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INNEN/1668: Zensus 2011 - Volkszählung im Verborgenen (Blätter)


Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2011

Zensus 2011: Volkszählung im Verborgenen

Von Anne Roth und Daniel Leisegang


Wie viele Bundesbürger leben in der Bundesrepublik? 81 Millionen oder doch eine Million mehr? Und wie viele Kinder sind darunter? Wie viele Zuwanderer? Welcher Beschäftigung gehen die hier lebenden Menschen nach? Und welcher Konfession gehören sie an? Die Bundesregierung möchte all das genau wissen und führt daher am 9. Mai eine Volkszählung durch, die eine Fülle aktueller statistischer Informationen liefern soll.

Aus Sicht der Befürworter ist diese erste Volkszählung seit der Vereinigung überfällig. Eine genauere Zahlengrundlage sei unentbehrlich, um die Anzahl der in Zukunft benötigten Wohnungen, Kindergärten, Altenheime und von vielem mehr zu ermitteln. Wenn die Politik nicht wisse, wie viele Menschen in den Bundesländern, Städten und Gemeinden leben, "kauft man schnell zu viel, zu wenig oder etwas Falsches ein."[1]

Allerdings ist zweifelhaft, ob die mit der Volkszählung gewonnene Datenfülle in Zukunft politische Fehlentscheidungen verringern und dadurch am Ende zu einer besseren Politik führen wird. Vor allem aber verletzt der Zensus das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und verstößt damit gegen das Volkszählungsurteil aus dem Jahr 1983.


Die Inventur des Staates

Der Zensus 2011 geht auf eine EG-Verordnung zurück, die 2008 alle Mitgliedstaaten verpflichtete, einmal in zehn Jahren "umfassende Daten über die Bevölkerung und die Wohnungssituation" bereitzustellen.[2] Die große Koalition hatte sich bereits 2006 für die Durchführung eines sogenannten registergestützten Zensus entschieden, der sich außer auf Stichproben vor allem auf vorhandene Register unterschiedlicher Behörden stützt. Die Kosten der Volkszählung selbst belaufen sich auf etwa 700 Mio. Euro.[3]

Der Zensus 2011 wird in zwei Teilen stattfinden: Neben der Einwohnerzahl soll auch die Anzahl der bundesdeutschen Immobilien ermittelt werden.

Die 17,5 Millionen Wohnungs- und Gebäudebesitzer werden dafür nach Baujahr, Größe, Ausstattung und Nutzungsart ihrer Immobilie befragt. Auf diese Weise sollen die Eigentümer sämtlicher Gebäude festgestellt und falsche Standortangaben korrigiert werden.Zudem bietet das neue Anschriften- und Gebäuderegister (AGR) die Datengrundlage für die Zensus-Stichprobe.[4]

Die Ermittlung der Gesamtbevölkerung erfolgt im Rahmen einer Haushaltsbefragung. Für diese werden jedoch nur rund acht Millionen Menschen, also gut zehn Prozent der Bevölkerung, direkt befragt. Die per Zufallsprinzip ausgewählten Bürgerinnen und Bürger müssen detaillierte Angaben zu Staatsangehörigkeit, Alter, Geschlecht, Familienstand, Migrationshintergrund und Religion machen. Darüber hinaus werden Informationen zu Wohnsituation, Schulabschluss und Berufstätigkeit abgefragt.

Hinzu kommen Interviews von Verwaltern und Bewohnern sogenannter Sonderbereiche, also Gemeinschaftsunterkünfte wie Seniorenheime, Studentenwohnheime, Obdachlosenunterkünfte, psychiatrische Krankenhäuser oder Gefängnisse. Auch hier wird nur ein Teil der Einrichtungen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, allerdings werden im Anschluss die Angaben aller Bewohner erfasst.[5]

Die Befragungen werden von ehrenamtlichen Interviewern durchgeführt. Wer ausgewählt wird, hat keine Wahl: Weigert sich ein Bürger, Auskunft zu erteilen, oder macht er bewusst falsche Angaben, muss er mit einem Ordnungsgeld von bis zu 5000 Euro rechnen. Allein die Beantwortung der Fragen nach der persönlichen Glaubensrichtung und Weltanschauung ist den Bürgerinnen und Bürgern freigestellt.

