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WISSENSCHAFT/1261: Gräben überwinden - Dialog und Verständnis zwischen Ost und West (Leibniz-Journal)


Leibniz-Journal -
Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 4/2014

Gräben überwinden
Ein europäisches Ost-West-Wissenschaftszentrum könnte als Brücke der Völkerverständigung zwischen Europa und Russland fungieren

Von Peter Haslinger


Der Historiker Peter Haslinger skizziert auf der Jahrestagung der Leibniz-Gemeinschaft seine Vision vom Beitrag der Wissenschaft für Dialog und Verständnis zwischen Ost und West in politisch angespannten Zeiten.


"Mir fällt heute Abend die ehrenvolle Aufgabe zu, ein neues Leibniz-Format erstmals mit Leben zu füllen. Um den Funken aber zünden zu können, würde ich gerne jene atmosphärischen Spannungen aufnehmen, die Europa und die Welt seit etwa einem Jahr elektrisieren und zunehmend ratlos gemacht haben. Es geht konkret um den Status der Krim, die Zukunft der Ukraine und das Verhältnis Europas zu Russland, also insgesamt um Fragen, die uns in den kommenden Monaten und vielleicht Jahren noch intensiv und sehr direkt betreffen werden. Denn es dreht sich hier nicht allein um eine komplexe und auch schwierige wirtschaftliche und soziale Stabilisierung wie in den südeuropäischen Ländern. Hier stehen die Sicherheitsarchitektur des Kontinents und die Wertebasis europäischer Politik mit auf dem Spiel.


Quadratur des Kreises

Was kann in einer solchen Situation überhaupt die Aufgabe der Wissenschaft sein? Wie soll sich konkret eine Wissenschaftsorganisation wie die Leibniz-Gemeinschaft im Prozess der "science diplomacy" produktiv einbringen? Folgen wir dem Gebot der Stunde, so gleicht die Aufgabe zunächst einer Quadratur des Kreises: Es gilt, Dialogfähigkeit auf streng wissenschaftlicher Grundlage zu garantieren, ohne aber gleichzeitig all das zur Disposition zu stellen, was seit Ende des Zweiten Weltkriegs mit guten Gründen "common sense" europäischer Politik gewesen ist. Auch erfordert diese Aufgabe einen besonders großen Resonanzraum, um alle relevanten Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen. Und sie kann keinesfalls ein rein national isoliertes Anliegen bleiben.

Wenn wir uns so umsehen, entdecken wir hier eine offene Leerstelle. Mein Fazit lautet daher: Wir brauchen neue, kooperative und grenzüberschreitend angelegte Formate der Forschung und Wissenskommunikation - und zwar besser früher als später.


Vergangenheit in der Gegenwart

Als Historiker bin ich kein Zukunftsforscher - meine Aufgabe ist es, gesellschaftliche Erfahrungen der Vergangenheit in einer Weise abrufbar zu machen, die ihre Einordnung in längerfristige, auch aktuelle Prozesse ermöglicht. Wo die Vergangenheit in der politischen Gegenwart aber so omnipräsent ist wie in diesem Jahr - und sei es in geopolitischen Formeln wie "Eurasien" oder "Neurussland" (Novorossiya) - ist ohne Zweifel der Punkt erreicht, doch Zukunftsvisionen zu entwickeln. Diese sind auch aus anderen Gründen inzwischen bitter nötig: In den östlichsten EU-Staaten bedingt die Rückkehr von Bedrohungsgefühlen ein geradezu beängstigend schnelles Abreißen der wissenschaftlichen Kontakte (wie etwa im Baltikum, wo es erste Direktiven gibt, keine Konferenzreisen mehr nach Russland anzutreten).

Lassen Sie mich daher meine Zukunftsvision in eine Idee, vielleicht auch in einen Traum fassen: In die Vision eines Europäischen Ost-West-Wissenschaftszentrums. Im Kern sehe ich hier ein strukturiertes Programm, das junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in grenzüberschreitend arbeitenden Forschergruppen miteinander vernetzt. Ziel ist die gemeinsame Entwicklung von Langfristprojekten mit interdisziplinärer Anschlussfähigkeit, die durch Gastaufenthalte dieser Nachwuchsgruppen an denkooperierenden Einrichtungen erheblich an Kontur gewinnen. Unterstützt würden sie dort auch durch ein eigenes Mentoringprogramm, das sich am schon bestens etablierten Leibniz-Format orientiert und die individuelle Karriereplanungen für universitäre wie außeruniversitäre, wissenschaftsnahe Bereiche wirkungsvoll unterstützt.

Wie Sie sehen können, zielt meine Vision auf exzellente Forschung, deren Innovation sich auch aus umfassenden Einblicken in gelebte Formen internationalerZusammenarbeit ergibt. Und es geht um ein Forschungsmodell, das die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Zukunft über eigens entwickelte Formate in direkten Kontakt bringt mit Stakeholdern und Expertinnen und Experten aus allen europäischen Ländern. Denn ein Europäisches Ost-West-Wissenschaftszentrum kann noch mehr: Eine zweite Säule würde Politikberatung und Transfer zum Ziel haben, und zwar sowohl im politisch-administrativen Raum als auch in wissenschaftsnahen Bereichen (wie z. B. bei NGOs, Medien, Museen, Gedenkstätten oder Archiven).


