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REDE/908: Regierungserklärung von Westerwelle zur Afghanistan-Politik der Bundesregierung, 15.12.11 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Regierungserklärung des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, zur Afghanistan-Politik der Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag am 15. Dezember 2011 in Berlin:

"Eigenverantwortung und Partnerschaft - eine neue Perspektive für Afghanistan"


Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen!

Vor zehn Tagen in Bonn haben Afghanistan und die internationale Gemeinschaft eine neue Partnerschaft besiegelt, eine Partnerschaft, die einem souveränen Afghanistan über das Jahr 2014 hinaus eine Perspektive gibt. Der Einstieg in die Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte hat begonnen - trotz aller Versuche, diesen Prozess durch schreckliche Anschläge aus der Bahn zu werfen. Die Ansätze für einen Versöhnungsprozess in Afghanistan entwickeln sich, auch wenn die Ermordung von Professor Rabbani ein schmerzhafter Rückschlag war.

Von der Korruption über die Menschenrechte bis zur Sicherheitslage: Nichts ist einfach in Afghanistan, und doch steht Afghanistan heute besser da als vor einem Jahr und erst recht besser als vor zehn Jahren. Dazu haben die Bundeswehr, die Polizei, die Wiederaufbauhelfer und auch die deutschen Diplomaten einen Beitrag geleistet, für den wir danken. Wir danken also gemeinsam unseren Landsleuten in Uniform und ohne Uniform für ihren Einsatz. Wir verneigen uns vor den Soldaten, die den Einsatz mit ihrem Leben bezahlt haben. Auch unschuldige afghanische Kinder, Frauen und Männer haben ihr Leben verloren. Wenn wir an die Zukunft Afghanistans in Sicherheit und Frieden denken, dann trauern wir um alle Opfer.

2011 markiert einen Wendepunkt in der internationalen Afghanistan-Politik. Der strategische Konsens von Bonn in der internationalen Gemeinschaft wird Baustein für Baustein umgesetzt.

Erstens. Es wird keine militärische, sondern nur eine politische Lösung geben. Deshalb unterstützen wir den Prozess von Versöhnung und Reintegration, auch wenn der Weg noch lang und schwierig sein wird. Die afghanische Regierung hat ernsthaft begonnen, an einem Friedens- und Versöhnungsprozess zu arbeiten. Dieses Ziel hat die traditionelle Loya Jirga Mitte November 2011 in Kabul bekräftigt. Davon konnte ich mir bei meinem letzten Besuch selbst ein Bild machen.

Zweitens. Im Juli hat der Transitionsprozess begonnen. Vor zwei Wochen hat Präsident Karzai die zweite Tranche der Übergabe bekannt gegeben. Die afghanischen Behörden übernehmen schrittweise die Sicherheitsverantwortung. Im Februar werden sie die Verantwortung für fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung haben. Dass die afghanischen Sicherheitskräfte dieses jetzt bei allen Mängeln leisten können, ist auch das Ergebnis unserer Ausbildungsarbeit, die Anfang 2010 nach der Londoner Afghanistan-Konferenz erheblich intensiviert worden ist. Der Einstieg in die Transition - ich wähle das Wort "Einstieg" bewusst - ist ein Erfolg trotz schwerster Anschläge.

Drittens. Für eine stabile Entwicklung Afghanistans ist die Mitwirkung aller Nachbarstaaten erforderlich. Am 2. November hat sich in Istanbul die afghanische Regierung mit allen Nachbarn und anderen wichtigen Akteuren auf einen Prozess verständigt, der langfristig die ganze Region wirtschaftlich und politisch enger zusammenführen soll. Im September haben wir dazu in New York das Konzept der sogenannten Neuen Seidenstraße bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorgestellt. Dieser Prozess gründet auf gemeinsamen Prinzipien für Sicherheit und Stabilität in der Region und auf einem ehrgeizigen Katalog von vertrauensbildenden Maßnahmen zur Förderung der regionalen Zusammenarbeit. Das ist ein echtes Novum in der Region. Auch wenn Pakistan sich nach der Tötung von mehr als 24 Soldaten nicht in der Lage sah, an der Bonner Konferenz teilzunehmen, war auch die pakistanische Regierung an diesen Vereinbarungen, die ich eben genannt habe, konstruktiv beteiligt. Pakistan wurde auch durch meine Reise nach Islamabad wenige Tage vor der Bonner Konferenz in die Vorbereitung einbezogen. Ich kann Ihnen berichten: Die pakistanische Außenministerin hat mir nach der Konferenz versichert, dass Pakistan den politischen Prozess in Afghanistan auch weiterhin unterstützen wird. Wir unsererseits sagen allen Nachbarländern: Eine stabile, friedliche und demokratische Entwicklung Afghanistans liegt nicht nur im Interesse Afghanistans und der Weltgemeinschaft, sie liegt ausdrücklich auch im Interesse der Nachbarregion, und zwar aller Nachbarstaaten. Wir appellieren an alle Nachbarstaaten, diesen Prozess auch zu unterstützen.

