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DISKURS/110: Ein neues Einwanderungsrecht - wozu? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2015

Flucht. Letzter Ausweg
Ein neues Einwanderungsrecht - wozu?

Von Marcel Berlinghoff


Das deutsche Migrationsrecht besteht aus einer Vielzahl an Gesetzen, Verordnungen sowie Durchführungsbestimmungen und ist in seiner Gesamtheit selbst für Fachleute nicht einfach zu überblicken. Föderale Divergenzen sowie übergreifende europäische Richtlinien und internationale Konventionen erschweren die Übersicht. Auch unterschiedliche Perspektiven darauf, was ein solches Recht eigentlich genau regeln soll und kann, sowie die dahinterstehenden (häufig aber auch thematisch fremden) widerstreitenden Interessen sind wichtige Gründe für diese Verwirrung. Politische und institutionelle Beharrungskräfte, die dem gesellschaftlichen Wandel hinterherhinken und das Fortwirken tradierter Diskussions- und Entscheidungsmuster überschneiden sich mit neueren Entwicklungen. Hinzu kommt die Allgegenwart des Phänomens Migration, das sämtliche gesellschaftliche Teilbereiche berührt und somit nicht allein aufenthalts- und sicherheitsrechtliche, sondern auch sozial- und wirtschaftsrechtliche Aspekte berührt. Migrations- oder Einwanderungsrecht umfasst also nicht nur Fragen des Zugangs zum staatlichen Territorium, sondern auch der gesellschaftlichen Teilhabe.

Wenn aber dieses Migrations- bzw. Einwanderungsrecht schon von Fachleuten nicht einfach zu durchschauen ist, wie sollen erst (potenzielle) Einwanderinnen und Einwanderer damit zurechtkommen? Intransparente Vorgaben und Entscheidungsfreiheiten der durchführenden Institutionen vermitteln den Eindruck schwer greif- und durchschaubarer rechtlicher Regelungen. Die weit verbreitete Unkenntnis einwanderungsrechtlicher Grundlagen führt zudem migrations- und gesellschaftspolitische Debatten häufig ins Abseits. Übersicht tut also Not und der Blick zurück mag bei der Frage nach dem Reformbedarf des bundesdeutschen Einwanderungsrechts helfen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft war auch ohne dezidiertes Einwanderungsrecht von Beginn an reich an Migrationserfahrungen. Während elf Millionen Kriegsgefangene, Deportierte und Zwangsarbeiter das Land verließen, kamen 12-14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemals deutschen Staats- oder Siedlungsgebieten im Osten Europas neu in ein Land, das mit etwa 30 Millionen Ausgebombten, Evakuierten und Kriegsheimkehrern bereits "in Bewegung" war.

Vom Ausländer- zum Zuwanderungsgesetz

Die Gesellschaften beider deutschen Staaten machten ungeahnte Migrations- und Fremdheitserfahrungen, obwohl die überwiegende Mehrzahl der Zuwanderer die deutsche Staatsangehörigkeit hatte oder zuerkannt bekam - ein wichtiger Schritt in Richtung der gesellschaftlichen Teilhabe dieser Neubürger. Zwar wurden sie von der einheimischen Bevölkerung häufig dennoch als Fremde ausgegrenzt, doch wurde ihre gesellschaftliche Integration politisch und rechtlich gefördert. Streng genommen ist also bereits das bundesdeutsche Lastenausgleichsgesetz von 1952 als Mittel der Integrationsförderung ein Teil des Einwanderungsrechts.

Aus der damaligen Perspektive jedoch bezog sich die rechtliche Rahmung von Migration explizit auf die Mobilität von Ausländern. Wie in anderen als eher randständig eingeschätzten Rechtsfeldern auch, wurde in der jungen Bundesrepublik auf Vorkriegsregelungen zurückgegriffen, in diesem Fall auf die Ausländerpolizeiverordnung von 1938. Erst 1965 wurde ein eigenes bundesdeutsches Ausländergesetz erlassen, das den grundsätzlich genehmigungspflichtigen Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik mithilfe unterschiedlich befristeter rechtlicher Status regelte. Die Umsetzung des Gesetzes wurde in teils intransparenten Durchführungsbestimmungen auf Länderebene geregelt. Hierzu hatten sich die Innenminister auf geheim gehaltene "Grundsätze" geeinigt, die insbesondere die Zulassung von Ausländern"aus dem befreundeten westlichen Ausland", die grundsätzliche Abweisung von anderen "Außereuropäern" sowie den politisch bestimmten Umgang mit Migranten aus dem "Ostblock" betrafen. Ziel des Ausländergesetzes war es, die Einwanderung von Ausländern zu verhindern, sofern diese nicht im Interesse der Bundesrepublik lag. Schließlich, so war man sich in den 60er Jahren einig, sei die Bundesrepublik kein Einwanderungsland.

