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SICHERHEIT/050: Freiheit durch Sicherheit? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009

Freiheit durch Sicherheit?

Von Gert-Joachim Glaeßner


Unsicherheit, nicht Sicherheit ist ein Kennzeichen moderner Gesellschaften. Sicherheit ist angesichts des rasanten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandels eine elementare Kategorie moderner Gesellschaften und ein äußerst knappes Gut.

Abgesehen von der permanenten Bedrohung durch einen Atomkrieg wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Zeitenwende von 1989/90 das Sicherheitsversprechen des Staates als mehr oder weniger selbstverständlich hingenommen. Zwar erregte man sich über steigende Kriminalitätsraten und die wachsende Unsicherheit auf den Straßen, aber diese Probleme schienen - durch eine strenge Law-and-Order-Politik - lösbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielten Theorien der entwickelten Industriegesellschaft und der Modernisierung und das keynesianische Theorem staatlicher Steuerungsfähigkeit aber noch ein weiteres Sicherheitsversprechen vor: die sichere Erwartung stetigen wirtschaftlichen Wachstums und sozialer Sicherheit für die entwickelten Industriestaaten und in absehbarer Zukunft auch für die noch nicht entwickelten Länder. Wirtschaftliche Prosperität und soziale Sicherheit wurden in den meisten OECD-Staaten zum zentralen Element der Legitimation der politischen und sozialen Ordnung. Heute, nach dem Ende des "goldenen Zeitalters", ist offenkundig, dass diese Erwartungen enttäuscht wurden. Allmählich setzt sich die Einsicht durch, dass Sicherheit ein knappes und schwer zu sicherndes Kollektivgut ist.


Sicherheit und Freiheit als gesellschaftspolitische Aufgabe

Demokratische Staaten und Gesellschaften sind aber keine "Sicherheitsstaaten", die Gewährleistung von Sicherheit ist Mittel zum Zweck: Die Freiheit des Einzelnen und zugleich das Wohl des politischen und gesellschaftlichen Gemeinwesens zu schützen, ist die gleichrangige Aufgabe des Staates und der politischen Institutionen. Eine recht verstandene Sicherheitspolitik erschöpft sich nicht in der Gegenüberstellung von Sicherheit, die durch den Staat zu gewährleisten ist, und Freiheit, die den Individuen zusteht, sie muss vielmehr nach den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen fragen, die es ermöglichen, ja die befördern, dass beide zentralen Aspekte in einer offenen Gesellschaft in ihr Recht gesetzt werden.

Da genügt es nicht, Sicherheit als knappes Kollektivgut, Freiheit aber als individuelles Gut zu behandeln, werden doch Sicherheit und Freiheit in den entwickelten Industriestaaten nicht nur durch (organisierte) Kriminalität oder Terrorismus auf der einen und überbordende Ansprüche und Eingriffsmöglichkeiten der Sicherheitsbehörden auf der anderen gefährdet, sondern in erheblichem Maße auch durch das Schwinden der Kohäsion in den Gesellschaften.

Die etablierten Systeme des gesellschaftlichen Ausgleichs unterschiedlicher Lebenschancen und der sozialen Sicherung sind ernsthaft in Frage gestellt. Wirtschaftliche Dynamik, technologische Entwicklungen und mit ihnen verbundene Risiken, demografische und sozialstrukturelle Veränderungen kündigen de facto die erprobten Muster der Lastenverteilung und -umverteilung in einer Gesellschaft auf (das plastischste Beispiel ist der "Generationenvertrag"), die jahrhundertelang Grundlage jeder Gemeinschaftsordnung waren. Die Sicherung der Bedingungen des sozialen Zusammenlebens in einer sich in atemberaubendem Tempo verändernden Welt ist eine der wichtigsten Aufgaben der politischen Gemeinschaft und der staatlichen Institutionen. Sie ist eine Sicherheits- und Freiheitsaufgabe.

Der Grad der Gefährdung einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung ist nicht alleine von der Komponente Macht, also dem Umfang und der Leistungsfähigkeit staatlicher Zwangsmittel abhängig, sondern auch von der Art und Weise, wie die Gesellschaft strukturiert und konturiert ist. Weist sie einen hohen Integrationsgrad und Zusammenhalt auf, ist sie eher in der Lage mit Gefährdungssituationen umzugehen, als wenn sie in sich gespalten und von tiefen Bruchlinien durchzogen ist.