Viertens. Wir werden eine stabile Entwicklung nur schaffen, wenn wir Afghanistan auch nach 2014 weiter unterstützen. Mit der Internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn haben wir die Partnerschaft zwischen Afghanistan und der internationalen Gemeinschaft erneuert. Wir haben eine verlässliche Grundlage für eine sogenannte Transformationsdekade von 2015 bis 2024 geschaffen. Das ist die neue Perspektive für die Zeit nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen. Ich will auch hier vor dem Deutschen Bundestag wiederholen, was die Bundeskanzlerin und was ich selbst bei der Eröffnung der Afghanistan-Konferenz in Bonn gesagt habe: Wir lassen die Menschen in Afghanistan nicht im Stich, auch nicht nach 2014. Wir werden kein Vakuum hinterlassen, in dem dann wieder neuer Terror gedeihen kann. Wir tun das, was wir tun, für Afghanistan, für das Land, aber wir tun es auch unverändert für uns und für unsere eigene Sicherheit, und wir werden die früheren Fehler in der Geschichte nicht wiederholen.

Dieses Ergebnis ist die Frucht mühevoller Arbeit von vielen in den letzten zwei Jahren. Wir machen uns keine Illusionen: Die Afghanistan-Konferenz war eine Konferenz des Möglichen. Die Bundesregierung verfolgt eine Politik des Machbaren in Afghanistan. Wir haben uns realistische Ziele gesetzt, haben uns realistische Mittel und einen realistischen Zeitplan gegeben. Wir haben dies mit Afghanistan und der internationalen Gemeinschaft vereinbart und setzen es mit unseren Partnern konsequent um. Nie hatten wir einen größeren internationalen Konsens als heute; auch das haben wir in Bonn eindrucksvoll gesehen.

Im Vorfeld hat die Bonner Konferenz übrigens auch geholfen, innenpolitische Blockaden in Afghanistan zu überwinden, etwa die Parlamentskrise oder die Auseinandersetzung um die Kabul Bank.

Die neue Partnerschaft mit Afghanistan ist keine Einbahnstraße. Sie beruht auf festen gegenseitigen Verpflichtungen zwischen der internationalen Gemeinschaft und Afghanistan. Die afghanische Regierung hat sich zu Verbesserungen bei der Regierungsführung, bei der Bekämpfung der Korruption und beim Aufbau des Justizsektors verpflichtet. Die Rolle der Verfassung und der Menschenrechte als Fundament der afghanischen Gesellschaft soll gestärkt werden.

Auf der anderen Seite hat sich die internationale Gemeinschaft in bemerkenswert starker Form zu einem langfristigen Engagement in Afghanistan über 2014 hinaus verpflichtet. Diese zivilen und entwicklungspolitischen Zusagen werden im kommenden Juli in Tokio konkretisiert. Ich sage dem Deutschen Bundestag als dem Haushaltsgesetzgeber in aller Offenheit: Es wird noch länger finanzielle Belastungen geben. Entwicklung und Sicherheit bedingen sich gegenseitig. Die Wirtschaft in Afghanistan muss auf die Beine kommen. Unsere Hilfe beim Aufbau eines wettbewerbsfähigen Privatsektors wird noch über Jahre gefordert sein.

Besonders der Rohstoffsektor hat großes Potenzial und kann Afghanistan langfristig unabhängiger von internationalen Geldzuwendungen machen. Die afghanischen Rohstoffvorkommen werden bisher kaum genutzt, weil Investoren vor der Bedrohungslage und mangelnder Rechtssicherheit in Afghanistan zurückschrecken. Auch hier haben wir auf dem Weg nach Bonn mit der vorausgehenden Brüsseler Wirtschaftskonferenz Fortschritte erreichen können. Angesichts dessen ist es auch wichtig, dass wir unsere Afghanistan-Politik umfassend und vernetzt betreiben. Erlauben Sie mir, dass ich mich bei den Kollegen dreier Häuser, beim Bundesinnenminister - ich denke dabei an den Aufbau der Polizei -, beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und vor allen Dingen beim Bundesverteidigungsminister, für die gemeinsame, gute und koordinierte Arbeit bedanke.