Daran änderte auch die zur gleichen Zeit durch bilaterale Anwerbeabkommen gerahmte und im Arbeitsrecht verankerte Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wenig, war diese doch auf temporäre Migration und nicht auf dauerhafte Niederlassung ausgelegt. Schon in den frühen 70er Jahren stießen hier jedoch unterschiedliche Interessen aufeinander, denn mit fortschreitendem Aufenthalt erhielten auch die sogenannten "Gastarbeiter" einen Rechtsanspruch auf sichere(re)n Aufenthalt - für einzelne Bundesländer damals ein Grund, Menschen vor Erreichen dieser Fristen auszuweisen. Die ungewollte Einwanderung war letztlich auch der Hauptgrund für den Anwerbestopp von 1973, der den legalen Zuzug von "Außereuropäern" zur Arbeitsaufnahme weitgehend sperrte und damit das Migrationsrecht der folgenden drei Jahrzehnte prägte.

In entgegengesetzte Richtung entwickelte sich das europäische Migrationsrecht des damals noch auf den westlichen Teil des Kontinents beschränkten vereinten Europas. Der fortschreitende Ausbau der Arbeitnehmerfreizügigkeit (später auch für alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union) machte Deutschland "sogar [zu] mehr als ein[em] Einwanderungsland", wie es der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher Anfang 1973 umschrieb: Die Steuerungsmöglichkeit und der Kontrollanspruch gegenüber Ausländern aus den Mitgliedstaaten der EU nahm stetig ab, so dass sich jene bald vorrangig auf sogenannte Drittstaatler beschränkte.

Während sich das zunehmend liberale Einwanderungsrecht gegenüber EG/EU-Europäern in das positiv besetzte Narrativ eines grenzenlosen Europas (bis hin zur Selbstbeschreibung als "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts") fügte, wurde das eigentlich ebenfalls positiv konnotierte, da menschenrechtlich begründete, Flüchtlingsrecht Gegenstand immer schärfer werdender politischer wie rechtlicher Auseinandersetzungen. Zwar war der Schutz vor Verfolgung wie er in Artikel 16 des Grundgesetzes, der Europäischen Menschenrechts- oder der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegt wurde, eigentlich nicht Teil des Einwanderungsrechts. Mit dem Anstieg der Fluchtbewegungen seit den späten 70er Jahren bei gleichzeitiger Schließung der möglichen Wege für legale Migration geriet es aber einerseits in den Sog migrationspolitischer Debatten und wurde andererseits zum Tor für Migration, die auf anderem Wege legal nicht möglich war. Die gesamten 80er Jahre hindurch waren Verschärfungen des Asyl- und des Ausländerrechts bundespolitische Dauerthemen, was zu verhärteten Fronten, gesellschaftlichen Friktionen und integrationspolitischen Blockaden führte.

Die frühen 90er Jahre erlebten dann zwar weitreichende Reformen - von der Neuregelung des Ausländergesetzes (1990), über die weitgehende Einschränkung des Asylrechts und die Beschränkung der Aussiedlerzuwanderung (1993) bis hin zur Umsetzung der europarechtlichen Migrationsbestimmungen nach dem Schengener Abkommen (1995). Einen grundsätzlichen Richtungswandel der gesellschafts- und migrationspolitischen Debatte und infolgedessen auch des Einwanderungsrechts brachte erst der Regierungswechsel 1998 und die Einsetzung der Süssmuth-Kommission 2000, die Empfehlungen für ein neues Einwanderungsrecht geben sollte. In kleinen Schritten wurde die Realität eines Einwanderungslandes anerkannt (etwa durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes) und eine Anpassung des Migrationsrechts daran versucht.

Zwar war das 2005 verabschiedete neue Einwanderungsrecht noch ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz (Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern), doch hat sich das deutsche Einwanderungsrecht seitdem in vielen Einzelschritten zu einem der offensten der OECD entwickelt. Es entfernt sich damit immer weiter von der Migrationsverhinderungslogik des alten Ausländergesetzes. Hierfür sind besonders wirtschaftliche aber auch gesellschaftspolitische Erwägungen verantwortlich. So werden etwa der durch den demografischen Wandel erwartete Mangel an Fachkräften und eine im internationalen Wettbewerb stehende Wirtschaftsnation als Gründe für eine notwendige weitere Öffnung des Migrationsrechtes vorgebracht.