Um trotz der eingeschränkten Direktbefragungen zu möglichst genauen Zahlen zu gelangen, wird, anders als 1987, ein Großteil der Informationen durch die registergestützte Zusammenführung bestehender Datenbestände ermittelt. Hierfür ist die Entwicklung einer technischen Infrastruktur vorgesehen, die - ohne Zustimmung der Betroffenen - sensible Daten aus unterschiedlichen Quellen zentral zusammenführt, wie etwa der Meldebehörden oder der Bundesagentur für Arbeit, um auf diese Weise beispielsweise ein "erwerbsstatistisches Gesamtbild" der Bevölkerung erstellen zu können.


Angriff auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung

So findet der wesentliche Teil des Zensus derzeit im Verborgenen statt. Kritiker vermuten, dass auf diese Weise Widerstand gegen die Volkszählung von vornherein verhindert werden soll. Ironischweise verletzt die Bundesregierung damit jedoch massiv ebenjene Datenschutzstandards, die erst durch die Proteste gegen die letzte Volkszählung errungen wurden.

Diese sollte ursprünglich 1981 durchgeführt werden.[6] Nach erheblichen Protesten fand die Befragung dann allerdings mit sechsjähriger Verspätung statt. Hierfür war nicht zuletzt ein Verfassungsgerichtsurteil verantwortlich, das erhebliche Teile des Volkszählungsgesetzes für verfassungswidrig erklärt hatte.

Dieses Grundsatzurteil schrieb Rechtsgeschichte - und bedeutete zugleich einen Meilenstein für die deutsche Bürgerrechtsbewegung. In ihrer Entscheidung definierten die Karlsruher Richter das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung: "Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 GG umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen."[7] Der Richterspruch bedeutet nicht weniger, als dass alle Bürgerinnen und Bürger zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit selbst darüber entscheiden dürfen, was mit ihren persönlichen Daten geschieht. Kurzum: Seither existiert ein Grundrecht auf Datenschutz.

Diesem zufolge ist es auch untersagt, Daten zu erheben, ohne zu informieren, welchem Zweck sie zugeführt werden, oder die Daten später für andere Zwecke zu verwenden, was die Bundesregierung nun wohlweislich ignoriert. Das Volkszählungsurteil von 1983 bestimmte außerdem, dass erhobene Daten so schnell wie möglich zu anonymisieren seien. Wurden die Angaben bei der Volkszählung 1987 noch häuserblockweise anonymisiert, ist dies 2011 nicht mehr vorgesehen. Im Gegenteil: Damit Daten aus unterschiedlichen Quellen schnell miteinander verknüpft und verarbeitet werden können, wird jedem Bürger eine Ordnungsnummer zugewiesen, die erst spätestens 2017 wieder gelöscht werden muss.

Erstmalig wird damit nicht nur der Wohnort jedes einzelnen Bürgers zentral erfasst, um, wie die Bundesregierung angibt, die Melderegister von "Karteileichen" zu befreien. Bedenklich stimmt obendrein, dass diese Daten nicht von den Bewohnerinnen und Bewohnern, sondern von den Hausbesitzern bzw. -verwaltern eingeholt werden. Die jeweiligen Mieterinnen und Mieter verfügen somit über keinerlei Möglichkeit, sich dieser Erfassung zu verweigern oder mögliche Fehler ihrer Daten im Nachhinein zu korrigieren. Entscheidend aber ist: Derzeit weiß der einzelne Bürger nicht einmal, welche Informationen der Staat zu welchem Zweck über ihn zusammenträgt. Der Zensus droht damit die schlimmsten Befürchtungen der Verfassungsrichter wahr werden zu lassen.


