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HEGEMONIE/1656: Notgemeinschaft EU ... ein neues Bündnis von Staat und Kapital? (SB)



Der von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Brüssel durchgesetzte Notfallplan für krisengeschüttelte EU-Staaten wird in den neokonservativen Medien der Bundesrepublik als Zeitenwende gefeiert. Nicht mehr freizügiger Finanzier der Europäischen Union, sondern eigennütziger Zahlmeister der letzten Instanz soll Deutschland sein, wenn es anderen Staaten, die angeblich selbstverschuldet in Not geraten sind, Hilfe nur zu härtesten Bedingungen gewährt. Nun wird abgerechnet mit dem Schlendrian parasitärer Nutznießer, so der unausgesprochene Tenor nicht weniger Kommentare, deren Autoren "den Griechen" schon seit Wochen vorwerfen, undiszipliniert, faul und korrupt zu sein. Indem man sich auf nationalpathologische Bezichtigungen einschießt und die eigenen Tugenden feiert, die Millionen Menschen krankmachende Arbeitsbedingungen zu ausbeuterischen Niedriglöhnen beschert haben, kehrt man nach außen, was dem Projekt des europäischen Staatenbunds stets zugrundelag.

Die wirtschaftlich weniger produktiven Mitgliedstaaten vorgehaltene Nehmermentalität steht zum expansiven Charakter deutscher Wirtschaftspolitik in einer Wechselbeziehung, die ausbeutbar zu machen Sinn und Zweck der Europäischen Union ist. Das deutsche Kapital hat die europäische Integration und die Rolle der Bundesrepublik als Nettozahler niemals aus altruistischen Gründen befürwortet, sondern stets die Erweiterung der eigenen Verwertungsbasis und die Vergrößerung der geostragischen Schlagkraft im Auge gehabt. Hat die EU im Kalten Krieg die Konsolidierung einer antikommunistischen Front noch mit dem Zugeständnis betrieben, die nachholende Entwicklung peripherer Staaten zu günstigen Konditionen zu ermöglichen, so ergibt sich ihr Daseinszweck 20 Jahre nach Niedergang der realsozialistischen Staatenwelt - konfrontiert mit dem ökonomischen Aufstieg großer Schwellenstaaten, mit Ressourcenverknappung und Klimawandel - vollends aus dem Anspruch, das eigene Gewicht im kapitalistischen Weltsystem zu Lasten anderer zu mehren.

Das Projekt der Wirtschafts- und Währungsunion wird von merkantilen Verhältnissen zwischen Staaten bestimmt, während die daran beteiligten Volkswirtschaften gemeinsamen Standards des Handels-, Kapital-, Dienstleistungs und Arbeitsverkehrs sowie umweltrechtlicher, markttechnischer und arbeitsrechtlicher Normen unterliegen. Da die bevölkerungsreichsten und ökonomisch stärksten Mitgliedstaaten auf die vertragliche Festlegung dieser Verfahrensregeln den größten Einfluß nehmen, fallen die Regeln der strukturell formierten Standortkonkurrenz tendenziell zu ihren Gunsten aus. So wurde der Lissabon-Vertrag maßgeblich von der Bundesrepublik vorangetrieben, weil er das Gewicht Deutschlands in den Abstimmungsverhältnissen entscheidender EU-Gremien deutlich verbessert.

Die von Merkel konstatierte "Ultima ratio" einer Nothilfe, die nur bei akuter Gefahr des Staatsbankrotts gewährt wird, und zwar zu Zinsbedingungen, die denen auf dem Kapitalmarkt aufgenommener Kredite entsprechen, dementiert den bereits konstitutiv gebrochenen Anspruch auf den solidarischen Charakter der EU konsequent. Indem ein Staatsbankrott zwar verhindert wird, der betroffenen Bevölkerung jedoch keine der Härten erspart bleibt, die die radikale Kürzung öffentlicher Ausgaben bewirkt, demonstriert das EU-Direktorat der großen und wohlhabenden Mitgliedstaaten den Willen, seine Geschäftsfähigkeit auch unter der Bedingung massiver sozialer Verelendung aufrechtzuerhalten.

