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REDE/979: Sigmar Gabriel zu Eröffnung der Konferenz zur Zukunft der Rüstungskontrolle, 06.09.2017 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Konferenz
Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Sigmar Gabriel, zur Eröffnung der internationalen Konferenz zur Zukunft der Rüstungskontrolle "Making Conventional Arms Control Fit for the 21st Century" am 6. September 2017 in Berlin:


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

lassen Sie mich mit den Worten eines Mannes beginnen, der sich um den Frieden sorgt. Ein Friedensforscher, wenn Sie wollen.

Er sagt: "Ich spreche von echtem Frieden, von der Art Frieden, die das Leben auf der Erde lebenswert macht." Jedes Jahr würden Milliarden für Waffen ausgegeben, die "nur gekauft werden, damit wir sie niemals einsetzen". Das sei sicher nicht die effizienteste Methode der Friedensicherung. Dieser Friedensforscher schlägt daraufhin das genaue Gegenteil vor, er fordert - ich zitiere - "die allgemeine und vollständige Abrüstung".

Wer ist dieser Friedensforscher? Er ist Amerikaner. Allerdings stammt das Zitat aus dem Jahr 1963. Und er war damals amerikanischer Präsident. Es war John F. Kennedy, der das gesagt hat. Man stelle sich vor, wir hätten heute einen Präsidenten, der das sagen und versuchen würde, es in die Tat umzusetzen.

Übrigens hat John F. Kennedy es in einer Zeit gesagt, in der die Konfrontation zwischen der damaligen Sowjetunion und den Vereinigten Staaten eher stärker als schwächer wurde. In einer solchen Zeit hat ein amerikanischer Präsident eine Rede gehalten zur "Strategie des Friedens". Mitten im Kalten Krieg spricht der amerikanische Präsident von Frieden als dem "notwendigen rationalen Ziel vernünftiger Menschen".

Willy Brandt, zur Zeit der Rede von Kennedy war er Regierender Bürgermeister von West-Berlin, hat die Gedanken John F. Kennedys aufgenommen und für Deutschland eine Friedenspolitik entwickelt, auf deren Grundpfeiler wir uns auch heute noch rückbesinnen können. Natürlich, so Brandt, müsse auch Deutschland sich militärisch sichern. Er war fest verankert im westlichen Bündnis. Aber das Gleichgewicht des Schreckens müsse - ich zitiere Brandt - "zurücktreten hinter einen illusionslosen Versuch zur friedlichen Lösung von Problemen". Das sei eine richtige Strategie des Friedens.

Warum erinnere ich an Kennedy und Brandt? Bei Brandt hat es auch noch den Grund, dass er fast auf den Tag genau vor 40 Jahren Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission wurde, die sich die Frage gestellt hat, wie Arm und Reich auf der Welt besser miteinander leben können; die übrigens auch Fluchtbewegungen vorhergesagt hat und die sich auch mit dem Thema Rüstung und Abrüstung beschäftigt hat.

Aber das wichtige ist: Das waren zwei Leute - und mit ihnen ja auch viele andere mehr -, die zu einem Zeitpunkt, wo kaum einer an Entspannung und eine Welt mit weniger Waffen geglaubt hat, sondern eher die gesamte Tendenz in die andere Richtung ging, die diesen Gedanken von Abrüstung und Rüstungskontrolle in den Mittelpunkt ihres politischen Handels gestellt haben. Willy Brandt hat seine Entspannungspolitik endgültig 1968 formuliert, in dem Jahr, in dem der Warschauer Pakt in Prag einmarschiert ist. Eine der dunkelsten Stunden des Kalten Krieges.

Also die Lehre, die man daraus ziehen muss, ist, dass der Blick auf die aktuelle Lage nicht den Blick auf das verstellen darf, was eigentlich nötig ist für das friedliche Zusammenleben von Menschen. Wenn wir die Gedanken Kennedys und Brandts für uns heute nutzbar machen wollen, dann, so glaube ich, muss der erste Schritt eine - wie Brandt es formuliert hat - "illusionslose" Bestandsaufnahme sein. Wenn wir heute also nüchtern auf die sicherheitspolitische Lage schauen, dann kommen wir aus meiner Sicht zu einem ziemlich bedrückenden Befund.

