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PARTEIEN/089: Bundestagswahl 2009 - Splitting sichert den Wechsel (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 126/Dezember 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Splitting sichert den Wechsel
Mit taktischem Wahlverhalten verhindert der Bürger Schwarz-Rot

Von Bernhard Weßels


Die Bundestagswahlen 2005 hatten in die Große Koalition geführt. Auch für 2009 wurden Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung erwartet. Diese traten nicht ein, allerdings sind die Bundestagswahlen 2009 in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1957 die mit der stärksten Veränderung der Stimmenanteile zur vorherigen Bundestagswahl und auch diejenigen, die den stärksten Rückgang in den Stimmenanteilen einer Partei seit Bestehen der Bundesrepublik zu verzeichnen haben.


Die Zeichen für das deutsche Parteiensystem stehen nicht erst seit kurzem, sondern spätestens seit der Vereinigung Deutschlands 1990 auf Veränderung, die getrieben wird vom Wählerwandel. Die Trends sind deutlich: Zunahme der Wechselwähler, die Zuwendung zu kleineren Parteien und die Bewegung weg von den beiden großen Volksparteien. Bei den Bundestagswahlen 2005 haben die wachsende Vielfalt der Interessen der Bürger und deren Wechselwahlbereitschaft zu den bekannten Schwierigkeiten der Mehrheitsbildung geführt: Dreierkoalitionen oder Große Koalition waren die gegebenen Möglichkeiten; die Dreiervariante war nicht realisierbar. 2005 gab es zwar relativ geringe Veränderungen im Aggregat. Aber die führenden Umfrageinstitute verzeichneten im Durchschnitt ein bis zwei Wochen vor der Wahl dennoch fast 13 Prozentpunkte Abweichung vom späteren Wahlergebnis. Die Wahlen 2009 weisen mehr Veränderung in den Stimmenanteilen auf als alle Bundestagswahlen seit 1957. Dieses Mal erwiesen sich die Prognosen der Institute aber mit durchschnittlich lediglich 6 Prozentpunkten Abweichung als deutlich besser.

In den Vorwahlumfragen lag der Stimmenanteil von Union und FDP nach den Befragungsergebnissen fast aller Institute bei dem Wert, der tatsächlich erzielt wurde. Selbst hinsichtlich der dramatischen Verluste der SPD waren die Umfrageergebnisse ein bis zwei Wochen vor der Wahl maximal zwei Prozentpunkte vom Wahlergebnis entfernt. Dennoch schien nicht sicher, ob Union und FDP eine Mehrheit ohne Berücksichtigung von Überhangmandaten erhalten würden. Diese Unsicherheit war bereits mit den ersten Prognosen um 18 Uhr am Wahlabend beseitigt; alle nachfolgenden Hochrechnungen und letztlich auch das amtliche Wahlergebnis bestätigten die klare Mehrheit von Schwarz-Gelb.

Das ist angesichts der großen Wählerbewegungen ein gar nicht so selbstverständliches Ergebnis. Ein Vergleich der Stimmenzahlen von 2005 mit denen von 2009 verdeutlicht die Dynamik: Allein schon durch den Vergleich dieser Zahlen - also nicht auf der Individualebene bestimmt - ergibt sich, dass sich etwa 13 Millionen Wähler von einer Partei zur anderen oder zu den Nichtwählern bewegt haben. Das sind knapp 29 Prozent aller Wählerinnen und Wähler des Jahres 2005. Die CDU hat gegenüber 2005 mehr als 1,3 Millionen Stimmen verloren, die CSU 660 Tausend, die SPD historisch einmalig 6,2 Millionen. Für die CDU bedeutet das gegenüber 2005 einen Rückgang der Stimmen um 10 Prozent, für die CSU um 19 Prozent und für die SPD um 38 Prozent.

Nicht nur an Stimmen, sondern auch an Stimmenanteilen gegenüber 2005 verloren haben nur die Parteien der Großen Koalition: Der Stimmenanteil der CDU liegt mit 27,3 Prozent um 0,5 Punkte niedriger, der der CSU mit 6,5 Prozent um 0,9 Punkte und der der SPD mit schmerzlichen 23,0 Prozent um 11,2 Punkte niedriger. Wenn hinter dem Ergebnis das Kalkül der Wählerinnen und Wähler lag, die Große Koalition abzustrafen, dann ist das mit Blick auf die Unionsparteien eher mäßig, für die SPD hingegen extrem ausgefallen.

Während also mehr als 8,1 Millionen Wählerinnen und Wähler den Unionsparteien und der SPD den Rücken kehrten, legten die drei kleineren nicht nur prozentual, sondern auch in der Stimmenzahl zu. Zusammen genommen bekamen sie 3,5 Millionen mehr Stimmen als 2005, was für die FDP eine Steigerung um fast 36 Prozent, für die Grünen um 21 Prozent und Die Linke um 25 Prozent bedeutet. Dass die Stimmenanteile diese enormen Wählerbewegungen nur zum Teil widerspiegeln, ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Zahl der Nichtwähler um 4 Millionen angestiegen ist. Gemessen an Wählerzahlen von 2005 sind das knapp 9 Prozent.

