Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


DISKURS/111: Flucht- und Flüchtlingsschutz - Globale Trends (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1/2016

Flucht. Letzter Ausweg
Flucht und Flüchtlingsschutz: Globale Trends

Von Ulrike Krause


Die aktuellen Debatten über Flüchtlinge in Deutschland erwecken den Anschein, als befände sich die überwiegende Mehrzahl aller Flüchtlinge in Deutschland und Europa. Doch welche globalen Entwicklungen lassen sich tatsächlich nachzeichnen? Unter dem Titel »World at War« betont UNHCR in dem Global Trends-Bericht von 2014, dass weltweit die meisten aktuellen Flüchtlingssituationen auf gewaltsame Konflikte und Kriege zurückzuführen sind. Während UNHCR in den 50er Jahren Lösungen für mehrere Hunderttausend Flüchtlinge in Europa und vereinzelten außereuropäischen Krisen suchte, sind die aktuellen Trends in der Zwangsmigration verheerend und äußern sich in einem weltweiten Anstieg von Fluchtbewegungen innerhalb von Staaten sowie über Landesgrenzen hinweg.

Laut UNHCR gab es Ende 2014 59,5 Millionen Zwangsmigrant/innen, wozu 38,2 Millionen Binnenvertriebene, 19,5 Millionen Flüchtlinge und 1,8 Millionen Asylsuchende zählen. Die Unterscheidung dieser Personengruppen bezieht sich darauf, dass Binnenvertriebene innerhalb ihres Heimatlandes und Flüchtlinge über Landesgrenzen hinweg fliehen, wobei der Status der Asylsuchenden noch nicht determiniert wurde. Darüber hinaus betont UNHCR, dass es 2014 weltweit ca. 10 Millionen Staatenlose gab. Das sind insgesamt knapp 70 Millionen Menschen, wobei jene Zwangsmigrant/innen nicht eingerechnet sind, die in keine der genannten Kategorien passen, so zum Beispiel klima- und umweltbedingte Zwangsmigrant/innen.

Mit Blick auf die Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Asylsuchenden zeigt sich ein globaler Anstieg von 2013 nach 2014 um 16,21 %. Der wachsende Trend wird mit einer weitläufigeren Zeitspanne noch deutlicher: 2006 gab es weltweit ca. 37,2 Millionen Zwangsmigrantinnen und -migranten, sodass ein Anstieg von 2006 auf 2014 um knapp 60 % zu verzeichnen ist. Während 2012 noch durchschnittlich 23.000 Menschen pro Tag flohen, waren es 2013 bereits ca. 32.200 Menschen und 2014 im Durchschnitt täglich 42.500 Menschen.

Im Jahr 2014 waren 51% aller Flüchtlinge unter 18 Jahren. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge (53 %), die über Landesgrenzen hinweg flohen, kamen aus drei Ländern: Syrien mit 3,88 Millionen, Afghanistan (2,59 Millionen) und Somalia (1,11 Millionen). Dabei sei angefügt, dass die Zahl der syrischen Flüchtlinge bis September 2015 bereits auf über 4 Millionen gestiegen ist, und es ca. 7,6 Millionen syrische Binnenvertriebene gibt. Entgegen vielfältiger Annahmen durch Politik und Medien in Europa bleibt die überwiegende Mehrzahl der Flüchtlinge in ihrer Herkunftsregion, denn sie fliehen vornehmlich in Nachbarländer. Daher befanden sich beispielsweise die meisten syrischen Flüchtlinge im Libanon, in der Türkei und in Jordanien, die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan und im Iran, sowie die südsudanesischen und kongolesischen Flüchtlinge in Uganda. Insgesamt waren 12,4 Millionen bzw. 86 % aller Flüchtlinge in Entwicklungsländern des globalen Südens fernab von europäischen Ländern, wobei sich 3,6 Millionen bzw. 25 % in den am wenigsten entwickelten Ländern aufhielten.

Im Vergleich zu den globalen Trends ist hervorzuheben, dass 2014 lediglich 219.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa kamen. In der ersten Jahreshälfte 2015 stieg die Zahl der Erst- und Folgeanträge von Asylsuchenden in Europa auf 398.895 (Eurostat). Hier ist allerdings zu beachten, dass diese Zahl nicht für die Einzelpersonen, sondern für die Zahl der Asylanträge steht und Personen auch einen Folgeantrag einreichen können.

