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MEDIEN/380: In der Negativ-Spirale (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010

In der Negativ-Spirale
Der Alarmismus der Medienöffentlichkeit bedroht die Demokratiefähigkeit der Gesellschaft

Von Richard Meng


Von der Krise des Journalismus ist inzwischen oft die Rede - aber das Problem liegt tiefer. Im Wettlauf um die schnellste, pfiffigste, radikalste Story wird zu oft auch ein Grundtenor prinzipienfreier Politikverachtung deutlich. Alarmismus statt Erklären: Das Publikum wird kirre, solange es überhaupt noch hinsieht. Eine Mediengesellschaft, deren Öffentlichkeit vom Negativismus geprägt ist, verliert nach und nach die Fähigkeit zur demokratischen Gestaltung. Das öffentliche Gegacker bringt nichts und niemanden voran, außer Lobbyinteressen und die jeweilige Opposition.


Wer kennt sie nicht, die täglichen Breitseiten. Hilft man Griechenland, wird gefragt: Ist dies den Steuerzahlern zuzumuten? Verweigert man die Zustimmung, kommt die Frage aus der Gegenrichtung: Sollten hier nicht alle Europäer geschlossen auftreten? Hauptsache, die Politik wird in die Defensive gebracht, aus einer scheinbar kritischen Perspektive. Aber qualifizierte Kritik wäre etwas, das sich auch selbst begründen (können) muss. Kritik, die beliebig daher kommt, ist so schlimm wie beliebige Politik. Mit einem Unterschied: In den Medien ist solch beliebiger Kritik keine Grenze mehr gesetzt, wenn sie erst zum Prinzip geworden ist. Wer ihr fundierte Argumentation entgegensetzen wollte, bräuchte dafür ja öffentliche Aufmerksamkeit, und zwar dauerhaft.


Kein Verständnis für den Faktor Zeit

Hier läuft etwas grundsätzlich schief, nicht nur in Deutschland. Wer international verfolgt, wie schnell nahezu jegliche neue Regierungsmehrheit ins Loch sinkender Popularitätswerte fällt, erkennt eine Systematik. Medien und Demoskopen befeuern sich gegenseitig bei dem Versuch, abzuurteilen, bevor - in häufig komplizierten Entscheidungsprozessen - überhaupt eine konkrete Politik formuliert und durchgesetzt ist, geschweige denn Wirkungen zu erkennen sein können. Für den Faktor Zeit gibt es keinerlei Verständnis mehr. Medien leben nur noch im Jetzt und Gleich. Prozesshaftes gilt nicht. Dabei braucht Politik immer Zeit, eigentlich sogar: Zeitsouveränität. Wer nur tagesbezogen wahrnimmt, urteilt antipolitisch.

Interessanterweise gibt es Ausnahmefälle. Beispiele dafür, dass dieselben Medien fallweise prinzipiell unkritisch und gläubig sind: dann, wenn zwar niemand ein Ereignis wirklich beurteilen kann, aber es Quellen mit Objektivitätsanspruch gibt und der Vorgang die alarmistische Logik bedient. Siehe Schweinegrippe, siehe auch die Aschewolke. Wissenschaftler (Demoskopen sehen sich ja auch als solche) liefern Daten, denen flugs Objektivität zugeschrieben wird. Dabei hat die Expertokratie sehr wohl immer ihre eigene Rolle im Spiel, eigene Interessen an medialer Wichtigkeit, an finanzieller Absicherung inklusive. Aber an der so definierten Realität, die kaum noch hinterfragt wird, setzt dann die Aufregungsmaschine an, mitunter weltweit.

Politische Katastrophenkommunikation hat etwas von der panischen Hammelherde, in der alle sich gegenseitig verrückt machen. Unisono wurde die Politik gedrängt, möglichst viele Impfdosen gegen die Schweinegrippe zu ordern - und die Politiker, Vorbild zu sein, sich impfen zu lassen. Keine Chance hatte öffentlich, wer aus einem Staatsamt heraus offen skeptisch gewesen wäre. Also schwiegen viele. In der Katastrophe sind die Medien katastrophenkonform. Wenn sich später zeigt, dass es keine Katastrophe war? Aufarbeitung bestenfalls im Kleingedruckten, Schuldzuweisung höchstens an die Experten, die man nie hinterfragte.