Afghanistan wird auch nach 2014 kein normales Partnerland der Entwicklungszusammenarbeit sein. Darauf hat Entwicklungsminister Dirk Niebel immer wieder hingewiesen. Der Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan kommt auf Grundlage der besonderen Verantwortung, die wir in den letzten zehn Jahren übernommen haben, ein besonderer Status zu. Diese neue Art der Partnerschaft manifestiert sich in der in Bonn beschlossenen, bereits erwähnten Transformationsdekade. Die Europäische Union hat bereits Verhandlungen für ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Afghanistan aufgenommen. Daneben wird die Bundesregierung im kommenden Jahr auch ein bilaterales Partnerschaftsabkommen mit Afghanistan verhandeln, das unsere Zusammenarbeit auf eine feste Grundlage stellt. So ist es unmittelbar nach der Afghanistan-Konferenz zwischen Staatspräsident Karzai und Bundeskanzlerin Angela Merkel vereinbart worden.

Teil des strategischen Konsenses von Bonn ist, dass die internationale Gemeinschaft nun gemeinsam hinter der Notwendigkeit eines politischen Prozesses und von Friedensgesprächen auch mit den Taliban steht. Mittlerweile sind sich alle einig, dass es keine militärische, sondern nur eine politische Lösung geben kann. Diese politische Lösung braucht aber auch klare Maßstäbe. In Bonn hat sich die internationale Gemeinschaft deshalb auf sieben Prinzipien geeinigt. Dazu gehört eine eindeutig afghanische Führungsrolle; niemand anders kann eine Lösung erzwingen. Außerdem muss der Prozess die legitimen Interessen aller Afghanen widerspiegeln und ihnen die Chance geben, sich in ihrem Staat politisch wiederzufinden.

Dauerhaften Frieden wird es in Afghanistan nur geben, wenn alle afghanischen Bevölkerungsgruppen sich im Friedensprozess und in seinem Ergebnis wiederfinden können. Deshalb war es beeindruckend, dass zum ersten Mal in so großer Zahl auch die Vertreter der Zivilgesellschaft im Vorfeld der Bonner Konferenz einbezogen wurden und an ihr teilgenommen haben. Darunter waren übrigens auch sehr viele Frauen; sie machten einen erheblichen Anteil aus. Ich sage das ausdrücklich, weil es vor allen Dingen viele Frauen sind, die zu Recht Sorge haben, dass nach 2014 ihre Rechte und ihre Möglichkeiten wieder vergessen werden könnten. Unsere Solidarität und unsere klare Ansage, dass wir für die fundamentalen Menschenrechte, aber eben auch für die Frauenrechte unverändert eintreten und uns dafür einsetzen, ist in meinen Augen wichtig, wenn der Übergabeprozess in Afghanistan gelingen soll.

Gleichzeitig formulieren diese Prinzipien klare Anforderungen an das Ergebnis, also an die Friedenslösung selbst. Die Souveränität, die Stabilität und die Einheit Afghanistans müssen gesichert sein. Gewaltverzicht, Bruch mit dem internationalen Terrorismus und Anerkennung der Verfassung mit ihren fundamentalen Menschenrechten und - ich sage das abermals - vor allem auch den Frauenrechten sind notwendige Bestandteile einer Friedenslösung. Und: Eine politische Lösung in Afghanistan muss auch von der Region akzeptiert und unterstützt werden.

Eine Friedenslösung, die diesen Prinzipien entspricht, wird die volle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft finden. Wir lassen uns dabei von dem klaren Ziel leiten, dass von Afghanistan nicht noch einmal Gefahr für die Welt ausgehen darf. Aus dem Krisenherd Afghanistan soll ein souveräner und verantwortlicher Staat werden, ein Staat, der als gleichberechtigtes Mitglied der Völkergemeinschaft zu Frieden und Stabilität in der Region beiträgt. Kabul darf nie wieder die Hauptstadt der Terroristen in der Welt werden.

Der zweite Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu Afghanistan zeichnet ein ungeschminktes Bild der Fortschritte und der Schwierigkeiten in Afghanistan. Wir brauchen eine ehrliche Lagebeurteilung, ohne etwas schönzureden, aber auch ohne die Fortschritte zu übersehen.

Ein Drittel der etwa acht Millionen Schülerinnen und Schüler sind Mädchen. Über 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben Zugang zu Gesundheitsleistungen. Straßen wurden gebaut, die Infrastruktur verbessert, vor allen Dingen auch die Versorgung mit Wasser.

