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MILITÄR/986: Das andere Ramstein (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 9. September 2022
german-foreign-policy.com

Das andere Ramstein

NATO-Staaten sagen der Ukraine neue Waffenlieferungen zu - in Ramstein, wo eine Relaisstation seit Jahren Signale für US-Drohnenmorde in Afrika und Asien überträgt.


WASHINGTON/BERLIN/RAMSTEIN - Die NATO-Staaten haben der Ukraine erneut umfangreiche Waffenlieferungen zugesagt. Wie es gestern auf einem Treffen der Ukraine Defense Contact Group hieß, werden die USA Kiew Kriegsgerät im Wert von 675 Millionen US-Dollar liefern. Weiteres Material kommt unter anderem aus Deutschland. Die Ukraine Defense Contact Group war unter Leitung von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin auf der US-Luftwaffenbasis Ramstein zusammengekommen, die aufgrund ihrer Rolle im Zusammenhang mit US-Drohnenmorden in Afrika und Asien seit Jahren Ziel kritischer Recherchen, wütender Proteste und justizieller Ermittlungen ist. Dabei geht es vor allem um das Air and Space Operations Center (AOC) auf dem US-Stützpunkt, das nicht zuletzt als Relaisstation bei der Übertragung der Signale für Drohnenangriffe dient. Bei diesen kamen Tausende Zivilisten ums Leben; die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer von US-Drohnen- und bemannten Luftangriffen wird von Spezialisten auf weit über 20.000, womöglich knapp 50.000 geschätzt. Eine Klage wegen der Nutzung von Ramstein für US-Drohnenmorde ist beim Bundesverfassungsgericht anhängig.

Waffen für die Ukraine

Die NATO-Staaten haben der Ukraine am gestrigen Donnerstag auf dem fünften Treffen der Ukraine Defense Contact Group erneut umfangreiche Waffenlieferungen zugesagt. Bei der Zusammenkunft auf der US-Luftwaffenbasis Ramstein stellte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Kiew die Lieferung von Haubitzen, Artilleriemunition, Panzerabwehrwaffen und weiterem Kriegsgerät in Aussicht. Während Litauen ebenfalls Haubitzen und Norwegen Hellfire-Raketen versprochen haben, kümmert sich Deutschland um ein "Winterpaket": zum einen um Zelte und Stromgeneratoren, zum anderen um Winterkleidung. Darüber hinaus werden an der Kampfmittelabwehrschule der Bundeswehr in Stetten am kalten Markt (Kreis Sigmaringen, Baden-Württemberg) rund 20 Ukrainer in Minensuche und -räumung trainiert. Letzteres übernehmen deutsche Soldaten gemeinsam mit niederländischen Militärs.[1] Die Ukraine Defense Contact Group nahm gestern, wie berichtet wird, auch die langfristige Aufrüstung und Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte in den Blick - nicht nur während der gesamten Kriegsdauer, die manche auf mehrere Jahre schätzen, sondern auch in der Zeit danach.

Relaisstation für Drohnenangriffe

Die Ramstein Air Base, Hauptquartier der United States Air Forces in Europe - Air Forces Africa (USAFE-AFAFRICA), ist schon seit Jahren Gegenstand kritischer Recherchen, empörter Proteste und justizieller Ermittlungen - vor allem aufgrund ihrer hohen Bedeutung für die Drohnenkriege der USA. Auf dem größten US-Luftwaffenstützpunkt außerhalb der Vereinigten Staaten ist nicht zuletzt ein Air and Space Operations Center (AOC) angesiedelt, in dem mehr als 500 US-Soldaten den Luftraum über Europa und Afrika überwachen. Das AOC fungiert zudem als Relaisstation für Drohnenangriffe in Afrika wie auch im Nahen und Mittleren Osten. Dabei steuern amerikanische Drohnenpiloten, die an Computern in den USA sitzen, die unbemannten Fluggeräte mit Hilfe von Signalen, die über ein Glasfaserkabel nach Ramstein geleitet und von dort via Satellit weiter in die Operationsgebiete der Drohnen übertragen werden. Die unmittelbare Signalübertragung aus den Vereinigten Staaten in die genannten Regionen ist wegen der Erdkrümmung nicht ohne weiteres möglich. Das gilt auch für den Abschuss der Raketen, die US-Kampfdrohnen mit sich führen und mit denen die Zielpersonen der Angriffe getötet werden. Die Air Base Ramstein nimmt damit im Rahmen der US-Drohnenkriege einen zentralen Stellenwert ein.[2]