Ein Staat mit schwach ausgeprägter politischer und militärischer Macht und einer in sich gespaltenen Gesellschaft ist möglichen Bedrohungen und Angriffen von Außen, aber auch von Seiten innerer Gegner relativ schutzlos ausgeliefert. Die Gefährdung von Innen reduziert sich in dem Maße, wie es der Politik gelingt, die Rahmenbedingungen zu schaffen und Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, die es einem großen Teil der Bevölkerung erlauben, im Rahmen der Rechtsordnung nach ihren Vorstellungen zu leben. Soziale Chancen und politische Inklusion erhöhen die Legitimität einer politischen Ordnung und machen sie damit "sicherer" und weniger anfällig gegen Störungen. Die militärische Schwäche kleiner Staaten kann durch diplomatische Mittel und eine kluge Bündnispolitik ausgeglichen, aber nicht völlig beseitigt werden.

Gelingt es starken Staaten nicht, sich der Zustimmung der gesellschaftlichen Kräfte und sozialen Gruppierungen zu vergewissern, können sie sich trotz aller militärischen und sonstigen Stärke als schwach und anfällig erweisen. Dies erklärt die relative Schwäche von Militärdiktaturen, die, wie kein anderes Regime, über die geballten Machtmittel eines Staates verfügen können.

Starke Staaten mit einer großen politischen und sozialen Kohäsion sind am besten in der Lage, sich gegen Bedrohungen verschiedener Art zu wehren. Das Modell eines starken Staates und einer starken Gesellschaft ist für die weitere Argumentation zentral: Es verweist auf die Notwendigkeit, Sicherheit nicht nur als eine Zielsetzung staatlicher Institutionen wie Militär, Polizei und Justiz zu begreifen, sondern als eine Aufgabe, die nur in Zusammenarbeit mit der Bürgergesellschaft erfolgreich bewältigt werden kann.


Das Risiko Staat

Angesichts der neuen Bedrohungslage gerät häufig in den Hintergrund, wie weit legitimerweise die Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten des Staates bei der Gefahrenabwehr zu bestimmen seien. Nur ein naiver Glaube an die Selbstbindung staatlicher Gewalt kann ohne Zweifel davon ausgehen, dass staatliches Handeln die feine Linie zwischen Sicherheitsgewährleistung nnd Freiheitssicherung nicht überschreitet. Man muss nicht die jüngste Geschichte bemühen, um festzuhalten, dass auch demokratische Staaten nicht immun gegenüber Einschränkungen der Freiheit sind, wenn es gilt, reale oder imaginierte Feinde des Staates oder der gesellschaftlichen Ordnung zu verfolgen. Eine prominente Rolle spielt stets das Argument, die "nationale Sicherheit" erfordere harte und unpopuläre Maßnahmen und die Anwendung von Gewalt auch im Inneren.

Mit der Ausbreitung des internationalen Terrorismus hat der Begriff "nationale Sicherheit" eine neue Prominenz entwickelt und wird zunehmend auch zu einer Legitimationsklausel für die Sicherheitspolitik demokratischer Regierungen. Er verweist nicht nur auf die militärischen Aspekte einer äußeren Bedrohung, sondern auch auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren, seien es Wirtschaftsspionage, ernsthafte Gefährdungen des Wirtschaftsablaufes, der technischen Infrastruktur, das Wirken feindlicher politischer Gruppen oder Vereinigungen, und vor allem Gefährdungen durch den Terrorismus. Die Grenzen zwischen äußerer und innerer Sicherheit verschwimmen, und nicht konformes Verhalten gerät leicht in den Verdacht, die Sicherheit der Nation zu beeinträchtigen, das Bild des Feindes ist diffus. Sicherheit wird zur obersten Priorität.

Diese Form des Sicherheitsdenkens bringt den Staat in eine zwiespältige Situation: Ohne jeden Zweifel hat er Frieden zu stiften, indem er Sicherheit und Ordnung in einer Gesellschaft garantiert. Zugleich bleibt er eine latente Quelle von Gefährdungen für die Freiheit der Bürger. Daher gilt es, ihm Kompetenzen zu übertragen, damit er seine Kernaufgaben erfüllen kann und zugleich Zügel anzulegen, damit er nicht hypertroph wird.