Demgegenüber wird, nach zwischenzeitlicher Öffnung in den letzten Jahren, das deutsche Flüchtlingsrecht seit einigen Wochen wieder restriktiver geregelt und zwar nicht, weil das international verbriefte Recht auf Schutz grundsätzlich infrage gestellt würde, sondern weil die vermeintliche Aufnahmekapazität und Integrationsfähigkeit gefährdet seien - Kategorien, die dem Flüchtlingsrecht fremd sind und den Debatten vor dem Anwerbestopp gleichen.

Wenn nun also, auch vor dem Hintergrund der hohen Flüchtlingszahlen, von verschiedenen Seiten ein neues Einwanderungsrecht gefordert wird, so ist zunächst zu fragen, warum es das bisherige, sich stetig weiterentwickelnde, nicht auch tut. Die eingangs skizzierte Unübersichtlichkeit - für Fachleute, Migrantinnen und Migranten, vor allem aber auch für alle, die in diesem Land leben - ist sicherlich ein guter Reformgrund. Ein in seinen Zielen klares und seinen Mitteln transparentes Einwanderungsrecht könnte helfen, auf Nichtwissen und Unsicherheiten basierende Ängste und Ablehnung aufzulösen.

Hierzu ist aber eine offene Debatte darüber notwendig, was ein solches neues Einwanderungsrecht leisten soll und kann. Soll das Einwanderungsrecht Migration fördern oder verhindern? Geht es um die gesellschaftliche Inklusion Benachteiligter mit Einwanderungsgeschichte? Oder um den erleichterten - und attraktiven - Zugang für Neuzuwanderer? Wie sollen wirtschaftliche, außen- und sicherheitspolitische Interessen abgewogen werden? Und wollen wir wirklich ein auf Diskriminierung aufbauendes Migrationsrecht, das die nationale Herkunft höher stellt als den Gleichheitsgrundsatz?

Eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten des Migrationsrechts im Rahmen verfassungsrechtlicher Grundsätze und völkerrechtlicher Regeln, die die historische Erfahrung und gegenwärtige Realität des Migrations- und Einwanderungslandes Deutschland reflektiert, kann bei der Erarbeitung von Anforderungen und Zielen einer solchen Reform helfen. Dabei werden lange gehegte Vorstellungen, wie etwa die einer weitgehend ethnisch homogenen Nation oder die der vollständigen Steuerbarkeit von Migration aufgegeben werden müssen. Auch sind monothematische Diskursstränge wie etwa die Förderung nur wirtschaftlich nützlicher Migration oder sicherheitsfokussierte Perspektiven aufzubrechen und mit den demokratischen Grundlagen dieses Landes abzugleichen. Und schließlich müssen endlich legale Zuzugsmöglichkeiten von außerhalb Europas eröffnet werden, um die häufig lebensgefährliche irreguläre Migration zu vermindern und das Flüchtlingsrecht wieder seinem eigentlichen Zweck zukommen zu lassen.

Ob dies der richtige Zeitpunkt für eine solche Reformdebatte ist, ist nicht einfach zu beantworten. Einerseits ist eine Politik im Zeichen der Brandsätze selten ausgewogen und der vorherrschende Alarmismus ließe keine reflektierte Debatte erwarten. Andererseits ist das deutsche Einwanderungsrecht (auch in seinen internationalen Bezügen) selbst in Bewegung und das Aufeinanderprallen von Flüchtlingsschutz, Migrationskontrolle und der Förderung gesellschaftlicher Teilhabe lässt grundsätzliche Fragen des Einwanderungsrechts aufscheinen.

Schließlich könnte eine Debatte über die Ziele des deutschen Migrations- und Einwanderungsrechts auch zu einem besseren Selbstverständnis dieser Gesellschaft führen. Wenn darüber hinaus aus einer solchen Debatte ein Einwanderungsrecht entstünde, das verständliche und verlässliche Regeln und Grundsätze auf- und sicherstellen würde, wäre ein weiterer großer und notwendiger Schritt getan.


Marcel Berlinghoff ist Historiker und Mitglied am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück Derzeit koordiniert er das DFG-Netzwerk "Grundlagen der Flüchtlingsforschung".
Marcel.Berlinghoff@uos.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2015, S. 38 - 41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2016

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