Wir sind dabei, den Pfad zu verlassen, den wir ursprünglich nach dem Kalten Krieg eingeschlagen haben. Statt eines friedlichen Miteinanders droht die Gefahr eines neuen Wettrüstens, diesmal übrigens nicht nur zwischen Russland und der Nato, sondern weltweit. Wo immer Sie hinschauen, wird über Aufrüstung geredet: in China, in Indien, im pazifischen Raum, in Amerika, in Teilen Afrikas, in Europa. Wir bewegen uns in eine neue richtig große Aufrüstungsspirale. Bewährte Abrüstungsregime geraten unter Stress und einer vertrauensvollen Zusammenarbeit wird der Boden entzogen.

Das, was wir derzeit in Nordkorea erleben, zeigt uns, in welch gefährlicher Welt unsere Kinder und wir selber noch in ein paar Jahren landen könnten, wenn einzelne Staaten beginnen, sich eine atomare Bewaffnung verfügbar zu machen. Wenn Nordkorea mit seinem aggressiven Atomprogramm tatsächlich Erfolg haben sollte, dann werden sich auch andere Staaten überlegen - allemal in der Region, deshalb dürfte China eigentlich das größte Interesse an der Verhinderung einer nukleartisierten koreanischen Halbinsel haben, aber eben nicht nur in der Region -, ob sie zum Beispiel ihr eigenes Regime auch besser dadurch schützen können und Konflikte regionaler Natur besser beherrschen können oder in ihrem Sinne gestalten können, wenn sie sich atomare Waffen verschaffen. Dann allerdings ist die Welt ein noch gefährlicherer Welt Ort als zu den schwierigen Zeiten der Ost-West-Konfrontation.

Ich glaube, dass deshalb die bis heute in den Strategien der internationalen Politik verankerte Idee, es brauche ein Gleichgewicht des Schreckens, eigentlich nur die Situation in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt und nicht das, was uns in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts drohen kann. Denn wie soll bei einer Proliferation von Nuklearwaffen in viele Länder der Welt eigentlich ein "Gleichgewicht des Schreckens" - und vor allem zwischen wem - funktionieren?

Deshalb treten so erfahrene Außenpolitiker wie Henry Kissinger, der nun wirklich nicht zu den "peaceniks" dieser Welt gehört, so entschieden dafür ein, dass die Verbreitung von Atomwaffen gestoppt wird. Mehr noch, er sagt, eigentlich ist "Global Zero" das richtige Ziel. Er sagt, wenn wir verhindern wollen, dass viele Kleine sich bewaffnen wollen, müssen die, die heute als Großmächte im Besitz atomarer Waffen sind, eigentlich mit der Abrüstung beginnen, weil sie sonst nicht glaubwürdig agieren können.

Wir müssen jedoch auch achtgeben, dass der Konsens über die bestehenden abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Verträge gerade im nuklearen Bereich nicht weiter bröckelt, weil im Moment gerade das Gegenteil davon passiert, was Kissinger für richtig hält. Denn im Moment drohen historische Errungenschaften zurückgedreht zu werden.

Ich hatte kürzlich die Vertreter der sogenannten "Deep Cuts Commission" zu Gast. Wissenschaftler aus Russland, den USA und Deutschland, die sich seit Jahren mit der Frage der nuklearen Abrüstung beschäftigen. Sie sehen Risse in einem ganz wesentlichen Baustein der globalen Sicherheitsarchitektur.

Russland baut sein nichtstrategisches Nukleararsenal in Europa aus und steht unter Verdacht, den russisch-amerikanischen INF-Vertrag zu brechen, der durch das Verbot einer ganzen Waffenkategorie, nämlich landgestützter nuklearer Mittelstreckensysteme, ein Grundpfeiler europäischer Sicherheit ist. Wir haben ja in Deutschland zwei Jahre vor der deutschen Wiedervereinigung, vor dem Fall des Eisernen Vorhangs durch die Verabredungen von Gorbatschow und Reagan eine Friedensdividende bekommen, nämlich das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen, von der wir bis heute profitieren. Genau dieser Vertrag ist aber in Gefahr. Weil natürlich umgekehrt die Nato und die Vereinigten Staaten auch derzeit überlegen, ob sie diesen Vertrag nicht ad acta legen sollen.

Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen, die deutlich machen, wie sehr auch die konventionelle Rüstungskontrolle unter Druck gerät.