So wird auf supranationaler Ebene signalisiert, daß es höchste Zeit ist, sozialpolitische Verwertungshindernisse zu beseitigen, wenn man dem Niedergang Griechenlands nicht folgen will. Die Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IWF) an der Refinanzierung verschuldeter Staaten unterstreicht die sozialfeindliche Absicht dieser Politik und verkörpert eine internationale Dimension staatlicher Ordnungspolitik, die den Keim eines weltweiten Systems der Krisenbewältigung in sich birgt. Was aufgrund der Beteiligung eines äußeren Akteurs unter maßgeblichem Einfluß der USA als Schwächung des Euro kritisiert wird, läßt sich auch als Angebot Brüssels an die Adresse Washingtons zur Etablierung einer globaladministrativen Steuerung der Finanzmärkte verstehen.

Das mag sich utopisch anhören, wäre in Anbetracht der längst nicht ausgestandenen Weltwirtschaftskrise jedoch alles andere als ein Schritt in eine sozial gerechtere Welt. Der von Merkel angeblich betriebene Schutz deutscher Interessen ist einem Schrumpfungsprozeß geschuldet, der den Kern nationaler Kapitalmacht erhalten soll. Es handelt sich um einen Konsolidierungsprozeß mit Rückgriff auf die bewährte transatlantische Achse, die im Ernstfall mehrerer kollabierender Volkswirtschaften und daraus resultierender bürgerkriegsartiger Zustände immer noch das größte Handlungsvermögen verkörpert. Ein solcher Notstand böte auch Anlaß zur Initiierung systemischer Veränderungen, die die Unwägbarkeiten des global beschleunigten, ein Mehrfaches des Aufkommens an Gütern und Dienstleistungen umfassenden Finanzkapitals beträfe.

Die seit anderthalb Jahren auch unter Nutznießern des herrschenden Systems in Mißkredit geratene neoliberale Marktwirtschaft bleibt nur so lange hegemonial, als die sie stützenden Funktionseliten ihren allgemeinen Nutzen glaubhaft machen können. Wenn demgegenüber allgemein als lebenswichtig erachtete Ziele wie die Verlangsamung des Klimawandels auf der Strecke bleiben, dann wächst die Bereitschaft der Bevölkerungen, staatsautoritären Lösungen zuzustimmen. Das gilt um so mehr, als das Profitinteresse der Kapitaleliten kaum mehr durch das seinerseits diskreditierte Wachtumsprimat zu rechtfertigen ist. Um die Interessen des Kapitals glaubhaft mit dem Wohl aller Bundesbürger gleichsetzen zu können, bedarf es Feindbilder, die die Schuld an der Misere nicht nur in angeblich zu großzügigen Sozialtransfers oder levantinischer Mißwirtschaft, sondern auch im internationalen Spekulantentum verorten.

Um den Widerspruch zwischen symbolpolitischer Verurteilung kapitalistischer Praktiken und realpolitischer Unterstützung derselben inmitten der Krise des herrschenden Verwertungssystems verdaulich zu machen, bietet sich die Kartellierung staatlicher Exekutive und ökonomischer Expansion unter dem Vorwand, unkalkulierbare Elemente neoliberaler Akkumulation unter Kontrolle zu bringen, an. Die Kapitalmachteliten wissen sehr genau, daß ihre Privilegien ohne staatliche Sicherung haltlos sind. Indem die Bundeskanzlerin sich zur Sachwalterin nationalstaatlichen Eigeninteresses und der Verträge, die die EU als Zweckverbund miteinander konkurrierender Volkswirtschaften konstituieren, erhebt, unterbreitet sie diesen Eliten das Angebot, das Bündnis zu Lasten Dritter zu vertiefen.

Darunter zu verstehen sind zum einen die eigenen Erwerbstätigen, die mit Hilfe sozialdarwinistischer und nationalchauvinistischer Strategien gegeneinander ausgespielt werden, um sie an die Erfüllung rigider Leistungs- und Anpassungsnormen binden zu können. Zum andern soll die Ressourcensicherung in den Ländern des Südens verstärkt gegen die in ihnen lebenden Bevölkerungen und gegen mißliebige Konkurrenten wie China durchgesetzt werden, was eine erhebliche militärische Kriegsmacht erfordert, wie sie nur im Bündnis mit den USA zu mobilisieren ist.