Was die Bundestagswahl 2009 von den bisherigen Bundestagswahlen seit Ende der 1950er Jahre abhebt, ist strukturell zum einen die abermals zunehmende Dekonzentration des Parteiensystems. In den 1970er Jahren konnten die CDU/CSU und SPD gemeinsam noch über 90 Prozent der Stimmen auf sich vereinen; dieser Anteil hat sich fast kontinuierlich auf 56,8 Prozent 2009 reduziert. Das ist der niedrigste Wert seit Bestehen der Bundesrepublik. Zum anderen hat die Volatilität extrem zugenommen, also die Summe der absoluten Veränderungen der Parteianteile von einer zur nächsten Wahl. Nach der Veränderung zwischen 1949 und 1953 (14,2 Prozent) sehen wir 2009 mit 12,6 Prozent die höchste in der Bundesrepublik verzeichnete Volatilität. Sie liegt doppelt so hoch wie die des Durchschnitts der Bundestagswahlen 1965 bis 2005.

Welches Wechselwahlverhalten - inklusive des Wechsels von der Wahl zur Nichtwahl und umgekehrt - diesen extrem starken Veränderungen von einer Bundestagswahl zur nächsten auf der Individualebene zugrunde liegt, werden erst intensive Analysen unter anderem der Umfragen liefern, die im Rahmen der durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft langfristig geförderten "German Longitudinal Election Study" (GLES), an der das WZB neben den Universitäten Frankfurt a.M. und Mannheim sowie der GESIS (Mannheim) beteiligt ist, erbringen. Sie ist mit dem Ziel angetreten, den Wählerwandel, die zunehmende Flexibilität bei der Wahlentscheidung und die potenziell weit reichenden Implikationen für das bundesrepublikanische Parteiensystem und die Demokratie 2009 bis 2017 zu untersuchen. Schnellschussantworten sind hier nicht angemessen, wenngleich beliebt.

Bisherige Analysen im Rahmen dieses Projekts auf der Basis von Aggregatdaten verweisen neben den genannten strukturellen Dynamiken auf Veränderungen im Wahlverhalten, die taktische und inhaltliche Motive miteinander vereinen. Rückschlüsse aus Aggregatdaten auf individuelle Motivlagen sind zwar problematisch, können aber als ein guter Generator für Forschungshypothesen auf der Individualebene angesehen werden. Inhaltlich-politisch sind drei Aspekte bedeutsam: der Einbruch der SPD, der große Zugewinn der FDP sowie die weitere Ergebnissteigerung der Partei Die Linke und deren erstmaliges Überwinden der 5-Prozentklausel auch in allen alten Bundesländern.

Die Analysen auf Wahlkreisebene und die vom Umfrageinstitut Infratest dimap vorgelegten Wählerwanderungsstatistiken verweisen für die SPD auf zwei Faktoren, die den größten Anteil der Verluste ausmachen: erstens die Abwanderung ins Nichtwählerlager von etwas mehr als einem Drittel der Wählerinnen und Wähler von 2005 und zweitens die Abwanderung von insgesamt etwa ebenso vielen zu den Linken und den Grünen - wobei die Linke deutlich stärker profitierte. Regressionsanalysen der Zweitstimmenanteile der SPD auf Wahlkreisebene zeigen: Jeder Prozentpunkt zurückgehender Wahlbeteiligung zwischen 2005 und 2009 hat die SPD etwa 0,6 Prozent des Stimmenanteils gekostet. Außerdem hat jeder Prozentpunkt Anteil für die Linken sich bei der SPD mit etwa einem halben Prozentpunkt geringeren Wähleranteils niedergeschlagen.

Bei einem mittleren Rückgang der Wahlbeteiligung in den Wahlkreisen von knapp sieben Prozentpunkten ergibt das fast vier Prozentpunkte Verlust für die SPD durch eine geringere Wahlbeteiligung unter ihren Wählern von 2005. Der Wahlerfolg der Linken bedeutete für die SPD im Durchschnitt etwas mehr als sechs Prozentpunkte Verlust. Zusammengenommen sind das fast 10 von insgesamt 11,2 Prozentpunkten SPD-Verlust. Linkskonkurrenz und Mobilisierungsschwäche, also das Zuhause-Bleiben großer Teile der SPD-Wählerschaft von 2005, sind die beiden wichtigsten Faktoren, die zum Absturz der SPD auf ihr schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik geführt haben.