Die afghanischen Sicherheitskräfte haben mit 305.000 Mann ihre Sollstärke fast erreicht. Der Schwerpunkt liegt jetzt auf der weiteren Qualifizierung von Polizei und Armee. Diese Aufgabe wird auch nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen 2014 fortbestehen. Der Trend einer sich von Jahr zu Jahr verschlechternden Sicherheitslage konnte vorerst - ich betone: vorerst - gestoppt werden. Trotz schrecklicher Anschläge hat sich die Lage 2011 insgesamt konsolidiert. Aber auch das gehört zum Bild dazu.

Die Menschenrechtslage in Afghanistan verbessert sich, allerdings nur langsam. Die universellen Menschenrechte sind in der afghanischen Verfassung verankert, aber bei weitem noch nicht vollständig in der Praxis verwirklicht. Im Hinblick auf Regierungsführung und Demokratie bleibt in Afghanistan noch viel zu tun. Dazu gehören auch Wahlreformen, zu deren Unterstützung wir im europäischen Rahmen bereitstehen.

Korruption bleibt ein großes Hindernis für gute Regierungsführung in Afghanistan. Der Skandal um die Kabul Bank ist dabei nur die Spitze des Eisberges. Auch die Drogenwirtschaft trägt zur Korruption bei. In Bonn hat die afghanische Regierung eine wirtschaftliche Transitionsstrategie vorgestellt, mit der sie klare Verbesserungen schaffen möchte. Die Umsetzung der nationalen Entwicklungsstrategie macht bescheidene Fortschritte; allerdings bemessen sich die Zeitlinien der Entwicklungszusammenarbeit eher in Jahrzehnten als in Jahren. Auch das zu erwähnen, gehört zu einer realistischen Lagebeschreibung.

Unser deutsches Engagement hat sich auf sorgfältig mit der afghanischen Regierung abgestimmte Programme und Projekte verlagert, die nachhaltige Entwicklung ermöglichen. Diese Bundesregierung hat den Mittelansatz für den Wiederaufbau und die Entwicklung auf 430 Millionen Euro jährlich fast verdoppelt. Deutschland ist damit das drittgrößte Geberland in Afghanistan.

Mit den Ergebnissen aus Bonn beginnt nun eine neue Phase unseres Einsatzes in Afghanistan. Gemeinsam mit der afghanischen Regierung haben wir uns auf einen verantwortlichen Abbau aller internationalen Kampftruppen in Afghanistan verständigt. Das deutsche militärische Engagement hat in diesem Jahr seinen Scheitelpunkt erreicht.

Mit dem Mandat, das wir heute einbringen, wird der international vereinbarte Abzug der Kampftruppen aus Afghanistan auch von unserer deutschen Seite aus verantwortungsvoll eingeleitet. Damit wird die in den letzten zwei Jahren erarbeitete Abzugsperspektive real. Die Strategie der Übergabe der Sicherheitsverantwortung wird umgesetzt. Klar ist, dass die langfristige Stabilisierung Afghanistans noch ein schwerer Weg wird, bei dem wir auch weiter mit Rückschlägen rechnen müssen.

Wenn der Deutsche Bundestag dem Antrag der Bundesregierung folgt, dann werden ab dem 1. Februar 2012 noch bis zu 4.900 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Einsatz sein. Die deutsche Beteiligung an den NATO-AWACS war bislang gesondert mandatiert. Sie wird fortgesetzt; die Dienstposten werden in die neue Personalobergrenze integriert. Die flexible Reserve entfällt.

Darüber hinaus ist es das Ziel der Bundesregierung, das deutsche Kontingent im Rahmen des fortschreitenden Übergabeprozesses bis zum Ende des Mandatszeitraumes auf bis zu 4.400 Soldatinnen und Soldaten zu reduzieren, soweit die Lage dies erlaubt und ohne die Sicherheit des eingesetzten Personals oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden. Diese Einschränkung müssen wir auch in diesem Jahr weiter machen. Alles andere wäre irreal. Niemand kann alles vorhersagen. Deswegen hat dieses Mandat dieselbe Konditionierung, die auch letztes Jahr in das Mandat aufgenommen worden ist.

