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PARTEIEN/100: Die Krise der Parteien und der Sündenfall politischer Organisation (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011

Die Krise der Parteien und der Sündenfall politischer Organisation

Von Jasmin Siri


Parteien sind in der Krise. So oder ähnlich beginnen und enden unzählige Aufsätze und Monografien, die sich mit dem Zustand moderner Parteien beschäftigen. Der Satz klingt so plausibel, dass es fast unvernünftig scheint, ihn zu hinterfragen. Mitgliederschwund, Patronage und Korruption, das Ende der Volksparteien, Effekte der Globalisierung: Es scheint, dass heutige Parteien erhebliche Probleme haben, ihre demokratische Aufgabe zu erfüllen.


Umfragen suggerieren einen Vertrauensverlust in traditionelle politische Organisationen. Die Kluft zwischen Bürgern und Parteien scheint immer größer zu werden. Es scheint unbestreitbar: Parteien sind "alte" Organisationen, die keine Antworten auf "neue" Probleme einer globalisierten Weltgesellschaft geben können. Die Kommentatoren der Parteienkrise fordern daher Reformen der Parteien, "neue" Politiker oder "mehr innerparteiliche Demokratie" ein. Sie müssen sich ändern, oder alternative Organisationen werden an ihre Stelle treten.

Blickt man jedoch sozialhistorisch auf diesen Sachverhalt, so wird deutlich, dass über eine Krise der Parteien gesprochen wird, seit es diese Organisationen gibt. Es zeigt sich auch ein argumentatives Muster: Die Krisendiagnosen verstehen sich stets als neu - obwohl sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dieselben Argumente verwenden. So hat beispielsweise schon David Hume in den 1740er Jahren Effekte parteilicher Organisierung kritisiert. Und der Sozialdemokrat Robert Michels formuliert 1911 verärgert: "Die regelmäßigen Veranstaltungsbesucher sind, insbesondere an den kleinen Orten, häufig nicht Proletarier, die, von der Arbeit erschöpft, sich abends früh zur Ruhe legen, sondern allerhand Zwischenexistenzen, Kleinbürger, Zeitungs- und Postkartenverkäufer, Kommiß, junge, noch stellenlose Intellektuelle, die Freude daran finden, sich als authentisches Proletariat zu apostrophieren und als Klasse der Zukunft feiern zu lassen." Michels kritisiert, dass sich vor allem Lehrer und Beamte in der SPD engagierten. Kommt Ihnen dieses Argument bekannt vor?


Parteienkritik und Parteienverachtung

Parteienkritik und Krisendiagnostik begleiten demokratische Parteien, seit es sie gibt. Schon Rousseau beschrieb sie als "Fremdkörper im Staatswesen", da sie Partikularinteressen formulierten. Und Hegels Arbeiten inspirierten eine Staatsverehrung, die sich im Bündnis mit obrigkeitsstaatlichen Haltungen zu einer Parteien- und Parlamentsverachtung im deutschen Sprachraum entwickelte. Der wohl bekannteste Parteienverächter, Carl Schmitt, formulierte 1923, dass die moderne Massendemokratie die Diskussionen des Parlaments zu einer "leeren Formalität" gemacht habe. Unnütz und peinlich wirkten die demokratischen Verfahren, ginge es doch nicht mehr um echte politische Argumente, sondern um Proporz- und Interessenabwägungen. Auch dieses Argument nehmen zahlreiche aktuelle Beschreibungen der Parteien auf


Der Sündenfall politischer Organisation

Um herauszufinden, was aber hinter der historischen Permanenz der Krisendiagnose steht, bietet es sich an, die Parteiorganisationen einmal nicht demokratietheoretisch, sondern als Organisationen wie alle anderen, wie Kirchen, Schulen oder Sportvereine zu betrachten. Dann fällt auf, dass viele Kritiken an Parteien an typischen Organisationsproblemen ansetzen. Denn alle Organisationen produzieren Hierarchien, eigene Empfindlichkeiten und langweilige Entscheidungsprozeduren, wie beispielsweise Geschäftsordnungsdebatten. Alle Organisationen interessieren sich vor allem für sich und die eigenen Mitglieder. Doch während Hierarchie beim Militär und selektive Karrieren in Unternehmen seltener kritisiert werden, ergeht es den Parteien, da sie politische Organisationen sind, anders. Die Funktion der Parteien besteht darin, geeignetes Personal für politische Ämter auszuwählen und politische Entscheidungen vorzubereiten. Doch genau hierfür - oder besser: dafür, wie sie dies tun - werden sie oft kritisiert. So argumentiert man, dass Seiteneinsteiger es schwerer haben als jene, die die "Ochsentour" durchlaufen. Dies trifft freilich nicht nur auf Parteiorganisationen zu. Da es sich aber um demokratische Politik handelt, die hier organisiert wird, kann der erschwerte Seiteneinstig als echtes Legitimationsproblem thematisiert werden. Denn alle sollen sich doch gleichermaßen beteiligen und mitentscheiden können.

Die Beobachtung des schnöden politischen Tagesgeschäfts und der Selbstbezüglichkeit der Parteiorganisation stellt somit gewissermaßen eine ständige Kränkung demokratieemphatischer Ideale dar. Die "Urform" der Parteienkritik kritisiert, dass Politik überhaupt organisiert wird. Führen Parteien doch vor, dass dies nicht - oder nur theoretisch der Fall ist. Demokratische politische Organisation beruht auf einem immanenten Paradox, denn Organisation bedeutet immer eine Verletzung direkt-demokratischer Ideale. Ganz ähnlich ergeht es den Kirchen, die sich für die Organisation von individuellem Glauben verantwortlich zeichnen. Denn wie will man den Glauben des Einzelnen organisieren?