Qualitätsjournalismus ohne Meinungsführerschaft

Keine Frage: Auch im Journalismus leiden viele unter solchen Automatismen. Und zweifeln, ob Qualitätsjournalismus im Zeitalter von "online first" überhaupt noch die Chance hat, sich vom Lemmingsverhalten des permanenten Krisengeschreis abzusetzen, wo doch der common sense der Tageswahrnehmung übers Internet definiert ist. Bevor ein längerer Hintergrundtext, Leitartikel oder TV-Magazinbeitrag überhaupt fertig sein kann, ist das Thema längst "weitergedreht". Durch Reaktion auf die Reaktion auf die Reaktion. Qualitätsjournalismus war immer Minderheitenprogramm. Aber jetzt hat er seine Meinungsführerschaft verloren.

Im System des täglichen Alarmismus kommt oberflächliche Kritik immer an. Für Opponierende ist das schön, für Regierende bitter. Wenn irgendwer einen Vorwurf erhebt, wird der Gehalt dieses Vorwurfs immer seltener kritisch eingeordnet oder gar überprüft. Der Bund der Steuerzahler, die Umweltverbände, der ADAC-Lobbyisten aller Art leben davon, dass sie mit der öffentlichen Anklägerrolle gut durchkommen. Sie werden medial benutzt zur Begründung von Themensetzung und lassen sich gerne benutzen. Klischeeverstärkend selbst dann, wenn die Verteidigung der Angeklagten plausibel klingt. Es bleibt ja der Eindruck, dass da etwas ist, das die Berichterstattung lohnte. Und damit ist dann auch was.

Längst kehrt sich die Lehrbuchweisheit um, dass Öffentlichkeit für die Demokratie immer etwas Gutes sei. Kluge Politik kann unter solchen Umständen eher darin bestehen, dem öffentlichen Negativismus aus dem Weg zu gehen, als ihm (gut gemeinte) Vorlagen zu liefern, die dann nur noch als Alibi dienen, die "Gegenseite" gehört zu haben. Speziell Regierungskommunikation ist insofern schon lange kaum mehr Angebotswirtschaft. Die mediale Nachfrage, angesichts immer mehr Medien meist: Übernachfrage, bestimmt den Takt. Mithin alle, die dort Trittbrett fahren.

Der Aktualitäts- und Exklusivitätswahn führt aber auch zur grandiosen Überbewertung von Details, die dann das Ganze überdecken und verzerren. Die einen vermuteten politischen Trend sehr bewusst immer neu verstärken und zementieren. Stimmungskonform letztlich und nicht kritisch. Darüber werden die Hierarchien gestärkt. Chefredakteure bestimmen mehr denn je, was als wichtig gelten darf. Randthemen und Randfiguren werden benutzt, aber sie prägen nichts.

Unter dem Fähnlein von demokratischer Transparenz und investigativem Anspruch kann sich also Anti-Aufklärerisches entwickeln. Populistischer Journalismus, vermeintlich in der Anwaltsrolle für das Publikum. Zuletzt zu besichtigen anhand der fatal nationalen Medienbilder in der Euro-Krise. Es ist das Gegenteil dessen, worum es eigentlich gehen sollte. Zunächst mal ums Verstehen und Erklären, was warum passiert oder was auch nicht passiert. Dann ums Beurteilen, aber bitte von einem offengelegten Wertestandpunkt aus.

Wie soll da demokratische Öffentlichkeit funktionieren? Zum Beispiel angesichts der Überschuldung des Staates, die so oder so und trotz medialer Wutwellen zu mehr individuellen Belastungen führen muss - sei es als Leistungseinschränkung oder als Steuer-/Abgabensteigerung. Die Stufen und Windungen eines Gesetzgebungsverfahrens, die innerparteilichen programmatischen Debatten, das Ausleuchten von europa- oder staatsrechtlichen Hintergründen: Wen interessiert das noch, wenn niemand mehr es für relevant erklärt? Und es sich ja tatsächlich um immer kompliziertere, juristisch hochgradig regulierte oder weltwirtschaftlich eingebundene Vorgänge handelt? Wieviel Demokratiepädagogik also kann/darf der Tagesjournalismus leisten?


Bestimmt das ökonomische Sein das Bewusstsein?

