bier") übergehen. Diese Anwesenheitskultur steht auch im Widerspruch zu den wachsenden Mobilitätsanforderungen der Arbeitswelt, die regelmäßige Parteitermine erschwert.

Neue Medien und online-basierte Beteiligungsmöglichkeiten, die die Verfügbarkeitsproblematik entschärfen könnten, werden nur marginal genutzt. Und es gilt das Senioritätsprinzip - jüngere Parteimitglieder haben häufig den Eindruck, dass ihre Perspektiven und Erfahrungen von der Überzahl älterer Mitglieder übertönt werden.

Ganz oder gar nicht

Das Dilemma, vor dem junge Erwachsene in Parteien heute stehen, lässt sich zusammenfassen als "ganz oder gar nicht": Entweder sie ordnen private Zeit rigoros dem politischen Engagement unter, oder sie lassen es bleiben, da sie durch Abstriche bei Anwesenheit und Verfügbarkeit schlechte Chancen haben, innerhalb ihrer Partei Einfluss zu nehmen und politische Ämter zu übernehmen. Durch die extreme Ungewissheit bezüglich eines "Return on Investment" der Ochsentour auf dem Weg zur politischen Karriere bleibt am Ende das Engagement auf der Strecke.

Für politisch Engagierte unter 40 ist es daher rational, ehrenamtliches Engagement zielgerichtet in eine hauptamtliche, politische Karriere münden zu lassen, damit aus der Dreifach- möglichst eine Zweifachbelastung wird, wenn Ehrenamt und Beruf zusammenfallen. Durch lange Aufstiegswege innerhalb der politischen Parteien und einen hohen Investitionsbedarf an Zeit und Energie wird Politik als Beruf insbesondere für junge Menschen jedoch immer unattraktiver.

Exemplarisch lässt sich dies in der Kommunalpolitik nachvollziehen. Die Übernahme eines ehrenamtlichen Mandats im örtlichen Stadt- oder Gemeinderat wird nicht selten als "Sprungbrett" in die hauptamtliche Kommunalpolitik, aber auch auf höhere politische Ebenen genutzt. Jedoch sind die fünf- bis siebenjährigen Wahlperioden ein "Spagat hoch drei", wie es in der Studie Engagiert vor Ort beschrieben wird. Die hohen zeitlichen Anforderungen eines ehrenamtlichen politischen Engagements verschärfen sich durch das Mandat und können eigentlich nur gemeistert werden, wenn nicht gleichzeitig eine Vollzeiterwerbstätigkeit und Sorgeverpflichtungen wahrgenommen werden. Die nahezu vollständige Abwesenheit der beschäftigten Generation in kommunalpolitischen Mandaten und Ämtern überrascht daher wenig.

Diejenigen, die sich dennoch politisch engagieren, verfügen über ein gutes Netzwerk zur Unterstützung und eine besonders hohe Motivation. Wie die Studie Engagiert vor Ort zeigt, werden die Grundlagen für bürgerschaftliches Engagement bereits früh gelegt. Das Engagement kann im Lebens-Verlauf immer wieder unterschiedliche Formen annehmen und sich auf wechselnde, zur Lebenssituation passende Felder konzentrieren. Dies wirkt sich in unterschiedlicher Weise für Frauen und Männer aus. Denn wie die Daten des Freiwilligensurvey 2009 zeigen, verlagert sich das Engagement in der Rushhour: Es findet weniger innerhalb teils starrer Parteistrukturen und mehr unmittelbar vor Ort, in Verbindung mit Kita, Schule oder Sportverein statt, wo es sich organischer mit familiären Verpflichtungen verbinden lässt.

Dies ist besonders bei Frauen der Fall. Darin spiegelt sich die traditionelle gesellschaftliche Arbeitsteilung. Gleichzeitig sind Frauen in allen Altersgruppen etwas weniger häufig freiwillig engagiert als Männer, und besonders deutlich Frauen mit Kindern unter zwei Jahren (Informationsdienst Altersfragen 3/2012). Dies weist darauf hin, dass die weiterhin bestehende geschlechterspezifische Arbeitsteilung und die zeitliche Belastung durch Reproduktionsarbeit Frauen von ehrenamtlichen Aktivitäten abhalten. In dieser Phase stellt sich nicht nur die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch noch der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und freiwilligem Engagement mit Nachdruck und Frauen werden vom politischen Druck nach Verfügbarkeit besonders getroffen.