"Man mag nun die Existenz, die Art des Werbens und Kämpfens und die Tatsache, daß unvermeidlich Minderheiten die Formung von Programmen und Kandidatenlisten in der Hand haben, moralisierend beklagen - beseitigen wird man die Existenz der Parteien nicht und jene Art ihrer Struktur und ihres Vorgehens höchstens in begrenztem Maße. (...) Die verworrene Vorstellung, daß man es doch könne und solle, beschäftigt aber stets erneut die Literatenköpfe", schreibt Max Weber bereits in den 20er Jahren.


Intellektuelle Missachtung der Parteiorganisation

Die Unwiederbringlichkeit der "direkt-demokratischen" Erfahrung einer vormodernen Gesellschaft hat (und für den deutschen Sprachraum: verbunden mit einer spezifisch kantianisch-romantischen Aversion gegen Realpolitik) zu einer intellektuellen Missachtung der Parteiorganisation geführt. Und da Kritik und Krisendiagnose zumeist an der Unausweichlichkeit einer Organisierung moderner Demokratie vorbeisehen, indem sie ignorieren, dass Parteiorganisationen nichts anderes sein können, als Organisationen, reißen diese Erzählungen niemals ab.

Die "Krise der Parteien" formuliert also die Sehnsucht nach einer Demokratie ohne Organisation. Was bedeutet aber die Permanenz der Krisendiagnosen für die Parteiorganisation und die Demokratie? Was ist ihre Funktion für die moderne Gesellschaft?

Wie Unternehmen und Kirchen können auch Parteien keine gesellschaftlichen Probleme lösen, sondern nur ihre eigenen. Anders als von Unternehmen wird von Parteien und Politikern aber erwartet, dies zu tun. Parteien bleibt daher nichts anderes übrig, als die Fähigkeit der Entscheidung für das Ganze ständig zu symbolisieren. Die Vorstellung, dass eine Partei ankündige, sie wolle in Zukunft nur noch ihre eigenen Probleme lösen, macht deutlich, wie unwahrscheinlich eine solche Einsichtigkeit in die eigene Unzulänglichkeit wäre. Semantiken der Offenheit, wie "Reform", "Innovation" oder auch "Partizipation" tragen in der Hand der Organisation nicht dazu bei, Offenheit zu schaffen sondern ermöglichen der Organisation gerade, sich selbst zu reflektieren und damit wieder von der gesellschaftlichen Umwelt abzugrenzen.

Es ist daher höchst unwahrscheinlich, dass Kritiken, die von außen auf die Organisation Einfluss zu nehmen gedenken, erfolgreich sind. Das gilt insbesondere für moralische Appelle zu "mehr Ehrlichkeit", aber auch hinsichtlich der Artikulation von Reformbedarf. So lässt sich zum Beispiel mehr Offenheit gegenüber partizipativen Entscheidungsprogrammen nicht durch Plädoyers von Wissenschaftlern erzeugen. In den Organisationen wird aus den Krisendiagnosen zwar Reformbedarf abgeleitet: Dies ermöglicht jedoch keine "bessere" Vermittlung des Volkes mit der Organisation. Selbst wenn eine Partei Kritik ehrlich motiviert aufgreift, verwendet sie diese anders, als durch Wissenschaft oder Journalismus intendiert.


Vom praktischen Wert der Kritik

Der blinde Fleck der Parteienkritik besteht im Nichtwissen um ihre Stabilisierung von Partei und demokratischem Verfahren. Denn die Parteienkritik wirkt nicht nur als Reformmotor für die Organisation (dies aber anders, als die Kritiker sich erhoffen), sondern auch als Puffer - denn so geraten die Verfahren und die demokratischen Ideale selbst nicht in den Blick. Denn nicht nur der freiheitliche, säkularisierte Staat, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert hat, lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das Gleiche gilt auch für das demokratische Verfahren und die Organisation von Demokratie. Politik steht in einer ausdifferenzierten Gesellschaft für das Ganze - ohne jedoch das Ganze zu sein!

Sollte man es also einfach lassen mit der Kritik an den Parteien und der Diagnostik ihrer Krisen? Keinesfalls! Durch die Kritik der politischen Organisation wird in einer demokratischen Gesellschaft kommuniziert, was in einer komplexen Gesellschaft nicht mehr außerhalb politischer Symbolik beobachtbar und erfahrbar ist: Die Identität von Volk und politischen Entscheidern. Das praktisch verunmöglichte absolute Plebiszit wird zumindest als Ideal präsent gehalten, indem Kritik- und Krisenbeschreibungen betonen, wie es "eigentlich" laufen sollte. Abfinden muss sich die Kritik aber damit, dass sie stets zur Stabilisierung dessen beiträgt, was sie zu kritisieren sucht. Und sie sollte sich davor hüten, aus der Beobachtung von Krisen einen Funktionsverlust der politischen Parteien abzuleiten. Denn Parteien ohne flankierende Kritik und ohne Krisenerzählungen hat es schließlich nie gegeben.


Jasmin Siri (* 1980) ist Soziologin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Dissertation untersucht den Wandel der Parteiorganisation und Parteimitgliedschaft.

jasmin.siri@soziologie.uni-muenchen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011, S. 25-27
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2011