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HEGEMONIE/1618: Afghanistan und anderswo ... neokonservative Weltordnung nach Josef Joffe (SB)



Die gemäßigten Kritiker des Afghanistankriegs, die die Auffassung vertreten, man müsse das Land durch den stärkeren Einsatz ziviler Aufbauhilfe, mehr afghanische Polizeibeamte und die weitere Aufrüstung der afghanischen Regierungstruppen stabilisieren, machen die Rechnung ohne den Wirt. Acht Jahre nach seiner Eroberung kann mit hinlänglicher Gewißheit festgestellt werden, daß die Besatzer im allgemeinen und die USA im besonderen niemals vorhatten, Afghanistan unter Einschluß aller seiner Bürger zu befrieden. Wie schon die von den USA und der BRD betriebene Vorsortierung der Delegierten, die auf der Petersberg-Konferenz Ende 2001 die Grundlage für eine Nachkriegsordnung schaffen sollten, gezeigt hat, bleibt der sogenannte demokratische Prozeß eine Geisel der geostrategischen Interessen, aufgrund derer das Land in erster Linie erobert wurde. Der Ausschluß der gestürzten Taliban-Regierung, die zuvor 90 Prozent Afghanistans beherrscht hatte, hat sich acht Jahre später als Einstieg in einen dauerhaften Bürgerkrieg wie Widerstandskampf gegen die Besatzungsmächte erwiesen.

Wie sich des weiteren herausgestellt hat, ist die Tauglichkeit der jeweiligen politischen Akteure für Menschenrechte und Demokratie so beliebig wie ihre Instrumentalisierung durch die Eroberer des Landes. Die US-Regierung hatte vor dem 11. September 2001 durchaus gute Kontakte zur Taliban-Führung. Das hinderte die Bush-Administration nicht daran, mehrere Angebote der Kabuler Regierung, den angeblichen Urheber der Anschläge, Osama bin Laden, bei Vorlage entsprechender Beweise auszuliefern, zu ignorieren. Gleichzeitig hat sie mit den Mujahedin der Nordallianz Verbündete gewählt, deren Umgang mit Frauen, der Zivilbevölkerung und Angehörigen anderer Ethnien der drakonischen Justiz und Moral der Taliban in nichts nachsteht. Zudem haben die Kriegssieger mit der Bevorteilung ethnischer Minderheiten die ohnehin problematische Struktur der afghanischen Gesellschaft vollends aus dem Lot gebracht, so daß eine Lösung im Konsens aller Bürger des Landes immer schwerer zu erreichen ist.

Der hochgradige Verschleiß an Zwecken und Zielen, mit denen die Fortsetzung der Besatzungspolitik begründet wird, und die Indifferenz der öffentlichen Debatte in den NATO-Staaten vertieft deren Legitimationsproblem. Die Zustimmung unter ihren Bürgern schwindet, zumal immer weniger einsichtig erscheint, wieso umfangreiche öffentliche Mittel in ferne Kriege gelenkt werden, die im eigenen Land dringender denn je benötigt werden. Die in der Bundesrepublik von den Regierungsparteien sowie FDP und Grünen angebotenen Perspektiven über einen Abzug der Bundeswehr nach Etablierung einer gewissen Handlungsfähigkeit der afghanischen Regierung werden durch die Ausweitung der Kämpfe und die ungeklärte Frage, wie sie ohne den Abzug der NATO zu beenden sind, ad absurdum geführt. Es handelt sich um wahlstrategische Manöver, mit der das wachsenden Unbehagen der Bundesbürger an diesem Krieg beschwichtigt werden soll.

Es ist daher an der Zeit, hinter die Propagandafassaden zu blicken und die Kräfte und Interessen, die die Kriegsbereitschaft der NATO-Regierungen trotz des Unwillens ihrer Bevölkerungen sicherstellen, in den Mittelpunkt der Debatte zu ziehen. Hinweise darauf finden sich in den lauter werdenden Beschwörungen der Unverzichtbarkeit US-amerikanischer Globalhegemonie.

So hält Josef Joffe, Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit und einer der führenden transatlantischen Publizisten der Republik, in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift IP der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP), ihrerseits einer der einflußreichsten Think Tanks Deutschlands, ein Plädoyer für die Vormachtstellung der USA. Er erteilt allen Schwarzsehern, die deren Niedergang prognostizieren, unter anderem anhand der Relativierung des wirtschaftlichen Erfolgs Chinas und der angeblich ungenügenden Bereitschaft der EU zur entschiedenen Kriegführung eine Absage, um die Unverzichtbarkeit der USA als Garantiemacht der kapitalistischen Weltordnung zu konstatieren.