Neben dem Vereinbarkeitsproblem wirken sich männlich dominierte Netzwerke in den Parteien negativ aus. Sie prägen Themen und Arbeitskulturen, bestimmen aber auch, wer Funktionen und Mandate übernimmt. So zeigt der Freiwilligensurvey, dass Männer einen deutlichen Vorsprung vor Frauen bei Wahlämtern und Leitungsfunktionen innehaben und diese Geschlechterdifferenz in den letzten Jahren sogar wächst.

Für Frauen wirkt damit ein doppelter Bias in der Rushhour: Zwar sind die prozentualen Anteile der Jüngeren in politischen Hauptämtern ähnlich gering, doch ist die absolute Anzahl der Männer weiterhin wesentlich höher, und die ungleiche Verteilung der Care-Arbeit gibt ihnen Zeit, auch in der Rushhour an der Ochsentour zu arbeiten, die sie anschließend nach oben bringt. Vor diesem Hintergrund stellt sich eine entscheidende Frage: Wie repräsentativ ist Politik, wenn eine ganze Generation (und hier besonders die Frauen) unterrepräsentiert ist? Dies ist aus demokratietheoretischer und praktischer Sicht problematisch, da ihre Interessen damit zu schwach vertreten und in die politischen Entscheidungsprozesse eingespeist werden.

Eine "Zeitelite" von zeitlich und finanziell flexiblen Älteren kann sich demgegenüber stärker engagieren. Repräsentiert wird die jüngere Alterskohorte durch eine weitere "Zeitelite": Eine bestimmte Untergruppe, die in Beruf oder Familie entsprechende Freiheiten oder Unterstützung hat und zumindest nicht beide Bereiche und intensives ehrenamtliches Engagement verbinden muss. Was also tun, um die Rushhour-Generation breiter in politische Aktivitäten einzubinden?

Wir brauchen einen lebensphasenorientierten Ansatz, der die unterschiedlichen Möglichkeiten und Interessen für Engagement zu verschiedenen Zeitpunkten in den Blick nimmt und immer wieder Gelegenheiten für den politischen Einstieg schafft. Dieser müsste folgende Aspekte beinhalten:

1. Partnerschaftliches Leben und Arbeiten fördern, um insbesondere Frauen, aber auch jungen Männern Raum für die Vereinbarkeit von Engagement, Familie und Beruf zu geben. Das Elterngeld Plus und Überlegungen für reduzierte Arbeitszeiten in der Rushhour weisen in die richtige Richtung. Gleichzeitig braucht es eine Entzerrung der Rushhour durch Neustrukturierung der Studienorganisation mit abgestuften Ausbildungen und neue Möglichkeiten, Familiengründung und Studium zu verknüpfen.

2. Öffnung von politischen Gremien, um Verfügbarkeitsansprüche zu reduzieren. Dazu zählen eine klare zeitliche Begrenzung von Sitzungen, ein begleitendes Angebot von Kinderbetreuung, alternative Zeitkorridore oder auch die Nutzung von Telefon- und Videokonferenzen.

3. Das frühe Grundlagen legen, um junge Menschen bereits vor der Rushhour für Politik zu begeistern. Auch unter den Jugendlichen ist nach wie vor nur ein kleiner Anteil politisch engagiert - und besonders wenig Mädchen. Hier gilt es, mit Nachwuchsförderprogrammen (z.B. Mentoring) anzusetzen, um die Grundlagen für weiteres Engagement im Lebensverlauf zu legen.

4. "Späte Karrieren" in der Politik ermöglichen. In einer Lebensverlaufsperspektive muss es möglich sein, dass politisches Engagement im Lebensverlauf immer wieder unterschiedliche Formen annimmt. In einem Kompetenz- statt Biografie-Ansatz sollte das Senioritätsprinzip infrage gestellt werden, um sowohl jüngere wie ältere Frauen und Männer zu politischem Engagement zu ermutigen.


Jana Belschner ist Co-Autorin der EAF-Studie Frauen führen Kommunen und forscht über die politische Partizipation von Frauen.
belschner.jana@gmail.com

Katharina Schiederig berät als Senior Expertin in der EAF Berlin Unternehmen und Wissenschaft zu Chancengleichheit.
schiederig@eaf-berlin.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2015, S. 42 - 45
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
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Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2015

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