Erstens: Bei der Kontrolle konventioneller Waffen waren wir in Europa schon weiter als heute. Zehntausende von Panzern und anderem schweren militärischen Gerät wurden im Rahmen des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa, dem sogenannten KSE-Vertrag, nach 1990 verschrottet und die zukünftige Zahl nachprüfbar begrenzt. Alle Vertragsstaaten verpflichteten sich, ihre militärischen Stärken offenzulegen und Inspektionen darüber zuzulassen. Es ist uns in der Folge allerdings dann nicht gelungen, den Vertrag in angepasster Form zu vereinbaren und seit 2007 hat Russland die Umsetzung des Vertrags suspendiert.

Zweites Beispiel: Auch bei den vertrauensbildenden Maßnahmen, etwa zu militärischen Übungen in Grenznähe, liegt vieles im Argen. Nächste Woche findet in Russland und Weißrussland ein Großmanöver statt, möglicherweise eines der größten seit Ende des Kalten Krieges. Warum können so große Manöver nicht nach den geltenden Regeln angemeldet und umfassend beobachtet werden, um für Transparenz zu sorgen und potentielle Sorgen gar nicht aufkommen zu lassen?

Ja, auch westliche Staaten führen Manöver durch! Allerdings halten sich die Nato und die Alliierten dabei streng an die Vereinbarungen des Wiener Dokumentes und setzen diese durch rechtzeitige Notifikationen und Einladung von Beobachtern sowohl den Buchstaben als auch dem Geiste nach um.

Was sollen wir tun angesichts dieser Gemengelage? Die ganze Welt redet über Aufrüstung, bestehende nukleare Verträge stehen unter Druck, das gilt für New START, das gilt auch für das gerade geschlossene Atomabkommen mit dem Iran. Und gleichzeitig funktionieren im konventionellen Bereich die verabredeten Rüstungskontrollmechanismen nicht, die ja eigentlich Instrumente für schlechte Zeiten sind. Für Zeiten, in denen man sich nicht traut. In denen man deshalb den anderen einlädt und selbst hingeht und schaut, was der andere macht. In Zeiten von Misstrauen Vertrauen schaffen, nicht durch Abrüstung, sondern durch Rüstungskontrollmechanismen.

Was macht man da also? Ich meine, zuallererst muss man die Stimme erheben für eine Trendwende, die eben nicht diesem Mainstream, den wir derzeit haben, hinterher läuft. Dafür brauchen wir eine Schubumkehr im Denken und Handeln der politisch Verantwortlichen. Und vor allem brauchen wir eine Debatte darüber.

Kennedy und Brandt und ihre Nachfolger waren sicher nicht dafür zu beneiden, dass sie uns durch die ständige nukleare Eskalationsgefahr des Kalten Krieges führen mussten. Aber ich beneide sie und einige ihrer Nachfolger mindestens um eine Sache: Damals gab es eine breite öffentliche Debatte über Abrüstung.

Ich sehe diese internationale Debatte nicht. Ich sehe ausschließlich eine Diskussion über Aufrüstung. Wenn man sich im Nato-Außenministerrat meldet und dort sagt, wir müssten eigentlich auch über Rüstungskontrolle und Abrüstung reden, dann hat man fast den Eindruck, man stört. Dass das den politischen Willen der Anwesenden antreibt, der Gedanke nämlich, dass wir beides brauchen, "deterrence", aber auch Angebote zur Rüstungskontrolle und Abrüstung als gleichberechtige Grundlagen des politischen Handels, diesen Eindruck hat man zurzeit nicht. Und das gilt nicht nur für die Nato, sondern auch für Russland, für China, für Indien und viele andere.

Eine Öffentlichkeit, die die Regierungspolitik kritisch begleitet und oftmals auch angetrieben hat, ist zumindest auch ein Grund dafür, dass es damals in einem so zentralen Politikfeld zu guten Ergebnissen gekommen ist. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: 1986 haben sich Reagan und Gorbatschow in Reykjavik zu einem Gipfel getroffen. Auf der Tagesordnung: Abrüstung. Mehr als 3.000 Journalisten aus den USA haben sich auf den Weg dorthin gemacht, um in den Abendnachrichten in den USA live zu berichten, was dort in diesem kleinen weißen Haus auf Island zwischen den Vertretern der beiden Supermächte an Abrüstungsverhandlungen erreicht werden kann. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen.

Hier in Deutschland haben wir auch durchaus kontroverse öffentliche Auseinandersetzungen erlebt; jeder, der die Debatte - und die Demonstrationen - zum Nato-Doppelbeschluss miterlebt hat, weiß, wovon ich spreche!