Aus dem von Joffe angestellten Abgleich der militärischen Durchsetzungskraft weltpolitisch bedeutsamer Staaten geht hervor, daß die USA gerade in dieser Hinsicht durch niemanden zu ersetzen seien und für die EU auf längere Sicht maßgebliches Instrument der eigenen geostrategischen Interessen wären. "Denn ob Nahost, Nordkorea, Afghanistan oder Iran: Entweder die 'Weltmacht aus Notwendigkeit' erledigt die Schmutzarbeit, oder sie bleibt eben liegen", variiert Joffe mit unüberhörbarem rassistischen Unterton das Wort des US-Präsidenten Barack Obama, der den Afghanistankrieg als "war of necessity" rechtfertigt. Nur die USA könnten die Welt zum größeren Nutzen ordnen, handelt es sich bei der EU doch um einen Papiertiger und bei China und Rußland um "revisionistische Mächte, die nur im eigenen Interesse handeln".

Joffe geht, wie schon die Unterschlagung der nicht minder interessenpolitisch geleiteten US-Hegemonie zeigt, ganz im neokonservativen Messianismus einer weltpolitischen Verantwortung auf, die die USA angeblich im Unterschied zu allen anderen Staaten wahrnehmen. So fehle es China und Rußland "an jener Legitimität, die bloße Muskelkraft in echte Führung verwandelt". Obama hingegen habe "diese zeitlose Kernbotschaft der Weltpolitik begriffen und verbindet Güte mit Durchsetzungskraft, Freundlichkeit mit handfesten Druckmitteln."

Der an mehreren US-Universitäten internationale Politik lehrende und in zahlreichen transatlantischen Institutionen über Sitz und Stimme verfügende Joffe beläßt es nicht bei offenkundiger Beweihräucherung, sondern begründet seine Euphemismen mit zahlreichen Beispielen, bei denen die USA angeblich eine produktive weltpolitische Rolle gespielt haben und nach wie vor spielen. Diese wird letztlich in der kriegerischen Durchsetzung westlicher Hegemonie in allen geostrategisch wichtigen Regionen der Welt wirksam, meint Joffe und stellt abschließend fest:

"Im 21. Jahrhundert werden die USA jünger und dynamischer sein als ihre Rivalen. Als liberale Weltmacht können sie das internationale System zu weitaus geringeren Kosten formen als die Kolosse der Vergangenheit. Und wer wollte ernsthaft in einer Weltordnung leben, in der China, Indien, Japan, Russland oder sogar Europa das Sagen haben, obwohl sie ihren eigenen Hinterhof nicht in Ordnung halten können?"
(IP - September/Oktober 2009)

Die von Joffe beschworene liberale Ordnung ist unschwer als die der uneingeschränkten, mit Waffengewalt durchgesetzten globalen Kapitalverwertung zu dechiffrieren. US-amerikanische Realpolitik im Weltmaßstab besteht darin, niemanden neben sich zu dulden, der das eigene Gewaltmonopol in Frage stellen könnte, und überall dort, wo regionale Akteure nicht nach Maßgabe der USA und ihrer Verbündeten handeln, durchzugreifen: "Amerika straft jeden Staat, der im Nahen und Mittleren Osten nach der regionalen Vorherrschaft greift; es unterstützte den Irak 1980 bis 1988 im Krieg gegen den Iran und schwächte ihn dann 1991 und erneut 2003".

Die Millionen Menschen, die unter dieser Politik leiden und vergehen, tauchen bei Joffe nicht auf. In seinem imperialistischen Entwurf ist "Schmutzarbeit" überall dort zu verrichten, wo Staaten eigene, mit den USA unvereinbare Interessen verfolgen, wo Bevölkerungen nach Selbstbestimmung streben und dies nicht nach Maßgabe der liberalen Werte tun, die den Zugriff westlicher Konzerne und Regierungen auf ihre Lebensführung und Arbeitserträge sichern. Joffes Versuch, die neokonservative Hegemonialdoktrin zu erneuern und als Lektion in angewandter Weltpolitik auf die deutschen Eliten loszulassen, teilt denn auch einiges über den größeren Rahmen des Afghanistankriegs mit.

