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HEGEMONIE/1658: "Abgestufte Mitgliedschaft" ... Kerneuropakonzeption in neuer Gestalt (SB)



Der türkische Ministerpräsident hat zweifellos gute Gründe dafür, der deutschen Bundeskanzlerin bei ihrem Staatsbesuch mit freundlicher Zuwendung entgegenzutreten. Recep Tayyip Erdogan steht in einem dauerhaften Machtkampf mit den kemalistischen Eliten, der vor zwei Jahren fast zum Verbot der Regierungspartei AKP geführt hätte. Gerüchten zufolge arbeitet der Generalstaatsanwalt bereits an einem weiteren Verbotsantrag, so daß diese Gefahr trotz der Ergenekon-Affäre, bei der erstmals hochrangige Militärs offiziell staatsfeindlicher Bestrebungen verdächtigt werden, keineswegs gebannt ist. Ansonsten hätte Erdogan ein kühlerer Empfang der Kanzlerin nicht schlecht zu Gesicht gestanden, behauptete diese doch allen Ernstes, erst jetzt erfahren zu haben, daß ihr Angebot einer privilegierten Partnerschaft anstatt eines vollständigen EU-Beitritts in der Türkei als herabwürdigend und daher inakzeptabel betrachtet wird.

Ohnehin ist diese Option für die Türkei praktisch verwirklicht und erfüllt als Alternative zur Vollmitgliedschaft vor allem den Zweck, Ankara jegliche politische Mitsprache in EU-Angelegenheiten vorzuenthalten, ohne auf die wirtschaftlichen und strategischen Vorteile einer engen Partnerschaft mit dem Land verzichten zu müssen. Da der Türkei seit 1963 eine Mitgliedschaft in der EU in Aussicht gestellt wird, handelt es sich bei der Sprachregelung, daß man sich weiterhin in einem "ergebnisoffenen Prozeß" befände, der nach weiteren Jahrzehnten der Annäherung dann doch nicht zum erhofften Ziel führen könnte, um einen nicht geringen Affront. Als NATO-Staat ist die Türkei geostrategisch viel zu wichtig, als daß man ihre Regierung offen vor den Kopf stoßen könnte, also ködert man sie mit einer vagen Aussicht, die zu verwirklichen ihr erhebliche rechtliche und strukturelle Reformen abnötigte. Wenn diese Subordination bei aller berechtigten Kritik am Umgang des kemalistischen Staats mit nationalen und religiösen Minderheiten, mit politischen Gefangenen und linken Oppositionellen durch wachsende Ablehnung der EU seitens der Bevölkerung quittiert würde, wäre das kaum erstaunlich.

Die AKP-Regierung hat zwar eigene Gründe, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, dennoch wäre sie wohl kaum für den Vorschlag zu gewinnen, mit dem der EU-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff einen Ausweg aus dem Dilemma zweier für die jeweils andere Seite inakzeptabler Lösungen weist. Der FDP-Politiker brachte im Deutschlandfunk nach Auflistung diverser Gründe, die gegen einen EU-Beitritt der Türkei sprechen, die Möglichkeit "abgestufter Mitgliedschaften" in der Union ins Gespräch. Sein Beitrag ist dennoch von Bedeutung, denn er reflektiert das Interesse deutscher Eliten, auch in Zukunft über dominanten Einfluß in der EU zu verfügen, ohne auf die weitere Ausdehnung der Union zu verzichten. Der FDP-Politiker propagiert ein Erweiterungskonzept, in dem die EU nicht nur de facto, sondern auch de jure die imperiale Gestalt eines Zentrum-Peripherie-Modells annähme:

"Wir müssen uns hier auch als Europäische Union weiterentwickeln, damit wir Länder wie zum Beispiel die Türkei, oder wie die Ukraine, die ja auch an die Tür klopft, an uns binden können, ohne dass dabei gleich eine Vollmitgliedschaft notwendig wird. Wir müssen also in der Zukunft unsere Verträge auch flexibler gestalten. (...) wenn wir uns in der Europäischen Union mal mit dem Gedanken abgestufter Mitgliedschaften befassen würden, dann könnten wir da vielleicht eine Lösung erreichen, die auch für die Türken akzeptabel ist. Nehmen Sie mal bitte das Vereinigte Königreich, also England. Die haben den Euro nicht, die machen beim Schengenraum nicht mit, die Grundrechtecharta wird nicht zur Anwendung gebracht, auch die Sozialcharta nicht. Das ist faktisch eine abgestufte Mitgliedschaft, das müssen wir nur in den Verträgen irgendwann mal so abbilden, dass wir Länder an uns binden können in konstruktiver, gesichtswahrender Weise, die wir damit auch stabilisieren, ohne dass gleich volle Entscheidungshoheit jedes Mal damit verbunden ist, wie es eben bei England der Fall ist, und das macht uns ja bekanntlich auch Probleme in der Europäischen Union."
(Deutschlandfunk, 30.03.2010)

Diese Probleme betreffen insbesondere die Rolle der Bundesrepublik als informeller Lead Nation, die durch einen Beitritt der bevölkerungsreichen Türkei nach den bisher vorgesehenen Bedingungen auf inakzeptable Weise in Frage gestellt wäre. Nachdem die Bundeskanzlerin mit ihrem Einsatz für den Lissabon-Vertrag optimale Bedingungen für die Zementierung dieses Führungsanspruchs geschaffen hat, scheint der Renaissance einer die Grenzen der Union weiter ost- und südostwärts ausdehnenden Kerneuropakonzeption, mit der die westeuropäischen Zentralstaaten über ein modernes Großreich aus Ländern mit ökonomisch respektive administrativ nachgeordneter Bedeutung verfügten, weniger denn je im Wege zu stehen. Selbst wenn eine untergeordnete - so der Klartext für "abgestufte" - Mitgliedschaft anders, als es Lambsdorff vermutet, für Ankara nicht in Frage käme, blieben einige postjugoslawische und postsowjetische Republiken, die man zu einer solchen Deklassierung nötigen könnte. Weitere neokoloniale Integrationsschritte in Richtung Nordafrika und den Nahen und Mittleren Osten schlössen sich mit wachsender strategischer Bedeutung der EU zweifellos an.

Lambsdorff dürfte als Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts und als Büroleiter bei Klaus Kinkel im Deutschen Bundestag in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre einiges über die Interessen deutscher Außenpolitik gelernt haben. Mit seiner Absage an die gleichberechtigte Beteiligung neuer EU-Mitgliedstaaten an den Entscheidungsprozessen im Europäischen Rat spricht er Berliner Großmachtambitionen aus dem Herzen. Bleibt nur die Frage, ob die auf die billigen Plätze verwiesenen Beitrittskandidaten sich an dieser Aussicht ebenso erfreuen können.

30. März 2010