Virtuelle Wissensangebote

Einem eigenen Expertenkreis aller Konsortialpartner kommt dabei die Aufgabe zu, sich regelmäßig über aktuelle Probleme und unterschiedliche Sichtweisen auszutauschen und bei Bedarf auch forschungsethische oder geschichtspolitische Handlungsempfehlungen zu entwickeln. So kann ein Ost-West-Zentrum Themen und Herausforderungen fokussieren, die für das europäische Selbstverständnis und die Wissenschaftskontakte zum Osten Europas zentral sind. Diese wissenschaftlich fundierte Politikberatung wäre eine kompetent begleitete soziale Infrastruktur, vielleicht mit mehreren Standorten, und stünde Interessenten auf europäischer wie nationaler Ebene offen - von Portugal bis Finnland und von Irland bis Zypern.

Eine dritte Chance liegt schließlich im Aufbau virtueller Wissensangebote, d.h. von Forschungs- und Informationsinfrastrukturen, die sprachenübergreifend und multiperspektivisch aufgebaut sind - und schon dadurch anschlussfähig bleiben für wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Initiativen aus Ländern wie Russland, Belarus oder Aserbeidschan.


Leibniz-Schwerpunkt Osteuropa

Soweit die Vision. Wenn sie nicht reine Utopie bleiben soll, so werden Sie sich sicher fragen, wer kann denn eine solche Idee überhaupt realisieren? Und Sie werden nicht wirklich überrascht sein, wenn Sie jetzt von mir hören: Unter den vier großen deutschen Wissenschaftsorganisationen ist es die Leibniz-Gemeinschaft, die prädestiniert dazu ist, entsprechende Initiativen zu entfalten. Wie auch der Wissenschaftsrat jüngst festgehalten hat, verfügt Leibniz im Vergleich über die mit Abstand größte Kompetenzdichte: Institute mit einem sichtbaren Fokus auf der östlichen Hälfte Europas - wie in Marburgoder Halle - werden stimmig ergänzt durch Einrichtungen,die dauerhaft einen Osteuropaschwerpunkt aufgebaut haben (hier reicht das Spektrum von der Zeit- und Universalgeschichte über die Schulbuchforschung und die Sprachwissenschaft, von den Geo- und Raumwissenschaften bis zur Friedens- und Konfliktforschung). Gerade in Hinblickauf aktuelle Herausforderungensind daran zahlreiche weitere Schwerpunkte (wie Ökologie,die Energie- und Wirtschaftswissenschaften, überhaupt eine ganze Bandbreite an sozial- und bildungswissenschaftlichen Methoden und Zugänge) in hohem Grade anschlussfähig.

Diese Kompetenzdichte ist selbst im internationalen Vergleich beeindruckend. Bei der Umsetzung der Zentrumsvision braucht jedoch auch Leibniz starke und verlässliche Partner in den Zielländern. Werfen wir daher einen Blick zurück ins Jahr 2012: Damals begann nicht weit von der polnisch-russischen Grenze, im ehemaligen Ostpreußen, der intensive Austausch zwischen der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Gemeinschaft. Erklärtes Ziel war es, die Geistes-, Sozial- und Raumwissenschaften in Polen und Deutschland dialogisch aufeinander zu beziehen und Netzwerke zur gemeinsamen Nachwuchsförderung, zur Beratung und Infrastrukturentwicklung aufzubauen. Und schon damals, also noch vor dem Einsetzen der aktuellen Entwicklungen in der Ukraine, war das gemeinsame Interesse mit Händen zu greifen, dabei auch Partner östlich von Polen in die Initiative mit einzubeziehen. Diese bereits gelebte Kooperation könnte daher der Kristallisationskern sein für ein Konsortium, das uns der Vision vielleicht schneller näher bringen wird als wir dies heute erwarten würden - mit Europa als Partner und Förderer in diesem für die zukünftige Entwicklung unseres Kontinents so wichtigen Feld.


Neue Brüche vermeiden

Ganze 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, zehn Jahre nach der ersten Runde der EU-Osterweiterung und ein Jahr nach dem Beginn der Proteste auf dem Majdan im Herzen Kiews wird sich in allernächster Zukunft entscheiden, ob wir in Europa erneut [...] mit tiefen Bruchlinien konfrontiert sein werden. Dass aber Wissenskulturen wieder verinseln, dass nationale Deutungsmauern erneut hochgezogen werden und Wissenschaftskontakte an Staatsgrenzen ausdünnen oder gar ganz abreißen, das kann niemandem wirklich am Herzen liegen. Vor allem nicht einer Generation, die - wie auch ich selbst - die Systemgrenze in der Mitte Europas (und auch in der Mitte Deutschlands) noch bewusst miterlebt hat."


Peter Haslinger ist Direktor des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung der Leibniz-Gemeinschaft und Professor für die Geschichte Ostmitteleuropas am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen.

*

Quelle:
Leibniz-Journal 4/2014, Seite 36-38
Herausgeber: Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
Matthias Kleiner
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Telefax: 030 / 20 60 49-55
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2015

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