Die diesen treibenden Interessen sind nicht nur territorial und geostrategisch bestimmt, um den irreführenden Begriff "Sicherheitspolitik" gar nicht erst zu nennen, sondern wurzeln in der permanent erforderlichen Bestätigung, daß die USA ein verläßlicher Garant der von ihnen propagierten Weltordnung sind. Nicht nur die NATO muß in Afghanistan ihr Gesicht wahren, um ihre Existenz als Streitmacht mit globaler power projection und verlängerter Arm Washingtons auf die Kriegführung der EU zu sichern. Die USA dürfen Afghanistan, nachdem sie den dortigen Feldzug im Vergleich zur Besetzung des Iraks als richtig und gerecht ausgewiesen haben, nicht geschlagen verlassen. Und das nicht nur aufgrund der selbstverfaßten Ideologie einer welthistorischen Mission der USA oder konkreter geostrategischer Ziele wie der Herausforderung der eurasischen Hegemonie Rußlands, sondern um ihre Volkswirtschaft weiterhin als größter Schuldner der Welt von außen alimentieren zu lassen und im Gegenzug als Lieferant kriegerischer Dienstleistungen fungieren zu können. Mit diesem Gewaltexport, der den Strom der Waren und Rohstoffe in die USA mit der weltweiten Durchsetzung der "Akkumulation durch Enteignung" (David Harvey) bezahlt, läßt sich das massive Handelsbilanzdefizit ohne weiteres verstetigen.

So müssen die Besatzungstruppen in Afghanistan nicht auf eine Weise siegen, die das Land vollständig befriedet. Ganz im Gegenteil ist Washington durchaus damit gedient, wenn es in einem Zustand des permanenten Bürgerkriegs verbleibt, so lange es nur als Ausgangspunkt militärischer Expansion und als Expermentier- und Ausbildungsfeld für moderne Formen der Kriegführung zur Verfügung steht. Wie am Beispiel des Iraks vorexerziert, spielt man lokale und regionale Kräfte systematisch gegeneinander aus, um alle Beteiligten so zu schwächen, daß die Besatzungsmächte sich die Verhältnisse mit Hilfe ihrer einheimischen Statthalter, ihrer zu Festungen ausgebauten Garnisonen und den ordnungspolitischen Rezepturen neokolonialer Globalisierungsagenturen zu Nutze machen können. Auch der Blick nach Israel zeigt, daß man durchaus den Frieden der Paläste genießen kann, während die Hütten mit Krieg überzogen werden.

Systematische und dauerhafte Destabilisierung ist das Ergebnis dieser Politik des Teilens und Herrschens, wo man auch hinschaut. Der Nahe und Mittlere Osten wird einer postkolonialen Ordnung unterworfen, in der die Techniken und Methoden klassischer Kolonialpolitik zugleich verfeinert und entgrenzt werden. Verfeinert im Sinne der neokolonialistischen Rekrutierung einheimischer Oligarchien als Sachwalter eigener Interessen und einer supranationalen Governance, die alle gesellschaftlichen Verhältnisse nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zur optimalen Verfügbarkeit für Kapitalinteressen organisiert. Entgrenzt im Sinne der Aufhebung des klassischen egalitären Völkerrechts zugunsten einer globalen Hierarchie, in der die USA und die mit ihnen verbündeten Industrie- und Schwellenstaaten über den größeren der Welt als Manövriermasse eigener Verwertungsinteressen verfügen.

Das Nebeneinander von Demokratisierung, Aufstandsbekämpfung, Drogenwirtschaft, Bürgerkrieg, Hunger und Armut in Afghanistan ist ein Beispiel für die organisierte Destabilisierung einer Zone imperialistischer Expansion. Die von deutschen Politikern unablässig nachgebetete Befriedungsperspektive schafft den politischen Rahmen einer Weltordnung, in der davon ausgegangen wird, daß Millionen Menschen permanent aus ökonomischen, sozialen und ökologischen Gründen mit dem Tod kämpfen müssen. Das kapitalistische Akkumulationsregime rechnet den Verschleiß von Menschenleben im Sinne der konstatierten "Notwendigkeit" , also der Akzeptanz angeblich nicht zu verändernder systemischer Bedingungen, und nach Maßgabe des neoliberalen Prinzips der "schöpferischen Zerstörung" von vornherein in das Preis-Leistungs-Verhältnis ordnungspolitischer Investitionen ein. Schließlich soll die organisierte Unordnung ein Weltsystem stabilisieren, das den Nachschub der Metropolengesellschaften an Ressourcen aller Art über gutbefestigte, infrastrukturell autarke Exklaven hochproduktiver Verwertung und militärischer Kontrolle inmitten durch Armut, Kriege und Raubbau verödeter Zivilisationsbrachen sichert.

14. September 2009