Machen wir uns nichts vor: Die Sicherheitslage in Afghanistan ist weiter schwierig. Die Bedrohung ist nach wie vor real. Die grausamen Anschläge in den letzten Monaten haben dies gezeigt. Allerdings sehen wir, dass die afghanischen Sicherheitskräfte zunehmend in der Lage sind, sich selbst dieser Herausforderungen anzunehmen. Das ist der Kern unseres Auftrages: die Befähigung der afghanischen Sicherheitskräfte voranzubringen. Dabei spielt der Aufwuchs dieser Kräfte eine wichtige Rolle. Entscheidend jedoch ist die Verbesserung der Fähigkeiten, also der Qualität der afghanischen Soldatinnen und Soldaten, der Polizistinnen und Polizisten. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Sie wird uns noch fordern, auch wenn die internationalen Kampftruppen nach 2014 abgezogen sind.

Ich sage deshalb: Unser Einsatz hat von seiner Bedeutung nichts eingebüßt. Es ging und es geht darum, eine tödliche Gefahr für unsere Gesellschaften zu bannen. Afghanistan darf nicht wieder zum Rückzugsraum für Terroristen werden. Diesem Ziel hat sich die gesamte internationale Gemeinschaft verpflichtet. 50 Staaten beteiligen sich an ISAF. Auch Deutschland stellt sich weiterhin dieser Verantwortung.

Wir haben manches erreicht, aber dennoch sind wir vor Rückschlägen nicht gefeit. Ich bitte Sie deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete: Stärken Sie den am Einsatz beteiligten Soldatinnen und Soldaten den Rücken, indem Sie den Antrag der Bundesregierung mit breiter Mehrheit unterstützen!

Ich möchte an dieser Stelle neben den Angehörigen der Bundeswehr auch unseren Polizeiausbildern und unseren Aufbauhelfern, unseren Diplomaten, aber vor allen Dingen ihren Familien meinen Dank und meinen tiefen Respekt bekunden. Sie alle setzen ihren Ehrgeiz, ihre Gesundheit, ja ihr Leben ein im Interesse unseres Landes.

Ich möchte mit einer persönlichen Betrachtung schließen. Ich bin schon sehr oft in Afghanistan gewesen und habe das Land besucht, lange bevor ich Mitglied der Bundesregierung geworden bin. Wenn wir bei uns über Afghanistan reden und über Afghanistan berichtet wird, dann sehen wir schreckliche Bilder: Wir sehen Anschläge. Wir trauern um Getötete. Wir sehen Bilder, die wirklich schrecklich sind. Wir wissen um die Missstände. Wir alle teilen die Sorgen und hoffen doch darauf, dass uns eine gute, friedliche und stabile Entwicklung in Afghanistan gelingt. Aber nicht nur die Bilder der Gewalt und des Terrors sind es, mit denen wir uns befassen sollten.

Ich habe im Juli in Kabul ein Kinder- und Jugendzentrum besucht. Die Kinder dort spielen wie die Kinder überall auf der Welt. In den Augen dieser Kinder - Mädchen und Jungs - habe ich Hoffnung gesehen. Ich glaube, wir schulden es diesen Kindern, dass sich ihre Hoffnungen auch erfüllen. Für mich sind auch und vor allem diese Gesichter der Kinder das neue Gesicht Afghanistans - und nicht nur die schrecklichen Bilder von Tod und Terror. Diese Kinder - die nächste Generation - können nichts dafür, dass sie unter solchen Umständen groß werden. Auch sie haben nur ein Leben mit denselben Hoffnungen. Die Mädchen blickten, als man hereinkam, schüchtern zu Boden. Die Jungs wollten den ausländischen Besuchern zeigen, was sie mit ihren acht, neun, zehn, elf Jahren alles können.

Ich glaube, es täte uns gut, dass wir, wenn wir über Afghanistan reden, ab und zu auch das Bild dieser Kinder bei unseren nüchternen Beratungen mit im Kopf behalten. Was wir in Afghanistan tun, tun wir für die Kinder, wir tun es natürlich auch für unsere eigene Sicherheit.

Nichts ist einfach in Afghanistan, und vieles ist noch nicht so, wie es sein soll. Ich fürchte, vieles wird auch schwierig bleiben. Aber am Ende dieses Jahres, nach der Bonner Konferenz, bin ich überzeugt: Wir sind mit unserem Einsatz und mit der neuen Partnerschaft auf dem richtigen Weg. Wir eröffnen Afghanistan die Chance auf eine friedliche und freie Zukunft - im Interesse der Menschen dort und im Interesse der Sicherheit hier.


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Quelle:
Bulletin Nr. 136-1 vom 15.12.2011
Regierungserklärung des Bundesministers des Auswärtigen,
Dr. Guido Westerwelle, zur Afghanistan-Politik der Bundesregierung
vor dem Deutschen Bundestag am 15. Dezember 2011 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2011