Schutzmaßnahmen gegen ungebührliche Machtkonzentration und Machtmissbrauch sind die klassischen Institute der Gewaltenteilung, der Herrschaft des formalen Rechts über politische Willkür und der unabhängigen richterlichen Kontrolle von Entscheidungen, um einer Diktatur der Mehrheit den Weg zu verbauen. Im Verhältnis zu den Bürgern geht es um die Bestimmung der Bedingungen, unter denen diese ihre individuelle Autonomie aufgeben und sich Regeln unterwerfen, die sie nur noch bedingt zu beeinflussen vermögen. Freiheit wird hier negativ, als Abwehrrecht, nicht positiv, als Beteiligungsrecht formuliert. Das Argument zielt vordringlich auf die Art und Weise und den Grad, in dem diese Freiheitsbeschränkungen als legitim erachtet werden und welche Schutzmechanismen von Nöten sind, um einen Damm zu errichten gegen Machtmissbrauch, den willkürlichen Gebrauch von Macht, arbiträre und einseitige Entscheidungen und den Hang zur Geheimhaltung von Informationen und Handlungen mit dem Argument, eine Offenlegung gefährde die Sicherheit.


Sicherheit in Freiheit?

Dies bringt uns unweigerlich zu der entscheidenden Frage: Wer wird und mit welchen Mitteln in Zukunft das teure Kollektivgut Sicherheit gewährleisten können, wenn die dafür eingesetzte Macht, wenn der Staat, dazu nicht mehr in vollem Umfange in der Lage ist oder auf Grund der Funktionsmechanismen demokratischer Politik und Legitimation nur bedingt problem- und sachorientiert reagieren kann? Wer hält das labile Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit aufrecht, wenn, wie in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die bislang einzig in vollem Umfang demokratisch legitimierte Einrichtung, nämlich der demokratische Rechtsstaat, Funktionen der Sicherheitsgewährleistung an einen Staatenverbund abgibt, der diese Legitimitätsstandards noch nicht voll erfüllt und zudem in seinen Mitgliedsstaaten unterschiedlichen Rechtstraditionen verpflichtet ist? Kann, auf der anderen Seite, Sicherheit überhaupt gewährleistet werden, wenn die größten Bedrohungen für Leben, körperliche Unversehrtheit und das Eigentum der Bürger von Kräften ausgeht, die über Staatsgrenzen hinweg agieren und international vernetzt sind? Eine sicherheitstheoretische und -politische Neuorientierung erscheint unabdingbar.

Im Konfliktfeld zwischen der Sicherheitsaufgabe des Staates (heute auch zwischen- und suprastaatlicher Einrichtungen) und der Freiheitssphäre der Bürger gewinnen Prinzipien der Gerechtigkeit und Fairness, der Responsivität von Sicherheit gewährleistenden Institutionen und der Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen gegenüber den klassischen repressiven Vorstellungen von Sicherheitsspezialisten an Bedeutung. Angesichts diffuser und unvorhersehbarer Bedrohungen und Gefahren, wie sie grenzüberschreitende Kriminalität oder internationaler Terrorismus bedeuten, sind Staaten geneigt, alle Machtmittel, die ihnen zur Verfügung stehen, einzusetzen, um diesen Gefahren entgegenzutreten auch auf Kosten der Freiheitsrechte der Bürger. Demokratische Staaten sind vor einer solchen Überreaktion nicht gefeit. Sie sind angesichts der neuen Sicherheitsgefährdungen als alleinige und einzig im vollen Umfang demokratisch autorisierte Garanten von Sicherheit und Ordnung überfordert. Sie haben ihr Monopol bereits in wichtigen Bereichen aufgeben müssen oder freiwillig geräumt. Ihre neue Rolle im Widerstreit gesellschaftlicher Gruppen und Interessen, internationaler Regime, supranationaler Institutionen und intergouvernementaler Zusammenarbeit, aber auch der Desintegration, des Zerfalls von Stsatlichkeit, der "Reprivatisierung des Krieges" und des international agierenden Terrorismus ist noch nicht gefunden.


Gert-Joachim Glaeßner (* 1944) ist Professor für Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland am Institut für Sozialwissenschaften der HU Berlin. Publikationen u.a. zur DDR- und Kommunismusforschung, zur Demokratieentwicklung in postkommunistischen Staaten, zur deutschen Innenpolitik und zum Zusammenhang von Sicherheit und Freiheit.
glaessner@hu-berlin.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009, S. 16-19
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2010