Ich glaube wir brauchen auch heute eine intensive und auch weit kritischere öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema Abrüstung, denn letztlich ist es wieder eine Frage von Krieg und Frieden geworden. Nun ist es ja dankeswerter Weise so, dass heute mehr und breiter über Außenpolitik diskutiert wird als noch vor Jahren. Aber ich finde, die Diskussion, die sich eigentlich mit Rüstung und Abrüstung beschäftigten sollte, hat eine Schlagseite.

Wir reden derzeit nur über die militärische Absicherung gegen Gefahren. Das ist wichtig, keine Frage. Aber wir reden zu wenig über die Chancen für vertrauensbildende Maßnahmen, über Abrüstungsinitiativen, über gemeinsame Anstrengungen in der Rüstungskontrolle, über Vertrauensbildung. Mein Eindruck ist, dass wir manchmal einer Rüstungsorthodoxie folgen, ohne dabei zu bedenken, was langfristig unsere friedliche internationale Ordnung sicherstellt.

Natürlich brauchen wir in diesen Zeiten auch Sicherheit voreinander. Aber das alleine ist keine Lösung auf Dauer. Wir müssen zu einem multilateralen System zurückfinden, das Sicherheit miteinander gewährleistet, um auf dieser Grundlage auch Frieden dauerhaft zu sichern.

Dass "die allgemeine und vollständige Abrüstung", wie Kennedy sie sich vorgestellt hat, nicht über Nacht zu erreichen sein wird, dürfte jedem klar sein. Gerade deshalb bin ich überzeugt: Wir müssen mit vielen kleinen konkreten Schritten beharrlich auf dieses Ziel hinarbeiten und vor allem bei den Instrumenten der Rüstungskontrolle und der Vertrauensbildung beginnen. Dazu gehört, dass wir alles dafür tun, dass die Existenz bewährter Vereinbarungen nicht aufs Spiel gesetzt wird. Wir dürfen keine Anstrengungen scheuen, sie zu erhalten, gemeinsam weiterzuentwickeln oder - wo nötig - auch einen Neuanfang zu wagen, zum Beispiel in der konventionellen Rüstungskontrolle.

Das heißt, wir müssen einerseits die bereits existierenden Rüstungskontroll- und Abrüstungsregime wie den Vertrag über den Offenen Himmel, das Wiener Dokument oder das Chemiewaffenübereinkommen bewahren und übrigens auch auf ihre vertragsgetreue Umsetzung drängen. Andererseits die Initiative für die Schaffung neuer Regime der Rüstungskontrolle und Abrüstung ergreifen, dort wo das nötig ist. Das schließt Regeln für bislang Ungeregeltes mit ein, zum Beispiel bei autonomen Waffen. Wir brauchen also eine Architektur für Rüstungskontrolle und Abrüstung, die fit für das 21. Jahrhundert ist, und keine geopolitische Strategien aus dem 20. Jahrhundert.

Natürlich kann man in der gegenwärtigen schwierigen Situation, in der wir nicht nur die Sicherheit Europas bedroht sehen, nicht einfach sagen: "Give peace a chance." Es muss uns immer um friedliche Konfliktlösung gehen, aber eben wie Willy Brandt es beschrieben hat, auch durchaus aus einer militärisch gesicherten Position heraus. Wir sagen deshalb selbstverständlich "ja" zur Verteidigungsfähigkeit, zum Schutz unserer europäischen Freunde, unserer Partner in der Nato. Aber wir wollen auch Angebote zu Rüstungskontrolle und Abrüstung machen - gerade in Europa. Dabei ist die Einbeziehung aller europäischen Staaten in die Gespräche wichtig, so wie das in der OSZE bereits geschieht. Deshalb haben wir uns während unseres OSZE-Vorsitzes 2016 so intensiv für die Modernisierung des Wiener Dokuments eingesetzt und werden dies weiterhin tun.

Daneben müssen wir erkennen, dass nach der Suspendierung des KSE-Vertrags keine harten Rüstungskontrollregeln zwischen Russland und Nato mehr greifen. Das schafft Risiken und Gefahren. Deshalb schlug mein Vorgänger als Außenminister - der heutige Präsident unseres Landes, Frank-Walter Steinmeier - vor, neue Wege in der konventionellen Rüstungskontrolle zu gehen. Wir wollen diese Initiative erneut aufgreifen und weiterführen. Wir wollen uns daher dafür starkmachen, gemeinsam über Methoden und Ziele konventioneller Rüstungskontrolle in Europa nachzudenken und auch zu konkreten Ergebnisse zu kommen.

