Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


DISKURS/121: Links, rechts, quer? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 154/Dezember 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Links, rechts, quer?

Anmerkungen zur politischen Semantik

von Dieter Rucht


Kurz gefasst: Die herkömmlich politische Kategorisierung in "links" und "rechts" hat manchen Beobachtern zufolge an Bedeutung eingebüßt. Teilweise zeichnen sich neue Konfliktlinien und ungewohnte Übereinstimmungen zwischen radikalen Vertretern beider Lager ab. Die aktuellen Versuche zur Bildung einer "Querfront" gehen meist von der Rechten aus und finden wenig Widerhall. Trotz neuer Konfliktlinien hat das Grundmuster rechts/links als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal keineswegs ausgedient.


Die politische Kategorisierung "links" und "rechts" stammt aus der nachrevolutionären Zeit Frankreichs. Sie wird auf die Sitzordnung der Abgeordnetenkammer Frankreichs von 1814, zuweilen auch der Assemblée von 1789 zurückgeführt. Aus der Perspektive des Präsidenten der Kammer saßen auf der rechten Seite die Kräfte, die im Großen und Ganzen für die Erhaltung des Status quo eintraten, während die linke Seite auf dessen Überwindung drängte. Diese "Gesäßgeografie", wie es der FDP-Abgeordnete Erich Mende formulierte, prägt noch heute die Sitzordnung vieler Parlamente.

Aber es geht nicht nur um die räumliche Anordnung von Fraktionen. Links-rechts ist eine von mehreren historisch tief verwurzelten Spaltungslinien (cleavages) europäischer Gesellschaften (neben religiös versus säkular, Stadt versus Land, Zentrum versus Peripherie). Diese Spaltung ist bis heute im Parteiensystem und vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen fest verankert. Es handelt sich, gemäß den Politikwissenschaftlern Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan, um einen "frozen conflict". Dagegen hat die Bedeutung der drei anderen cleavages stark abgenommen.

Die Links-Rechts-Kategorisierung ist auch in der Alltagskommunikation präsent. Wenn Leute gefragt werden, wo sie grundsätzlich politisch stehen, würden viele sich dieses Schemas bedienen. Der Links-Rechts-Code dient der Komplexitätsreduktion; man muss nicht lange und umständliche Erklärungen zu vielen Einzelthemen abgeben, um sich oder andere grob zu positionieren.

Wie in der Wissenschaft die politische Zuordnung von links und rechts interpretiert wird, mag nicht immer deckungsgleich sein mit dem, was der Querschnitt der Bevölkerung darunter versteht. Schon vor Jahrzehnten hat die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann eine kleine Liste linker und rechter Werte aufgestellt, die aufgrund von Befragungen der Bevölkerung zustande kam. Diese Liste ist sicherlich in Teilen zeitgebunden, in Teilen sogar äußert fragwürdig, wenn etwa die Spontaneität der Linken, die Planung dagegen der Rechten zugeordnet wird. Die generelle Unschärfe der Begriffe spiegelt sich zudem bei einzelnen Werten, die der Konkretisierung von links und rechts dienen sollen.

 Linke und rechte Werte nach Noelle-Neumann 
Linke Werte
Rechte Werte
Gleichheit
Gerechtigkeit
menschliche Nähe
Formlosigkeit (Duzen)
Spontaneität

Internationalismus
Kosmopolitismus
Unterschiedsbetonung
Autorität
menschliche Distanz
Umgangsformen (Siezen)
Disziplin
Planung
Nationalisierung
Nationalismus

Es gab immer wieder Anläufe, dieses Schema infrage zu stellen, in neuen politischen Formationen aufzuheben oder ganz hinter sich zu lassen. Erinnert sei nur an den Agrarpopulismus des späten 19. und 20. Jahrhunderts oder Teile der faschistischen Bewegungen. Von diesen stammt auch der in der Weimarer Republik verbreitete Begriff der "Querfront"; andererseits erfolgten auch scharfe Abgrenzungen, wie sie etwa in der Parole "Rotfront verrecke" zum Ausdruck kamen. Die NPD und andere Neonazi-Gruppen fordern gelegentlich einen Brückenschlag zwischen rechts und links, um es "denen da oben" zu zeigen, wie der frühere Bundesvorsitzende der NPD Udo Voigt sagte. Auch Teile der Sozialdemokratie mit ihren Proklamationen eines "Dritten Wegs" (Tony Blair und Gerhard Schröder) sowie die Grünen in ihrer Frühphase in Deutschland ("weder links noch rechts") und Frankreich ("ni droite - ni gauche") versuchten diesen Gegensatz zu überwinden. Vor Kurzem hat der derzeitige französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron die Bewegung "En marche" (Los geht's) ins Leben gerufen und gemeint, dass diese weder rechts noch links zu verorten sei.

Um eine vermutete oder behauptete Erosion des Links-Rechts-Schemas zu erklären, werden zwei grundlegende Argumentationslinien vorgetragen. Erstens: Wir haben es mit einem langfristigen Prozess der Entpolarisierung beziehungsweise Entideologisierung zu tun. Es gibt, bezogen auf das Parteiensystem, das Wählerverhalten und das Denken der Bevölkerung, einen Trend zur politischen Mitte; damit schwindet die Bedeutung des linken und rechten Rands. Weil es eine Konzentration in der Mitte gibt, müssten sich die dort ansiedelnden Parteien und Gruppen eben durch andere Merkmale als durch die Links-Rechts-Kategorisierung unterscheiden, zum Beispiel durch Personalisierung oder durch die gezielte Ansprache bestimmter Klientelgruppen.

Zweitens: Die Gesellschaft, die Politik und ihre Probleme werden immer komplexer. Die Positionen dazu lassen sich nicht länger in das Korsett einer eindimensionalen Kategorisierung zwängen. Wir haben es nicht mehr mit stabilen Klassenlagen, sondern mit sich immer weiter ausdifferenzierenden sozialen Milieus zu tun. Diese beinhalten je spezifische Werthaltungen, Interessen und Erwartungen gegenüber der Politik. Man gehört eben nicht mehr von der Wiege bis zur Bahre einer festgefügten sozialen Gruppe an, wählt nicht ein Leben lang dieselbe Partei, die womöglich schon Eltern und Großeltern gewählt haben. Entsprechend dieser Argumentation kann man die Probleme nicht mehr durch die Berufung auf generalisierte politisch-ideologische Standpunkte angehen, sondern muss sie pragmatisch, sach- und fachorientiert, vielleicht sogar technokratisch anpacken. Somit sind Bezugspunkte links oder rechts zu unscharf, zu unspezifisch, zu inhaltsleer, um daraus Kriterien für "richtige" Politik abzuleiten.

Gegen beide Thesen lassen sich Einwände und wiederum Gegeneinwände formulieren, was hier nicht nachgezeichnet werden soll. Festzuhalten ist jedenfalls, dass das Links-Rechts-Schema schon oft totgesagt wurde. Gleichwohl ist zu vermuten, dass es uns noch lange erhalten bleiben wird. Daran kann auch die derzeitige Debatte um eine "Querfront" wenig ändern, selbst wenn von außen besehen einige Übereinstimmungen zwischen linken und rechten Positionen festzustellen sind: etwa die Ablehnung der Freihandelsabkommen TTIP und Ceta, das Misstrauen gegenüber dem politischen Establishment, die Befürwortung von direkter Demokratie und einiges mehr. Meine These lautet, dass die derzeitige Querfront-Debatte nicht das Ende des Links-Rechts-Schemas signalisiert, sondern sogar dessen Geltung bekräftigen kann.

Zum Ersten wird die grundsätzliche Identifikation als politische Linke oder Rechte nicht aufgehoben, sondern lediglich durch punktuelle, teils taktische, teils lediglich behauptete Gemeinsamkeiten bekräftigt. Wenn also gefordert wird, Linke und Rechte müssten in dieser und jener Frage zusammenarbeiten, so tun sie das immer noch als Linke beziehungsweise Rechte.

Zum Zweiten gibt es von linker Seite keine oder nur ganz vereinzelte Annäherungen an die Rechte. Die Avancen gehen fast immer von der rechten Seite aus, werden aber von der Linken abgewiesen. Auch die Organisatoren der letzten großen Demonstrationen gegen CETA und TTIP wollten von rechten Parolen, rechten Figuren und rechter Unterstützung nichts wissen; sie haben sich davon schon im Vorfeld und während der Proteste konsequent und scharf abgegrenzt. Dagegen wurde auf Spiegel Online schon vor den Protesten faktenfrei behauptet, bei den TTIP-Protesten seien "die Rechten nicht Mitläufer, sondern heimliche Anführer". Der Subtext solcher Aussagen, aber auch der gängigen Extremismusforschung lautet, dass die politische Weisheit in der politischen Mitte zu finden sei. Doch selbst wenn dies richtig wäre: Die analytische Geltung des Orientierungsschemas links/rechts wird in solchen Annahmen nicht aufgehoben, sondern bestätigt.


Dieter Rucht ist Fellow der Abteilung Global Governance sowie Honorarprofessor am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Bis 2011 war er Koleiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am WZB.
dieter.rucht@wzb.eu


Literatur

Fuchs, Dieter / Kühnel, Steffen: "Die evaluative Bedeutung des Links-Rechts-Schemas". In: Max Kaase / Hans D. Klingemann (Hg.): Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1987. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 217-252.

Fuhse, Jan A. (2004): "Links oder rechts oder ganz woanders? Zur Konstruktion der politischen Landschaft". In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2004, 33 Jg., H. 2, S. 209-225.

Lipset, Seymour Martin / Rokkan, Stein: "Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments. An Introduction". In: Seymour Martin Lipset / Stein Rokkan (Eds.): Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives. New York: Free Press 1967, pp. 1-64.

Neubacher, Alexander: "Schauermärchen vom rechten Rand". In: Spiegel Online, 10. Oktober 2016. Online:
www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/ttip-bei-der-demomarschieren-rechte-mit-kommentar-a-1057131.html
(Stand 09.11.2016).

Storz, Wolfgang: "Querfront" - Karriere eines politisch-publizistischen Netzwerks. Frankfurt/M.: Otto Brenner Stiftung. Online:
www.otto-brenner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/AP18_Storz_2015_10_19.pdf
(Stand 09.11.2016).

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 154, Dezember 2016, Seite 15-17
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang