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MENSCHENRECHTE/222: Der Einsatz der Kirche für Sozialstandards (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 02/2010

Menschenrechte: Der Einsatz der Kirche für Sozialstandards

Von Alexander Foitzik


Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise mit ihren gravierenden Folgen auch für die Entwicklungsländer zeigt erneut die Bedeutung sozialer Menschenrechte. Eine von der Deutschen Bischofskonferenz verantwortete Fachtagung untersuchte den kirchlichen Beitrag zu deren Respektierung.


Früh haben die Kirchen darauf hingewiesen, dass so genannte Transformations-, Schwellen- und vor allem Entwicklungsländer, wenn auch eher indirekt, in besonderem Maße von der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen sind: durch den plötzlichen und massiven Kapitalabfluss beispielsweise, die rückläufige Investitionsbereitschaft ausländischer Unternehmen, den Einbruch der Exporte in die Industriestaaten oder auch durch die ausbleibenden Heimat-Überweisungen arbeitslos gewordener Arbeitsemigranten. Nach Expertenmeinung sind zum Teil Entwicklungsanstrengungen von Jahrzehnten gefährdet (vgl. HK, Januar 2010, 39ff.).

Auch in ihrer jüngsten, Ende letzten Jahres veröffentlichten Stellungnahme, programmatisch betitelt "Auf dem Weg aus der Krise", widmen sich die deutschen Bischöfe unter anderem der Ausbreitung der Krise in die Entwicklungsländer. Und sie mahnen die reichen Industrieländer, ihre Verantwortung wahrzunehmen: "Sowohl aus der Perspektive globaler Gerechtigkeit als auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse der reichen Länder muss alles getan werden, um die schädlichen Auswirkungen der Krise in den Entwicklungsländern zu begrenzen und dort zügig eine positive wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu setzen." Die Stellungnahme, die sich entschieden gegen eine derzeit schon wieder erkennbare Rückkehr zu "Business as usual" wendet und entsprechend zum Innehalten und den richtigen Konsequenzen aus der Krise mahnt, wurde im Auftrag der Kommission für gesellschaftliche Fragen der Bischofskonferenz unter anderen von dem Mainzer Sozialethiker Gerhard Kruip erarbeitet.


Soziale Menschenrechte als Anspruchsrechte

Die mit der Finanz- und Wirtschaftskrise sich weiter verschärfende weltweite Ernährungs- und Armutskrise - trotz aller entwicklungspolitischen Versprechen und Bemühungen hat die Zahl der Hungernden nun doch die Milliardengrenze erreicht - , lenkt auch den Blick auf die so genannten sozialen Menschenrechte. Und verhalf einer ebenso in der Verantwortung der deutschen Bischöfe veranstalteten und schon lange geplanten Expertentagung zu besonderer Aktualität. Anfang Dezember hatte die "Wissenschaftliche Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz" Ethiker, Juristen und Vertreter kirchlicher Hilfswerke eingeladen zu einer Fachtagung über "Soziale Menschenrechte und katholische Soziallehre".

Es galt zu prüfen, welchen Beitrag die Kirchen in ihrer sozialethischen Reflexion, der Sozialverkündigung, aber auch über das weltweite Engagement ihrer Werke für die Anerkennung und Durchsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte leisten können, wie sie helfen können, diese aus ihrer nach wir vor eklatanten Marginalisierung in der politischen Praxis weltweit zu befreien.

Die sozialen Menschenrechte standen bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts stets im Schatten der bürgerlichen und politischen Rechte, behaftet mit einer Menge von Vorurteilen und Missverständnissen und zerrieben in den ideologischen Auseinandersetzungen des Ost-West-Konfliktes: Der Westen konzentrierte sich auf die politischen und bürgerlichen (Freiheits-) Rechte und für die sozialistischen Staaten standen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Vordergrund. So sieht die Fachwelt erst mit der Wiener UN-Menschenrechtskonferenz im Jahr 1993 diese unheilvolle Trennung überwunden, verbunden mit einer entschiedenen Aufwertung der sozialen Menschenrechte.

Der lange Bekehrungsprozess der katholischen Kirche hin zu einer weltweit anerkannten Anwältin für die Respektierung und die Durchsetzung der Menschenrechte - eindringlich hat vor allem Johannes Paul II. diese Rolle festgeschrieben - verlief dabei umgekehrt: Für Soziallehre und Sozialverkündigung standen und stehen zum Teil bis heute zunächst die sozialen Menschenrechte an erster Stelle.


Anwaltschaft für Querschnittsthemen

Zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten gehören unter anderen das Recht auf Arbeit, eingeschlossen faire Arbeitsbedingungen, das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit sowie das Recht auf die Bildung von Gewerkschaften; das Recht auf einen Zugang zu Bildung für alle; das Recht auf Gesundheit, im Sinne eines Rechtes auf gesunde Lebensbedingungen beziehungsweise den gleichen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen für alle; das Recht auf den Zugang zu genügend und zu gutem Wasser; das Recht auf soziale Sicherheit und schließlich das Recht auf eine angemessene Unterkunft inklusive dem Schutz vor Zwangsumsiedlungen.

Als eine der Hauptschwierigkeiten für die Durchsetzung dieser sozialen Menschenrechte gilt bis heute, dass nicht alle Länder gleichermaßen über Möglichkeiten und Ressourcen verfügen, diese Rechte umzusetzen. Wie können die Staaten dennoch gewisse Minimalstandards erfüllen und bei der konkreten Umsetzung durch Gesetze, Verordnungen oder politische Maßnahmen Diskriminierungen verhindern? Unter anderem wegen solcher Fragen haben im Laufe der neunziger Jahre in Entwicklungsarbeit und -theorie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte immer mehr an Bedeutung gewonnen.


Auch der Hamburger Sozialethiker Thomas Hoppe, Initiator der Tagung und Verantwortlicher der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für Menschenrechtsfragen, betonte einleitend den wesentlichen Zusammenhang von Freiheitsrechten und sozialen Menschenrechten als Anspruchsrechten, wie er sich nicht zuletzt auch in den Fragen der globalen Friedenssicherung zeigt: Der für viele Menschen nahe liegenden Versuchung, den von ihnen als unerträglich empfundenen politischen und sozialen Verhältnissen durch Gewalt zu entrinnen, ließe sich nur entgegenwirken, wenn für sie eine schrittweise Verringerung ihrer Not und die allmähliche Gewinnung einer persönlichen Lebensperspektive im Alltag erfahrbar würden.

Hoppe beschrieb damit zugleich Aufgabe und Rolle der Kirchen in dieser Sache: Die in der Politik übliche Partialisierung von Ressortzuständigkeiten verhindere häufig, dass derartige Interdependenzen und das ihnen beizumessende Gewicht angemessen wahrgenommen würden. "Zivilgesellschaftliche Akteure, unter ihnen nicht zuletzt die Kirchen, können und müssen deswegen für diese Querschnittsthemen eine öffentlich wirksame Anwaltschaft übernehmen."


Eine Revolution im Völkerrecht

Die Chancen und Grenzen solcher Anwaltschaft zu beschreiben, übernahmen bei der Fachtagung in Köln die Juristen - Ermutigung und Warnung vor übertriebenem Wunschdenken in einem. So rief die Kölner Völkerrechtlerin Angelika Nußberger, Mitglied unter anderem der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften, noch einmal in Erinnerung, welche "Revolution" soziale Menschenrechtsstandards im Völkerrecht überhaupt darstellen: Im klassischen Völkerrecht interagierten die Staaten als "black boxes", geschützt durch einen starren, undurchdringlichen Souveränitätspanzer. Im modernen Völkerrecht, das unter dem Zeichen des Menschenrechtsschutzes steht, wurden diese black boxes geöffnet und es geht jetzt gerade darum, was in diesen passiert.

Kritisch fragte Nußberger allerdings, ob die heute kaum mehr überschaubare Menge an Normen, die die Verpflichtung der Staaten ihren Bürgern gegenüber definieren, quasi automatisch auch ein Mehr an effektivem Menschenrechtsschutz im sozialen Bereich bedeutet; heute gibt es fast 200 Konventionen über soziale Rechte. Nußberger selbst gehört dabei seit einigen Jahren einer Expertengruppe innerhalb der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) an, der schon 1919 gegründeten UN-Sonderorganisation zur Durchsetzung internationaler Arbeits- und Sozialnormen - die, so die Völkerrechtlerin, "bürokratischste" UN-Institution überhaupt.