Nicht nur die Anzahl fliehender Personen, sondern auch die Dauer von Flüchtlingssituationen steigt zunehmend an, weil die internationale Gemeinschaft keine dauerhafte Lösung für die Personen finden und umsetzen kann. Langzeitsituationen (protracted refugee situations) nehmen zu, welche UNHCR als solche definiert, »bei denen 25.000 oder mehr Flüchtlinge derselben Nationalität seit fünf oder mehr Jahren in einem bestimmten Asylland im Exil leben«. 2014 waren laut UNHCR 6,4 Millionen Flüchtlinge in 33 solcher Situationen in 26 Ländern gefangen. Während die durchschnittliche Dauer dieser Situationen auf 20 Jahre geschätzt wird, hielten 12 seit mehr als 30 Jahren und weitere 12 zwischen 20 und 29 Jahren an. Alle dieser Langzeitsituationen mit Ausnahme von Serbien und Kosovo befinden sich in Afrika, Asien und Südamerika.

Die weltweite Zunahme an Zwangsmigrant/innen sowie die Dauer der Situationen lässt sich vor allem auch auf die Herausforderungen in der Lösungsfindung zurückführen. Die politisch präferierte Lösung ist die freiwillige Rückführung von Flüchtlingen in die Herkunftsländer, wobei die lokale Integration in Asylländern sowie die Umsiedlung in sichere Drittstaaten vergleichsweise wenig Beachtung findet. Jedoch war es der internationalen Gemeinschaft im Jahr 2014 insgesamt nur selten möglich, eine Lösung umzusetzen. Von 14,4 Millionen Flüchtlingen weltweit konnten laut UNHCR lediglich 126.800 in ihre Heimatländern zurückgeführt, 103.800 durch Drittstaaten umgesiedelt und 32.100 lokal integriert werden.

Mit Blick auf die globalen Trends zeigt sich, dass die hauptsächlichen Fluchtgründe gewaltsame Konflikte und Kriege sind. Daraus ergibt sich, dass es nicht ausreicht, Flüchtlinge und andere Zwangsmigrant/innen im Exil zu schützen und zu unterstützen. Vielmehr besteht die Notwendigkeit, dass die internationale Gemeinschaft der Staaten sowie Hilfsorganisationen frühzeitig auf unterschiedlichen Wegen die Fluchtursachen behandeln. Dies bezieht sich nicht auf militärische Interventionen, sondern vielmehr auf frühzeitige präventive Arbeit und auf diplomatische und friedensfördernde Aktivitäten.

Zudem zeigen sich global zwei Situationen: einerseits humanitäre Notsituationen sowie andererseits Langzeitsituationen. Der Flüchtlingsschutz gilt grundsätzlich als Übergangslösung, bis eine der drei dauerhaften Lösungen umgesetzt werden kann. Auf der Grundlage dessen hat der Flüchtlingsschutz eine auf humanitäre Not- und Soforthilfe ausgerichtete Arbeit, wodurch die grundlegenden Bedürfnisse der Flüchtlinge umgehend abgedeckt werden können oder sollen. Dies erweist sich als notwendig und wichtig in den humanitären Situationen, wobei dieser Ansatz auf Grundbedürfnisse für die Langzeitsituationen nicht ausreicht. Denn die Flüchtlinge leben über viele Jahre bis hin zu Jahrzehnten im Exil und brauchen Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Folglich brauchen die unterschiedlichen Situationen jeweils passende Unterstützungsansätze.

Im Zusammenhang mit den Langzeitsituationen steht auch die Frage, wo Flüchtlinge unterbracht sind und warum die lange Dauer besteht. Zum einen werden Flüchtlinge insbesondere in Entwicklungsländern im globalen Süden häufig in Flüchtlingslagern untergebracht, wo Hilfsorganisationen Projekte zum Schutz und zur Unterstützung der Flüchtlinge umsetzen. Diese Lager sind weltweit sehr ähnlich und erweisen sich als zweckgebundene und vor allem auch begrenzte Räume. Obwohl Maßnahmen für die Flüchtlinge umgesetzt werden, stehen die Restriktionen und Gefahren in der Kritik. Denn Flüchtlinge sind oft abhängig von den Dienstleistungen der Hilfsorganisationen und unterschiedlichen Gefahren und Sicherheitsrisiken ausgesetzt. Zum anderen stellt sich die Frage, wie es grundsätzlich dazu kommen kann, dass Flüchtlinge über viele Jahre im Exil bleiben müssen, und warum die internationale Gemeinschaft für so viele Flüchtlinge keine Lösung finden kann. Im Jahr 2014 wurde lediglich für 262.700 Flüchtlinge eine der drei dauerhaften Lösungen etabliert, was ca. 1,82 % aller Flüchtlinge weltweit entspricht. Diese erschütternd kleine Zahl ist vor allem auf die nicht hinreichende internationale Kooperation von Staaten in der Lösungsfindung zurückzuführen.

