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FRIEDEN/1059: Palästinenser im Westjordanland von massenhafter Ausweisung bedroht (SB)



Wenn vom Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern die Rede ist, scheinen zwei monolitihische Blöcke einander gegenüberzustehen. Dem ist auf beiden Seiten nicht so. Im Falle der israelischen Gesellschaft allerdings sind die Bruchlinien zwischen den verschiedenen Gruppen der jüdischen Bevölkerung vor allem sozial und ideologisch bestimmt, so daß es letztlich der demokratischen Selbstbestimmung der Israelis obliegt, diesen Konflikt beizulegen. Im Falle der Palästinenser gesellt sich zu den bei ihnen nicht minder vorhandenen sozialen und ideologischen Widersprüchen ein Besatzungsregime, das die Austragung der ihrer Gesellschaft inhärenten Konflikte noch schwieriger macht, als es ohnehin schon ist. Während die innere Spaltung im Zerwürfnis zwischen Fatah und Hamas ihren politisch zerstörerischsten Ausdruck findet, gibt es für die Lösung des Konflikts zwischen armer Bevölkerung und reicher Oligarchie kaum eine Handhabe, wird die soziale Problematik doch durch die alle Palästinenser betreffende Besatzungspolitik überwölbt. Der daraus resultierende Einfluß auf die Sicherung mancher Privilegien politischer Funktionäre durch Allianzen mit den Verbündeten Israels oder der israelischen Regierung verkompliziert dieses Problem zusätzlich.

Von einem einheitlichen Vorgehen der Palästinenser gegenüber dem Besatzungsregime Israels kann aber auch deshalb keine Rede sein, weil es sich einer höchst differenzierten Strategie des Teilens und Herrschens bedient. So zerfällt die palästinensische Bevölkerung unter israelischer Administration in diverse Gruppen mit unterschiedlichen Privilegien, die es den jeweiligen Mitgliedern um so schwerer macht, zu einer gemeinsamen Handlungsfähigkeit zurückzufinden, was den tieferen Sinn dieser Politik erklärt. Während die palästinensischen Bürger Israels trotz der Tatsache, daß sie gegenüber der jüdischen Bevölkerung rechtlich und politisch benachteiligt sind, ökonomisch am besten gestellt sind und die meisten Freiheiten genießen, müssen sich die palästinensischen Bewohner Ostjerusalems mit erheblichen Einschränkungen wie nur in Ausnahmefällen gewährter Baugenehmigungen oder des Verlusts des Wohnrechts bei längerfristiger Abwesenheit abfinden. Die israelische Regierung sorgt mit einer subtilen Strategie der Begünstigung der jüdischen und Benachteiligung der palästinensischen Bewohner Ostjerusalems dafür, daß in dem von ihr annektierten Teil der Stadt Tatsachen geschaffen werden, die diesen Status unumkehrbar machen sollen.

Nicht besser ergeht es den Bewohnern des Westjordanlands, die nicht nur nicht nach Ostjerusalem reisen dürfen, sondern ständig mit einem dichtgewebten Netz der Überwachung und Bewegungseinschränkung konfrontiert sind. Die territoriale Differenzierung zwischen relativer Selbstverwaltung und direkter Kontrollgewalt des israelischen Militärs hat einen Flickenteppich aus Enklaven und Sperrgebieten geschaffen, der die Aussicht auf einen eigenen Staat in weite Ferne hat rücken lassen. Am schlechtesten ergeht es den im Gazastreifen lebenden Palästinensern, stehen sie doch unter einem faktischen Belagerungszustand, mit dem das kleine Gebiet ökonomisch ausgezehrt wird und der es seinen Bewohnern so gut wie unmöglich macht, es zu verlassen. Nicht zu vergessen schließlich sind die palästinensischen Flüchtlinge, die mehrheitlich in den Nachbarstaaten, häufig unter elenden Bedingungen, leben und ansonsten über die ganze Welt verstreut sind. Auch wenn die Diaspora nicht unter den direkten Folgen der israelischen Besatzungspolitik zu leiden hat, ist sie doch durch die Verweigerung des Rückkehrrechts in ihre angestammten Siedlungsgebiete und durch die Aussicht, in den Palästinensergebieten der dort herrschenden Repression ausgesetzt zu sein, mittelbar von ihr betroffen. Ebenfalls nicht zu vergessen sind die über 10.000 politischen Gefangenen, deren Entrechtung in israelischer Haft der Strategie des Teilens und Herrschens eine weitere Facette hinzufügt.