Die von vielen der SPD nahe stehenden Bürgern nicht befürwortete Agenda 2010 der Schröder-Regierung, die ebenfalls von vielen nicht geschätzte Arbeit der SPD in der Großen Koalition und schließlich die personelle Diskontinuität an der Parteispitze (sieben Vorsitzende in zehn Jahren) haben nicht nur ihre Spuren hinterlassen, sondern zu einem tiefen Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte der Partei geführt. Davon hat die Linke am meisten profitiert. Der Zuwachs von etwas mehr als einer Million Wählerstimmen, den sie zu verzeichnen hatte, entspricht ungefähr der Zahl der Wähler, die nach Wählerwanderungsstatistiken von der SPD zur Linken gewechselt haben.

Was aber erklärt den Erfolg der FDP? Ein Aspekt trifft auf sie genauso zu wie auf die Linke und die Grünen: Sie gehört nicht zu den großen Parteien. Es ist eine auffällig stetige Steigerung, die die kleineren Parteien seit 1998 verzeichnen. Das allein kann den Zuwachs um fast fünf Prozentpunkte allerdings kaum erklären, zumal er bei Linken und Grünen zwar deutlich, aber eben fast nur halb so groß ausfällt. Die empirischen Befunde anhand der Analyse der Wahlkreisergebnisse verweisen auf ein stark taktisches Verhalten eines beachtlichen Teils der Wählerinnen und Wähler. Je größer die Differenz zwischen Erst- und Zweistimmenanteilen der CDU/CSU in den Wahlkreisen, desto größer der Wahlerfolg der FDP bei den Zweitstimmen. Dieser Zusammenhang ist statistisch ausgesprochen robust.

Zwei alternative Erklärungen bieten sich an, lassen sich aber mit Aggregatdaten nicht klären, sondern erst durch eingehende Analyse der Umfragedaten der deutschen Wahlstudie: Es könnten die sogenannten Leihstimmen, die CDU/CSU-Wählerinnen und Wähler in Form der Zweitstimme der FDP geben, gewesen sein, die zu dieser Differenz geführt haben, oder es sind Leihstimmen von FDP-Wählern, die diese der CDU/CSU in Form der Erststimme geben. Gleich, welche der beiden Alternativen zutrifft, es handelt sich um wohl abgewogene taktische Wahlentscheidungen, weil die Erststimme nicht an eine Partei verschwendet wird, deren Chance auf ein Direktmandat allzu gering sind, gleichzeitig aber einer kleineren Partei über die Zweitstimme eine sichere Chance gegeben wird.

Dieses Splitting dürfte für die CDU/CSU zu ihrem Anteil von etwa drei Vierteln aller Direktmandate ebenso beigetragen haben wie zu dem hohen FDP-Anteil von 14,6 Prozent der Zweitstimmen. Über 60 Direktmandate hat die CDU/CSU der SPD abgenommen, mehr als 200 der insgesamt 239 Mandate kommen aus den Erststimmen. Hätten alle, die mit der Erststimme die CDU/CSU gewählt haben, ihr auch die Zweitstimme gegeben, läge ihr Stimmenanteil nicht bei knapp 34, sondern bei knapp 40 Prozent. Hätten nur die Wählerinnen und Wähler, die der FDP die Erststimme gegeben haben, sie auch mit der Zweitstimme gewählt, hätte die FDP nicht fast 15 Prozent, sondern nur etwas mehr als 9 Prozent erzielt. Hätten die Wählerinnen und Wähler nicht in dieser Weise ihre Stimmen aufgeteilt, hätte es knapp werden können. Bis zu 30 Mandate weniger wären das Resultat gewesen; damit wäre die Mandatsmehrheit für Schwarz-Gelb verfehlt worden. Die Wählerinnen und Wähler der bürgerlichen Mitte haben einen Weg gefunden, mit ihren Stimmen eine klare Mehrheit zu produzieren. Nicht Abstrafen der Großen Koalition war die Devise, sondern deren Verhinderung für eine weitere Legislaturperiode.


Bernhard Weßels, geboren 1955 in Berlin, Studium der Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Statistik und Politikwissenschaft an der FU Berlin, Dipl.-Soz., Dr. phil., Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1982-1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin, seit 1989 wissenschaftlicher Angestellter am WZB. Seit 1998 Mitglied des Planning Committee der Comparative Study of Electoral Systems (CSES). Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung (DGfW).
wessels@wzb.eu


Literatur

Frank Brettschneider, Oskar Niedermayer, Bernhard Weßels (Hg.), Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, 515 S.

Oscar W. Gabriel, Bernhard Weßels, Jürgen W. Falter (Hg.). Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, 627 S.

Bundestagswahlstudien des WZB: Datendownload unter
http://www.wzb.eu/zkd/dsl/download.de.htm


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 126, Dezember 2009, Seite 33-37
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2010