Zehntausende Todesopfer

Die Zahl der Zivilpersonen, die bei US-Drohnenangriffen in den vergangenen Jahren zu Tode gekommen sind, ist hoch. Im Jahr 2014 ergab eine interne Untersuchung der US-Streitkräfte, dass lediglich zehn Prozent der Menschen, die durch US-Drohnenangriffe ihr Leben verloren, eigentliche Zielpersonen waren.[3] Jahrelang versuchte das Londoner Bureau of Investigative Journalism, zivile Opfer der US-Drohnenangriffe etwa in Pakistan zu dokumentieren. Für die Zeit von 2004 bis 2018 konnte es eine Gesamtzahl zwischen 2.515 und 4.026 Todesopfern belegen, darunter zwischen 424 und 969 Zivilisten.[4] Die Zahlen gelten freilich als erheblich zu niedrig; pakistanische Stellen gaben die Zahl ziviler Todesopfer mit 2.714 an. Die bislang wohl umfangreichste Aufstellung hat vor einem Jahr die Organisation Airwars aus London vorgelegt. Allerdings hat sie Luftangriffe sowohl mit Drohnen als auch mit traditionellen Militärjets addiert. Demnach kamen in den 20 Jahren nach den New Yorker Terroranschlägen vom 11. September 2001 bei mindestens 91.340 Luftangriffen in zahlreichen Ländern zehntausende Zivilisten ums Leben - mindestens 22.679, womöglich sogar 48.308.[5] Die Relaisstation auf der Ramstein Air Base trug in nicht genau bekannter Höhe dazu bei.

Drohnenmorde vor Gericht

Die Tatsache, dass die US-Drohnenmorde in Ramstein über deutsches Territorium gesteuert werden, hat inzwischen zu mehreren Prozessen vor deutschen Gerichten geführt. So klagten etwa im Oktober 2014 drei Männer aus dem Jemen, weil drei ihrer Verwandten am Abend des 19. August 2012 bei einem US-Drohnenangriff ums Leben gekommen waren. Der Angriff galt offiziell Al Qaida-Terroristen. Alle drei Todesopfer waren als Al Qaida-Gegner bekannt.[6] Die drei Kläger, die vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) unterstützt werden, scheiterten im Mai 2015 vor dem Verwaltungsgericht Köln, bevor sie im März 2019 vor dem Oberverwaltungsgericht Münster teilweise Recht erhielten. Im November 2020 hob das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig das Münsteraner Urteil auf; nun liegt das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht.[7] Sogar konservative Juristen äußern sich kritisch. So hieß es kürzlich in einem Kommentar zu dem Drohnenmord an Al Qaida-Führer Ayman al Zawahiri, ein "ordentliche[s] Gerichtsverfahren" stehe "jedem Menschen zu"; das "Recht auf ein faires Verfahren" könne man keinesfalls umgehen, indem man jemanden - und sei er ein Terrorist - einfach "zum Feind" erkläre und ermorde.[8]

Wo kein Wille ist

Im Auswärtigen Amt wird diese Auffassung auch unter Ministerin Annalena Baerbock nicht geteilt. Vor ihrem Eintritt in die Bundesregierung hatten Bündnis 90/Die Grünen stets scharfe Kritik an den US-Drohnenmorden und an der Einbindung der Air Base Ramstein in sie geübt. Im Jahr 2019 etwa beantragten die Grünen im Bundestag, das Parlament solle die Bundesregierung auffordern, "unverzüglich ... Ermittlungen zum Tod von ZivilistInnen" per Drohnenmord aufzunehmen und der US-Regierung mitzuteilen, "dass völkerrechtswidrige Tötungen über die Satelliten-Relaisstation auf der Ramstein Airbase den Fortbestand der Relaisstation in Frage stellen".[9] Das Auswärtige Amt betonte damals stets, die USA hielten sich in Ramstein an "geltendes Recht". Unter Ministerin Baerbock erklärt das Auswärtige Amt weiterhin, die Vereinigten Staaten beteuerten glaubhaft, in Ramstein nichts Illegales zu tun. Interviewanfragen des ARD-Magazins Panorama, das schon seit Jahren umfassend zu den US-Drohnenmorden recherchiert, an Baerbock sowie ihre Staatsminister Tobias Lindner und Katja Keul wurden über Monate abgelehnt. Lediglich die Grünen-Abgeordnete Merle Spellerberg äußerte sich gegenüber Panorama auf die Frage, ob die Grünen, an die Regierung gelangt, ihre früheren Forderungen nicht umsetzen könnten: "Die Frage ist nicht, ob wir das könnten, sondern ob wir die Folgen, die damit einhergehen, in Kauf nehmen würden."[10] Dazu aber ist Baerbocks Ministerium nicht bereit.


Anmerkungen:

[1] Neue Milliardenhilfen für Kiew. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.09.2022.

[2] S. dazu Drohnenmorde vor Gericht.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7893

[3] Armin Ghassim, Jonas Schreijäg: Hinrichtung aus der Luft: Deutschland und der US-Drohnenkrieg. daserste.ndr.de 11.08.2022.

[4] Drone Warfare. thebureauinvestigates.com.

[5] Imogen Piper, Joe Dyke: Tens of thousands of civilians likely killed by US in 'Forever Wars'. airwars.org 06.09.2021.

[6] S. dazu Drohnenmorde vor Gericht.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7893

[7] Ramstein vor dem Verfassungsgericht. ecchr.eu 23.03.2021.

[8] Reinhard Müller: Tod aus der Luft. Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.08.2022.

[9] US-Drohnenangriffe: Baerbock lehnt Interviewanfragen ab. berliner-zeitung.de 11.08.2022.

[10] Armin Ghassim, Jonas Schreijäg: Hinrichtung aus der Luft: Deutschland und der US-Drohnenkrieg. daserste.ndr.de 11.08.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 9. September 2022

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