Gefahr des politischen Missbrauchs

Neben den verfassungsrechtlichen Einwänden droht in Zukunft erhebliches Missbrauchspotential durch die Politik.Zwar versicherte das Statistische Bundesamt, dass für den Zensus erhobene Informationen "den gesicherten Bereich" der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder nicht verlassen würden. Schließlich dürften die Daten gegenwärtig nicht an andere Behörden oder private Institutionen weitergereicht werden. Einmal gesammelte Daten dürften jedoch Begehrlichkeiten wecken. Selbst die größte Datensicherheit kann nicht sicher davor schützen, dass die zusammengetragenen Informationen eines Tages unbeabsichtigt Schaden anrichten könnten, verkauft oder gezielt für weiter gehende politische Zwecke "fremdgenutzt" werden.

Darüber hinaus kennen findige Datensammler die rechtlichen Lücken, und Behörden geben sensible Bürgerdaten bisweilen sogar freiwillig heraus - gegen Bares, versteht sich. So enthüllte das ZDF-Wirtschaftsmagazin WISO im Herbst 2010, dass die Einwohnermeldeämter sensible Daten an Adresshändler verkaufen. Die Auskunft ist für die Kommunen ein lukratives Geschäft: Ein Datensatz kostet je nach Bundesland zwischen fünf und zehn Euro und umfasst Namen, Staatsangehörigkeit, Religionsgemeinschaft, gegenwärtige und frühere Adresse, Familienstand und Kinder der Bürgerinnen und Bürger. Allein die Stadt Berlin nimmt auf diese Weise jährlich mehr als zwei Mio. Euro ein.

Ein Missbrauch der Zensusdaten, die Dank der Ordnungsnummern über Jahre Einzelpersonen zugeordnet werden können, kann somit nicht ausgeschlossen werden. Die Folgen sind kaum abzusehen, gerade für ohnehin benachteiligte Gruppen.

Bereits durch die Erhebung besteht die Gefahr sozialer Stigmatisierung, nicht zuletzt innerhalb der "Sonderbereiche". So scheint beispielsweise ungeklärt, was mit persönlichen Angaben von Personen geschieht, die derzeit unschuldig in Untersuchungshaft sitzen.

Aber auch für Bezieher von Sozialleistungen und vor allem für Menschen ohne Papiere stellt der Zensus - als eine Form der unfreiwilligen Registrierung mit anschließendem Melderegisterabgleich - eine bisweilen sogar existenzgefährdende Bedrohung dar. So könnten bei der Zusammenführung der Vermieterangaben mit den Daten der Meldebehörden Migranten oder Hartz-IV-Bezieher auffallen, die in Wohnungen angetroffen werden, in denen sie offiziell nicht gemeldet sind. Anschließend könnten ihnen die Ämter aufgrund eines Betrugsverdachts die Leistungen kürzen oder gar komplett streichen.[8]

Dass die Sorge vor einer Zweckentfremdung der Zensusdaten durch die Behörden durchaus begründet ist, belegen mithin auch Aussagen von Mitarbeitern des Statistischen Bundesamtes. Ihnen zufolge ist die Frage nach der weltanschaulichen Überzeugung nicht auf Wunsch der Statistiker, sondern auf Anfrage deutscher Fahndungs- und Ermittlungsbehörden in die Zensusfrageögen aufgenommen worden, um so zusätzliche Informationen über in Deutschland aktive Islamisten erheben zu können.[9]

Aber nicht nur Staatsanwaltschaft und Polizei scheinen den Zensus für ihre ganz eigenen Zwecke nutzen zu wollen. Erst vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass die sächsische NPD ihre Mitglieder aufgerufen hatte, sich freiwillig als Volkszähler zu melden, um im Rahmen der "nationaldemokratischen 'Marktforschung'" direkte Einblicke in die Lebensverhältnisse politischer Gegner zu erhalten. Den Kommunen sind die Hände gebunden: Sie verfügen über keine rechtliche Möglichkeit, die Interviewer vorab zu überprüfen, um sie beispielsweise nach der Parteizugehörigkeit zu sortieren.[10]


Wo bleibt der Widerstand?

Dass sich bislang trotz der zahlreichen Grundrechtsverletzungen so wenig Protest gegen die anstehende Zwangsbefragung durch das Statistische Bundesamt rührt, hängt wesentlich mit der fehlenden Kenntnis und Sensibilität in der Bevölkerung zusammen.