Kein geringerer als der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak hat im Januar davor gewarnt, daß das Scheitern der Zweistaatenlösung dazu führe, daß das Gebiet zwischen dem Jordanfluß und dem Mittelmeer zu einem dauerhaften "Apartheid-Staat" werde. Der von Verteidigern der israelischen Besatzungspolitik als unangemessen, wenn nicht antisemitisch verworfene Vergleich der Situation in Palästina mit der in Südafrika zur Zeit des weißen Apartheidregimes ist vor allem seit der Errichtung der Trennmauer auf palästinensischem Gebiet zu einem Schlagwort geworden, dessen impliziter Rassismusvorwurf zu widerlegen angesichts des an den Palästinensern exekutierten kolonialistischen Gewaltverhältnisses immer schwerer fällt.

Als wollte Barak selbst dazu beitragen, diesem Vorwurf neue Nahrung zu geben, ist am Dienstag eine von den israelischen Streitkräften verfügte Verordnung in Kraft getreten, die alle Personen, die sich ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung im Westjordanland aufhalten, als "Infiltratoren" abstempelt und sie mit ihrer Deportation innerhalb von 72 Stunden respektive einer Haftstrafe von bis zu sieben Jahren bedroht. Welche konkreten Folgen die am 13. Oktober 2009 getroffene Entscheidung haben wird, die bereits seit 1969 in Kraft befindliche Politik der Sanktionierung angeblicher "Eindringlinge" - gemeint waren vor allem Palästinenser, die in den arabischen Nachbarstaaten Zuflucht gefunden hatten - innerhalb eines halben Jahres zu verschärfen, bleibt abzuwarten. Allem Anschein nach ist sie nun insbesondere gegen Palästinenser aus dem Gazastreifen gerichtet, die häufig aus familiären Gründen ins Westjordanland ziehen und dort mitunter schon in der zweiten Generation leben, ohne eine reguläre Aufenthaltserlaubnis zu besitzen.

Die israelische Militärverwaltung hat in den letzten zehn Jahren versucht, den Zuzug ins Westjordanland zu verringern, indem sie die Ausgabe neuer Aufenthaltsgenehmigungen meist verweigerte. Parallel dazu wurde der Personenverkehr zwischen Gaza und der Westbank immer mehr eingeschränkt, so daß ganze Familien auseinandergerissen wurden. Laut der Palästinensischen Autonomiebehörde wären 70.000 bis 80.000 aus Gaza stammende Palästinenser von der verschärften Abwehr sogenannter Infiltratoren betroffen, aber auch alle anderen Personen, die ohne eine Aufenthaltsgenehmigung des israelischen Militärs an einem der vielen Checkpoints entdeckt werden. So befürchten die zehn Menschenrechtsorganisationen, die gegen die Verordnung Protest eingelegt haben, daß die Arbeit ihrer Mitglieder auch dann, wenn es sich nicht um Palästinenser handelt, durch die neue Regelung eingeschränkt werden könnte. Die israelische Regierung ging in jüngster Zeit verstärkt mit Schikanen gegen Aktivisten humanitärer Organisationen und sozialer Bewegungen vor, um die Aufklärung über Menschenrechtsvergehen an der palästinensischen Bevölkerung zu behindern.

Laut dem Anwalt der israelischen Menschenrechtsorganisation Hamoked, Elad Cahana, hat die israelische Militärverwaltung des Westjordanlands auch den meisten dort seit ehedem lebenden Palästinensern keine Dokumente ausgestellt, die einen Rechtsanspruch auf ihre Anwesenheit begründen (Jerusalem Post, 12.04.2010). Der Ansicht der Menschenrechtsorganisationen nach sind deren Maßgaben so weitreichend auslegbar, daß die israelische Armee theoretisch die Möglichkeit besäße, fast alle palästinensischen Bewohner des Westjordanlands auszuweisen.

Damit ist über den Vorwurf, daß Israel ein Apartheidregime in den Palästinensergebieten etabliert hat, hinaus die Möglichkeit einer Fortsetzung jener Vertreibungspolitik gegeben, die die Staatsgründung Israels mit einem bis heute unbewältigten Legitimationsdefizit versieht. Im mindesten Fall besäße die israelische Regierung damit ein weiteres Mittel, die Palästinenser in Schach zu halten. Deren Separierung in diverse Klassen von Israel verfügter Einschränkungen der Möglichkeit, eigenständig darüber zu befinden, wo man leben und wohin man sich bewegen möchte, verkörpert die faktische Widerlegung des angeblich von der israelischen Regierung angestrebten Ziels palästinensischer Eigenstaatlichkeit. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Verordnung, die eine ganze Bevölkerung zum Objekt staatlicher Willkür erklärt, am Tag nach dem nationalen Holocaustgedenktag Israels trägt nicht gerade dazu bei, die Glaubwürdigkeit dieses Gedenkens von dem Verdacht seiner eigennützigen Instrumentalisierung freizuhalten.

14. April 2010