Während im Rahmen dieser Zahlen hauptsächlich von den Flüchtlingen gesprochen wird, die über Landesgrenzen hinweg fliehen und nach Schutz suchen, flohen 2014 fast doppelt so viele Menschen - 38,2 Millionen - innerhalb ihrer Heimatländer. Diese Binnenvertriebenen erhalten nicht nur deutlich weniger mediale und politische Aufmerksamkeit, sie werden auch nicht völkerrechtlich geschützt, da sie sich als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Hoheitsgebiet ihres Herkunftslandes aufhalten. Zum Schutz der Binnenvertriebenen gibt es seit 2001 Richtlinien des Office for the Coordination of Huminitarian Affairs (OCHA), die jedoch für die Staaten nicht verbindlich sind.

Darüber hinaus ist die Flüchtlingsdefinition recht eng gefasst und listet bestimmte Gründe auf, die als Verfolgungsgründe anerkannt sind, woraufhin Fliehende den Flüchtlingsstatus erhalten können. Darüber hinaus gibt es aber vielfältige weitere Gründe, warum Menschen fliehen müssen. Dazu gehören vor allem auch Umwelt- und Klimaveränderungen. Es wird geschätzt, dass 2012 32,4 Millionen und 2013 21,9 Millionen Menschen aufgrund umwelt- und klimabedingter Veränderungen nicht in ihrer Heimat leben konnten. Da diese Menschen nicht aufgrund von Verfolgung fliehen, werden sie allerdings bislang nicht völkerrechtlich geschützt. Jedoch sind Fluchtgründe dynamisch und können sich verändern, was auch im Rahmen des Flüchtlingsschutzes integriert werden muss.

Während die mediale Berichterstattung insbesondere seit den Bootsunglücken bei Lampedusa im Jahr 2013 den Anschein erweckt, dass alle Flüchtlinge nach Europa fliehen, zeigt sich vielmehr ein globales Ausmaß von Flucht und Vertreibung. Aktuell sind die meisten fliehenden Menschen Binnenvertriebene, die innerhalb ihrer Heimatländer auf der Flucht sind und nicht völkerrechtlich geschützt werden. Zudem besteht eine globale Verlagerung der Flüchtlinge, die über Landesgrenzen hinweg fliehen: Sie fliehen vornehmlich aus Entwicklungsländern in andere Entwicklungsländer und bleiben somit in ihren Herkunftsregionen, fernab von Europa.

64 Jahre nach der Verabschiedung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 haben 145 Staaten die Konvention und 146 Staaten das Protokoll von 1967 ratifiziert, was Flüchtlingen grundsätzlich weltweiten Schutz und Zugang zu ihren Rechten ermöglicht. Jedoch ist zu hinterfragen, ob die Reichweite und der Schutzansatz des Abkommens für die aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen noch ausreichen, oder ob das Völkerrecht einer Überholung zum besseren Schutz der Flüchtlinge bedarf.

(Dieser Artikel ist im Rahmen des Forschungsprojektes »Genderbeziehungen im begrenzten Raum. Bedingungen, Ausmaß und Formen von sexueller Gewalt an Frauen in kriegsbedingten Flüchtlingslagern« entstanden, das am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg durchgeführt und von der Deutschen Stiftung Friedensforschung finanziert wird, bei der ich mich herzlich bedanke.)


Ulrike Krause ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Seit Juli 2014 ist sie Mitglied des Organisationskreises des Netzwerk Flüchtlingsforschung.
ulrike.krause@staff.uni-marburg.de

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1/2016, S. 22 - 24
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang