Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

INNEN/1622: Wagenburgmentalität - Abschottungspolitik gegenüber Migranten (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 4. Januar 2010

Wagenburgmentalität

Bundesregierung setzt Abschottungspolitik gegenüber Migranten fort:
Stockholmer Programm der EU perfektioniert »Festung Europa«

Von Ulla Jelpke


An der Abschottungspolitik der Europäischen Union (EU) wird sich auch im Jahr 2010 nichts ändern. Die Bundesregierung hat soeben dem »Stockholmer Programm« zugestimmt. Es formuliert für den Zeitraum von 2010 bis 2015 die Richtlinien einer gemeinsamen Innen- und Rechtspolitik der EU-Mitgliedsstaaten. Wer sich davon einen »Raum der Freiheit«, von dem gern vollmundig gesprochen wird, erwartet hatte, sieht sich enttäuscht. Vorgesehen sind vielmehr ein Ausbau der Kapazitäten von Europol und Eurojust, ein verstärkter Austausch der Erkenntnisse aus den polizeilichen Datenbanken und grenzüberschreitende Onlinedurchsuchungen. Weiterhin bleibt die »Festung Europa« das Leitbild. Die Abwehr von Schutzsuchenden soll durch eine bessere Satellitenüberwachung und die Organisation gemeinsamer Abschiebeflüge perfektioniert werden. Auch die Uralt-Idee der Einrichtung von neuen Flüchtlingslagern in Drittstaaten findet sich in dem Programm wieder. Das Militär soll zur Migrantenabwehr eingesetzt werden. Die polizeilich-militärisch organisierte »Grenzagentur« Frontex soll sogar noch ausgebaut werden.

Die Bundesregierung kann sich im Fall des Dokuments von Stockholm nicht darauf hinausreden, daß man als einzelnes Land gegen die Mehrheit der EU-Staaten keine andere Politik durchsetzen könne. Denn die deutsche Innenpolitik ist in diesen Fragen genauso inhuman wie das EU-Programm. So ignoriert die Bundesregierung weiterhin Urteile gegen die Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland. Obwohl es mittlerweile sechs Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts sowie zahlreiche verwaltungsgerichtliche Entscheidungen gegen diese Praxis gibt, weigert sich das Bundesinnenministerium generell, Asylverfahren für Bewerber, die über Griechenland in die EU eingereist sind, in Deutschland durchzuführen. Dabei wäre das über das »Selbsteintrittsrecht« nach dem Dublin-II-Abkommen möglich und auch geboten, weil in Griechenland derzeit kein faires Asylverfahren gewährleistet ist.

Dadurch, daß nach der besonders von Deutschland verfochtenen Theorie der »sicheren Drittstaaten« die Prüfung von Anträgen auf Asyl in die Staaten an den EU-Außengrenzen verlagert worden ist, entstand eine - so auch beabsichtigte - Abwehrfront gegen Asylbewerber. Diese sollen möglichst nicht in die EU-Zentralstaaten gelangen. Auf diesen ebenso wirkungsvollen wie unmenschlichen Abschottungsmechanismus will die Bundesregierung offenkundig nicht verzichten. Zu einem generellen Stopp der Überstellungen nach Griechenland ist sie nicht bereit. Dies ergibt sich aus der Mitte Dezember erteilten Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linkfsfraktion.

Auch der Beschluß der Innenministerkonferenz vom 4. Dezember 2009, die geltende Bleiberechtsregelung lediglich um weitere zwei Jahre zu verlängern, paßt in diese Grundlinie. Der Anteil der langjährig in Deutschland Lebenden an den rund 92000 Geduldeten ist derzeit mit 63,5 Prozent so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Eine auf Integration und nicht auf Abwehr gerichtete Politik müßte endlich ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht für die Betroffenen begründen. Statt dessen werden Kriterien aufgestellt, die für die meisten auch in zwei Jahren nicht erfüllbar sein werden.

Während sich bei den unverantwortlichen Abschiebungen nach Syrien eine gewisse Trendwende andeutet, plant die Bundesregierung, in den nächsten zehn Jahren weit mehr als 10000 in Deutschland lebende Roma in den Kosovo abzuschieben - und damit in absolutes Elend und tagtägliche Ausgrenzung. Laut Regierung sind derzeit 9842 Roma »vollziehbar ausreisepflichtig«, ebenso 2000 Ashkali, Serben und »Balkan-Ägypter«. Hinzu kommen noch einmal mehrere Tausend Roma, die nur über eine Duldung verfügen und mittelfristig ebenfalls mit einer Abschiebung rechnen müssen.

In der Bundesrepublik sind weiterhin Zehntausende Menschen gezwungen, unter menschenunwürdigen Umständen in Flüchtlingslagern und Abschiebeknästen ihr Dasein zu fristen. Aufgrund von Residenzpflicht und Arbeitsverboten haben sie häufig keinerlei Perspektive in Deutschland.

Weltweit sind nach UN-Angaben mehr als 42 Millionen Menschen auf der Flucht vor politischer Verfolgung, Folter, Ausbeutung und Kriegen. Die EU hat auf diese Fragen keine Antwort. Vielmehr statuiert sie Exempel an Menschen, die Flüchtlinge aus Seenot gerettet, also ihre humanitäre Pflicht erfüllt haben. So wurde in Italien die Besatzung der »Cap Anamur« mit einem Verfahren wegen »bandenmäßiger Beihilfe zu illegaler Einwanderung in einem besonders schweren Fall« überzogen. Das Schiff hatte vor fünf Jahren 37 afrikanische Flüchtlinge, die in einem Schlauchboot im Mittelmeer trieben, an Bord genommen. Erst drei Wochen später durfte die Besatzung sie schließlich in Sizilien an Land bringen, da sich die italienischen Behörden bis dahin einer Aufnahme widersetzt hatten. Am 7. Oktober 2009 mußten die drei Angeklagten allerdings freigesprochen werden. Kostspielige Verfahren wie dieses dürften dennoch etliche Kapitäne davon abhalten, Flüchtlingen in Not zu helfen.

Unterdessen wurde Cap-Anamur-Kapitän Stefan Schmidt am 13. Dezember in Berlin von der Internationalen Liga für Menschenrechte die Carl-von-Ossietzky Medaille verliehen. Dieselbe Auszeichnung erhielt Mouctar Bah aus Dessau. Er kämpft seit dem Tod seines Freundes Oury Jalloh im Gewahrsam der Dessauer Polizei im Januar 2005 für die Aufklärung der Todesumstände und gegen Rassismus in den Behörden.


*


Quelle:
junge Welt vom 04.01.2010
mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Überregionale Tageszeitung junge Welt
Torstraße 6, 10119 Berlin
Telefon: 030/53 63 55-0; Fax: 030/53 63 55-44
E-Mail: redaktion@jungewelt.de
Internet: www.jungewelt.de

Einzelausgabe: 1,20 Euro (Wochenendausgabe: 1,60 Euro)
Abonnement Inland:
monatlich 29,70 Euro, vierteljährlich 86,40 Euro,
halbjährlich 171,00 Euro, jährlich 338,50 Euro.
Sozialabo:
monatlich 22,90 Euro, vierteljährlich 66,60 Euro,
halbjährlich 131,90 Euro, jährlich 261,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2010