Und auch im nuklearen Bereich muss es Bewegung geben. Natürlich muss es uns jetzt um die Eindämmung von Nordkorea gehen. Aber wir müssen darüber hinaus denken. Nach wie vor stehen Russland und die USA als die Staaten, die über 90 Prozent der weltweiten Nuklearwaffen besitzen, in besonderer Verantwortung, nuklear abzurüsten und damit eine neue Ära der Entspannungspolitik einzuleiten.

Übrigens, wir diskutieren in Europa und in diesem Land viel über die aktuelle Ukraine-Krise, die wegen des aus unserer Sicht völkerrechtswidrigen Eingriffs der Russischen Föderation auf der Krim natürlich eher eine Phase der Konfrontation mitbegleitet hat. Trotzdem haben wir dafür plädiert, dass wir uns darauf konzentrieren, in der jetzigen Situation einen Waffenstillstand in der Ostukraine zu erreichen.

Gestern hat der russische Präsident Wladimir Putin einen Vorschlag gemacht, dem wir ihm als Deutsche seit längerer Zeit vorgetragen haben, nämlich weil wir wissen, dass die Special Monitoring Mission (SMM) der OSZE als unbewaffnete Einheit auch nachts in Gefahr ist, dort rauszugehen und zu kontrollieren. Weil wir wissen, dass beide Seiten den Waffenstillstand verletzen. Deshalb haben wir gesagt: Lasst uns überlegen, ob wir nicht eine Blauhelmmission der Vereinten Nationen dorthin bekommen. Um - nicht als Ersatz, aber als Begleitung, als Schutz, als parallele Institution zur SMM der OSZE - dort diesen Waffenstillstand zu überwachen.

Bislang hat Russland immer die Position eingenommen: Nur dann werden wir das mitmachen, wenn auch parallel Verhandlungen über den politischen Prozess beginnen. Die Ukraine hat, wie ich finde zu Recht, gesagt, solange es keinen Waffenstillstand gibt, kann ich nicht über Wahlen in der Ostukraine reden. Wir haben das für nachvollziehbar gehalten und haben den Russen gesagt: In Syrien plädiert Ihr dafür, erst einen Waffenstillstand zu machen und dann in Genf Friedensverhandlungen - warum nicht auch in der Ostukraine? Gestern hat der russische Präsident den Vorschlag veröffentlicht, dass er seinen Außenminister beauftragt habe, eine konzeptionelle Idee zu formulieren, um eine solche UN-Blauhelmmission in der Ostukraine einzusetzen.

Nun wissen wir alle, dass sich dahinter gefühlte tausend Fragen verbergen, zum Beispiel: Was sollen die machen, wofür sind sie zuständig, wer hat welche Interessen? All das wissen wir. Aber wir wären nicht klug beraten, wenn wir diesen öffentlichen Schritt des russischen Präsidenten, der eine echte Abkehr von der bisherigen Position ist, wenn wir den nicht aufgreifen würden und nicht sagen würden, wir sind froh, dass diese Initiative kommt. Jetzt lasst uns über die Frage reden, welche unterschiedlichen Vorschläge es gibt, das in die Praxis umzusetzen und in einen offensiven Verhandlungsprozess darüber zu gehen, wie man daraus etwas machen kann, was für beide Seiten, für die Ukraine, für Russland, für den Donbass eine befriedigende Hilfe ist, um zu einem Waffenstillstand, der auch hält, eingesetzt zu werden.

Übrigens glaube ich, dass danach eines der Angebote Europas sein muss, mitzuhelfen in der Ost-Ukraine den Wiederaufbau zu betreiben. Ich habe die finsteren Bilder aus dem letzten Winter noch in Erinnerung, wo zum Beispiel keine Wasser- und Abwasserversorgung da war. Ich glaube, dass das etwas ist, was wir dann beitragen können.

Davor werden noch viele Wochen und vielleicht auch Monate der Verhandlungen über den Vorschlag liegen. Wir wären aber nicht gut beraten, jetzt gleich zu sagen, nein, dahinter verbirgt sich bei Russland bestimmt ein finsterer Plan und deswegen wollen wir mit ihnen gar nicht erst darüber reden. Ich glaube, das wäre falsch. Wir sollten offensiv gucken, wie dieser Vorschlag realisiert werden kann, wie man dann, Schritt für Schritt, auch insgesamt zu einer größeren Entspannung kommen kann.

Meine Sorge ist, dass die jetzt gerade in Amerika diskutierten neuen Sanktionen gegen Russland eher dazu führen können, dass im russischen Wahlkampf eine stärker nationalistische Debatte stattfindet und wir auch von dort eher eine Abwendung von einer Entspannungspolitik erleben als eine Hinwendung. Und wenn es eine Stimme gibt, die am Gegenteil Interesse haben muss, dann ist es, glaube ich, die europäische und die deutsche Stimme.

Es ist längst klar: Selbst wenn die Rüstungskontrollregime noch funktionieren würden, sind sie teilweise veraltet und erodieren und halten mit der technologischen und logistischen Entwicklung - zum Beispiel im Bereich der Verlegefähigkeit von Truppen und militärischem Gerät - nicht mehr Schritt. Niemand konnte sich vor 20 Jahren vorstellen, mit welcher Geschwindigkeit heute Truppen zusammengezogen werden können und militärisches Großgerät über weite Entfernungen transportiert werden kann.

Wir wollen durch Rüstungskontrollvereinbarungen Transparenz, Vertrauen und letztlich eine stabile Balance erreichen - aber bitte auf niedrigem Niveau und nicht bis an die Zähne bewaffnet wie im Kalten Krieg. Wir als Deutschland müssen Friedensmacht bleiben und uns einer Rüstungsspirale entschieden entgegenstellen - aber dafür müssen wir auch auf unsere eigene Politik im Land schauen!

Willy Brandt hat, wie eingangs erwähnt, nach seiner Kanzlerschaft einer internationalen Kommission vorgesessen, der Nord-Süd-Kommission. Im Abschlussbericht hat Willy Brandt eine ganz beeindruckende Rechnung aufgemacht: Die Militärausgaben nur eines halben Tages hätten damals ausgereicht, um die gesamte damalige Malariabekämpfung der Weltgesundheitsorganisation zu finanzieren. Ich finde, die Rechnung gibt zu denken. Ich vermute, dass heute dafür nicht einmal mehr ein halber Tag, sondern vielleicht nur eine halbe Stunde notwendig wäre.

Ich bin mir sicher, dass man mit dem, was wir heute für Militär und Rüstung ausgeben, viel mehr als Gesundheitsprogramme finanzieren könnte. Wenn wir Krieg und Bürgerkrieg, Fundamentalismus und Islamismus, Fluchtbewegungen eindämmen wollen, dann wird es am Ende nicht ohne den Kampf gegen Hunger und Armut, Not und Elend und für mehr Hoffnung und Zukunftsperspektiven in den betroffenen Ländern gehen.

Wir erleben aber gerade auch in unserem Land eine Debatte, die völlig losgelöst von den Zielen von Militärpolitik einfach Zahlen nur für den Militärhaushalt verbreitet. Bei uns in Deutschland würde das zu einer Verdoppelung des Militärhaushalts führen: 70 Milliarden Euro sollen nach den Wünschen des amerikanischen Präsidenten in diesem Land für Rüstung ausgegeben werden. Der ganze Bundesaushalt hat nur 300 Milliarden und selbst Frankreich - immerhin eine Atommacht - setzt "nur" 40 Milliarden für die Rüstung ein.

Eigentlich brauchen wir viel mehr Geld, um Hunger, Armut und Entwicklungsrückstände zu bekämpfen und Bildung und Forschung voranzutreiben. Deswegen ist unser Vorschlag, dass Deutschland für jeden Euro, den wir in die bessere Ausrüstung unserer Bundeswehr stecken - das ist sicher notwendig, aber Ausrüstung ist etwas anderes als Aufrüstung - mindestens 1,5 Euro mehr in Krisenpräventionen, Stabilisierung und wirtschaftliche Zusammenarbeit investieren sollte.

Es geht also auch darum, wie wir als Nationalstaaten damit umgehen, im Bündnis, in der Kooperation mit anderen. Aber in der Tat geht es im Kern um eine Trendwende hin zu dem, was Friedensforscher wie Kennedy oder Brandt in ihrer Politik oder danach formuliert haben.

Der erste Schritt dazu ist mehr Vertrauensbildung und dies gelingt nur durch die Wiederinkraftsetzung der bisherigen Rüstungskontrollregime. Das ist der erste Schritt in Richtung Abrüstung und Entspannung.

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Quelle:
Bulletin 91-2 vom 6. September 2017
Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Sigmar Gabriel,
zur Eröffnung der internationalen Konferenz zur Zukunft der Rüstungskontrolle
"Making Conventional Arms Control Fit for the 21st Century" am 6. September 2017 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2017

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