Zwar hatte der "AK Vorratsdatenspeicherung" im Sommer 2010 - in sprichwörtlich letzter Minute - eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, die mehr als 13.000 Unterstützerinnen und Unterstützer fand. Die Klage wurde allerdings aus formalen Gründen abgewiesen.

Diese Entscheidung nahm dem ohnehin schwachen Protest den letzten Wind aus den Segeln. Das Scheitern der Klage hat zudem deutlich gemacht, dass die Bürgerrechtsbewegung angesichts der vielfältigen Herausforderungen der "Digitalen Gesellschaft" allmählich an ihre Grenzen stößt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Zensus - anders als etwa das Thema Google Street View - für die meisten Bürgerinnen und Bürger nur schwer in seiner ganzen Bedeutung zu durchschauen ist. Gerade hier scheint die Strategie der Bundesregierung, das Ganze als weitgehend verdeckt stattfindende "Volksbefragung" durchzuführen, aufzugehen.

Zusätzlich verfängt offenbar aber auch das Argument, dass für zukünftige politische Entscheidungen genaue Kenntnisse über die Bevölkerung unentbehrlich seien. Allerdings liegen politischen Fehlentscheidungen in aller Regel nicht fehlende Zahlen, sondern falsche Bewertungen zugrunde. Darüber hinaus liegen bereits genaue Statistiken über jeden erdenklichen gesellschaftlichen Bereich vor, die als Grundlage für die politische Entscheidungsfindung vollkommen ausreichen. Der Zensus wird somit politische und wirtschaftliche Fehlplanungen nicht verhindern. Eine bessere und gerechtere Politik wird stattdessen auch in Zukunft eine Sache politischer Prioritätensetzung und weniger statistischer Datensammlungen bleiben.

So bleibt am Ende vor allem eine Erkenntnis: Auch wenn die Durchführung des Zensus kaum noch verhindert werden kann, ist Widerstand gegen die grundrechtefeindlichen Vorstöße der Bundesregierung weiterhin möglich - und nötiger denn je.


Anmerkungen:

[1] Vgl. www.zensus2011.de.

[2] Vgl. Verordnung (EG), Nr. 763/2008 vom 9. Juli 2008. Die rechtliche Grundlagen der Volkszählung sind, neben der EU-Richtlinie, das Zensusvorbereitungsgesetz (ZensVorbG 2011) vom 8. Dezember 2007 sowie das Zensusgesetz (ZensG 2011) vom 8. Juli 2009.

[3] Vgl. BT-Drucksache, 17/1108, S. 6.

[4] Der erste Abgleich hat bereits am 1.10.2010 stattgefunden. Weitere Datenbankabgleiche werden am 9. Mai und 9. August d. J. folgen.

[5] Vgl. Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit - 22. Tätigkeitsbericht. BT-Drucksache 16/12600, 12/2009, S. 74.

[6] In der DDR gab es insgesamt vier Volkszählungen, die letzte im Jahr 1981.

[7] Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1983, Az. 1 BvR 209/83, 1 BvR 269/83, 1 BvR 362/83, 1 BvR 420/83, 1 BvR 440/83, 1 BvR 484/83.

[8] Die fragwürdigen Praktiken der "Volkszähler" gehen gar so weit, dass beim Nichtantreffen der zu Befragenden (minderjährige) Familienangehörige und Nachbarn befragt werden sollen.

[9] Vgl. Oliver Knapp, Eins, zwei, drei - alle sind dabei. Von der Volkszählung zum Bundesmelderegister, Vortrag auf dem 27. Kongress deshaos Computer Clubs am 27.12.2010.

[10] Vgl. "die tageszeitung" (taz), 23.1.2011. Die an die Interviewer gezahlten Aufwandsentschädigungen von 7,50 Euro pro Besuch sollen zudem an die Parteikasse der NPD fließen oder "benachteiligten Familien" zukommen.


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Quelle:
Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2011, S. 12 - 16
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2011