All dies erfolgt unter der Prämisse endlichen Wachstums. Dieser Paradigmenwechsel richtet den globalen Verteilungskampf, der im Unterschied zu früheren Zeiten nicht mehr auf der Annahme fußt, daß die Erschließung neuer Territorien und Ressourcen das Problem des Mangels beheben könnte, verstärkt an der Negation bislang als selbstverständlich erachteter Ansprüche und Rechte aus. Die zugunsten des Finanzkapitals erfolgte Krisenregulation hat durch die hochgradige Verschuldung öffentlicher Haushalte einen Vorwand für die Regulation des Mangels geschaffen, die sich nicht auf Einschnitte ins soziale Netz beschränkt, sondern mit der Verminderung der Nothilfe für Hungergebiete und der Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder, der Etablierung einer Klasse einkommensloser Bürger in reichen Staaten wie den USA und bevölkerungspolitischer Kalkulationen, die das Lebensrecht alter und behinderter Menschen in Frage stellen, der Logik sozialeugenischer Elimination folgt. Darin läge auch die Ratio der Verschleppung allgemein als unabdinglich anerkannter Emissionsreduzierungen - von den daraus resultierenden Verwüstungen und Verödungen sind vor allem die Länder des Südens betroffen.

Zustimmung erlangt eine solche Politik nur, wenn sie glaubwürdig macht, daß stets der andere von ihren Folgen betroffen ist. Die Bundesbürger lassen sich gegen die griechische Bevölkerung aufbringen, anstatt in ihrer Verarmung die eigene Zukunft zu erkennen, weil sie meinen, zu viel zu verlieren zu haben. Sind sie einmal auf dem harten Boden eines ihr Leben wenn nicht direkt bedrohenden, dann zumindest verkürzenden und mit Leid erfüllenden Mangels aufgeschlagen, dann sollte die Strategie des Teilens und Herrschens unumkehrbare Ergebnisse gezeitigt haben. Ein solches könnte in einem autoritären Neokorporatismus bestehen, der die gegebenen Verfügungs- und Eigentumsverhältnisse auf eine Weise reorganisiert, daß sie mit demokratischen Mitteln nicht mehr veränderbar sind.

Zwar konnte sich Frankreichs Präsident Nicholas Sarkozy mit seiner Forderung nach Einrichtung einer europäischen Wirtschaftregierung nicht durchsetzen, doch seine Merkel dennoch gewährte Unterstützung zeigt, daß die ersatzweise in der Erklärung der Eurogruppe verwendete Forderung nach einer "engeren Koordinierung der Wirtschaftspolitik" durch den Europäischen Rat durchaus in Richtung seiner Vorstellungen geht. Das Zusammenwirken Deutschlands und Frankreichs unter Einbeziehung anderer westeuropäischer Staaten markiert das operative Zentrum eines Systems der Bestandsicherung, das nicht zufällig jenem Kerneuropa entspricht, für das Unionspolitiker wie Wolfgang Schäuble schon in der ersten Hälfte der neunziger Jahre geworben haben. Indem deutlich gemacht wird, daß EU-Staaten, die sich diesem faktischen Direktorium nicht unterordnen, im Ernstfall ihrem Schicksal überlassen werden, wird der gesellschaftlich als vorherrschendes Organisationsprinzip etablierte Sozialdarwinismus auch zum führenden Prinzip der europäischen Hackordnung erklärt. Der vielbeklagte Mangel an Handlungsfähigkeit auf EU-Ebene braucht nicht mehr auf kooperativem Wege beseitigt zu werden, von nun an wird dekretiert, was Sache ist. An Sachzwängen zur Rechtfertigung dezisionistischer Machtpolitik mangelt es nicht, sie werden mit einer krisenhaften Entwicklung erwirtschaftet, in der die Maximierung des Raubs zu sich selbst kommt.

26. März 2010