Die wachsende Bedeutung sozialer Menschenrechte in den Verhandlungsprozessen der Welthandelsorganisation (WTO) und die immer wichtigere Rolle international agierender Unternehmen bei der Umsetzung von Menschenrechten, für den Schutz von Arbeitsrechten und sozialer Standards in einer globalisierten Wirtschaft unterstrich Christoph Scherrer, Leiter des Fachgebietes "Globalisierung und Politik" an der Universität Kassel.


Valentin Aichele vom Deutschen Institut für Menschenrechte verwies bei der Fachtagung in Köln die Vertreter kirchlicher Werke und einschlägiger Einrichtungen auf die immer höheren Partizipationschancen international agierender Nichtregierungsorganisationen, sowohl für die Entwicklung als auch für die Durchsetzung sozialer Menschenrechte innerhalb des Systems der Vereinten Nationen. So sei beispielsweise die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2006, die in Deutschland eine so enorme Dynamik entfaltet habe, unter hoher Beteiligung internationaler zivilgesellschaftlicher Organisationen zustande gekommen - ein absolutes Novum. Auch in der Praxis der so genannten Staatenberichtsprüfung sieht Aichele zunehmend Einflussmöglichkeiten für Nichtregierungsorganisationen, wie er am Beispiel der UN-Frauenrechtskonvention zeigte. Das Rechtsetzungsmonopol bleibe freilich bei den Staaten als den Völkerrechtssubjekten und dort herrschten zum Teil sehr stark divergierende Rechtsauffassungen in Bezug auf die sozialen Menschenrechte.


Lobbying für die Armen

Den zweiten Teil der Tagung bildete der Austausch über die konkrete menschenrechtsbezogene Arbeit in den kirchlichen Hilfswerken Misereor, Brot für die Welt und Caritas international, aber etwa auch die Projektarbeit der gemeinsam von Bischofskonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken getragenen Deutschen Kommission Justitia et Pax. Was können kirchliche Werke für die Implementierung sozialer Menschenrechtsstandards leisten? Wie gelingt darüber der Dialog mit den Partnern im Süden, nicht zuletzt auch den dortigen Hierarchien? Was heißt es für Misereor oder für dessen evangelisches Pendant, Brot für die Welt, mit einem menschenrechtsbezogenen Entwicklungsansatz Partner in besonders armen, schwachen oder gar zerfallenden Staaten zu unterstützen, in korrupten und klientelistischen Strukturen? Wo besteht Gefahr, dass Hilfe von außen, die Staaten aus ihrer Pflicht entlässt?

Michael Windfuhr von Brot für die Welt beschrieb dazu die Leistungsfähigkeit des menschenrechtlichen Ansatzes für die Entwicklungsarbeit, betonte aber auch, dieser solle bestehende Konzepte nicht ersetzen, sondern ergänzen. Elisabeth Strohscheidt, Menschenrechtsreferentin bei Misereor, skizzierte den im Dialog mit den Partnern im Süden beschrittenen Weg des bischöflichen Hilfswerks von der Hilfe zu unmittelbarer Gründbedürfnisbefriedigung zur konkreten Bezugnahme auf die Menschenrechte. Sie veranschaulichte diesen Ansatz mit Berichten aus der konkreten Arbeit in Anwaltschaft für die Armen: beispielsweise den Arbeitsklaven auf den für Biosprit-Herstellung betriebenen Zuckerrohrplantagen in Brasilien, den Arbeitern und Arbeiterinnen in chinesischen Spielzeugfabriken oder den in zwei Quadratmeter großen Käfigen hausenden Arbeitsmigranten in Hongkong.


Jörg Kaiser, der für Mittel- und Osteuropa verantwortliche Referent von Caritas international, dem Auslandshilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, beschrieb die "Hauskrankenpflege-Programme" der Caritas-Partnerorganisationen in Mittel- und Osteuropa als erfolgreichen Beitrag zur Förderung und Durchsetzung sozialer Menschenrechte. Allerdings sei dort die Menschenrechtsdebatte im westlichen Sinne immer noch nicht wirklich angekommen, auch nicht in den Kirchen und deren Leitungen.


Alexander Foitzik, Redakteur, Dipl. theol., geboren 1964 in Heidelberg. Studium der Katholischen Theologie in Freiburg und Innsbruck. Seit 1992 Redakteur der Herder Korrespondenz.
foitzik@herder.de


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 02, Februar 2010, S. 63-65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2010