Verbreitet ist die These, dass die Medienökonomie die Medienlogik prägt. Dass also auch hier das Sein das Bewusstsein bestimmt. Weil es nicht gelingen will, für Qualitätsinhalte im Individualmedium Internet auch nur halbwegs auskömmliche Erträge zu erwirtschaften und ausgerechnet das junge Internetpublikum in allen Bezahlmodellen nur Kulturschock und Freiheitsverlust erkennt. Weil die Zeitungsauflagen und Anzeigenerlöse unumkehrbar sinken, die Einschaltquoten seriöser Politikformate die massive Überalterung des Publikums ausweisen. Weil auch Politikberichterstattung unter solchen Marktbedingungen aus freien Stücken handwerklich immer näher ans Fastfood-Unterhaltungsprogramm heranrückt, die tatsächliche Komplexität ohnehin nicht mehr darstellbar ist und sich ja auch die gesellschaftliche Politikwahrnehmung generell den Soapformaten annähert. Personen, Beziehungen, Klischees.

Die Journalistinnen und Journalisten, die den Politikerinnen und Politikern begegnen, sind meistens nur abhängige Glieder in einer langen Kette. Ausgedünnte Redaktionen, ungünstige Sendezeiten, Zeitdruck angesichts der Internet-Umschlaggeschwindigkeit, realer medialer Wertverlust der seriösen Nachricht: All das hat seine inhaltlichen Konsequenzen. Oberflächlichkeit ist allgegenwärtig geworden. Bis hin zu Politikern mit Aufstiegswunsch, die dann eben auf dem Klavier zu spielen versuchen, das gerade da steht. Jedes System schafft sich seine Rollen. Aber das entschuldigt nichts. Viel zu oft wird immer nur das Problem eingeräumt - und die Schuld woanders geortet.

In solchen Verhältnissen an rationale, langfristige Politikstrategien zu denken, erscheint mitunter abenteuerlich naiv. Trotzdem bleibt es notwendig, wenn Politik sich nicht freiwillig der Negativ-Spirale ausliefern will. Aber daneben braucht es eine ernsthaftere Debatte über die Fehlentwicklung im Mediensystem und im Journalismus, tiefer reichend als nur in Form einer Kritik der neuesten Zuspitzungsspirale.

Wenn das Scharnier zwischen Institutionen und Gesellschaft nicht mehr funktioniert, kann es demokratische Meinungsbildung in einem ergebnisoffenen, inhaltlichen Sinne nicht geben. Dann wird sie dauerhaft ersetzt durch die mediale Hybris der Schuldprojektion an die Adresse der gerade politisch Verantwortlichen. Schuld für alles und jedes. Für gestern, heute und morgen.

Kann es das überhaupt noch geben: Entschleunigung, Entdeckung der Langsamkeit? Ausgerechnet in einer Medienwelt, die den Wettlauf um Aktualität und Zuspitzung zum zentralen, wenn auch scheinrationalen Erfolgskriterium hat werden lassen? Würde das Publikum da mitspielen? Zu schnell wird erwidert, dass man nur liefere, was die Leute wollen. Gelebte Demokratie hat immer etwas mit Widerstandskraft gegen die Verlockung zum Populismus zu tun. Das sollte für alle gelten.

Zu viele in der Medienwelt, zumal in den Chefetagen, lehnen solche Fragen ab. Gerieren sich als unschuldige Transporteure der Publikumserwartung. Das ist zu wohlfeil. Die öffentliche Bühne steht neben der Institutionenwelt und neben der Parteienwelt. Und sie hat ein Eigenleben entwickelt. Sie ist stolz auf ihre Definitionsmacht. Gerade deshalb darf sie der Verantwortung für die Akzeptanz der demokratischen Prozesse nicht ausweichen.

Demokratie ist das ewige Ringen um Kompromisse. Am Ende steht selten Schwarz und selten Weiß, meist Grau. Mithin ewige Unzufriedenheit? Sie wäre nicht schlimm, falls daraus Engagement entstünde. Statt Abwendung und Verachtung. Eine Frage der Wahrnehmung. Eine Frage der Darstellung.

Richard Meng (* 1954) ist Sprecher des Senats von Berlin.
sprecher@senatskanzlei.berlin.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010, S. 36-39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2010