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HEGEMONIE/1659: Europäische Hackordnung ... "Pleite-Griechen" erniedrigen und nötigen (SB)



Vielleicht sollte die Bundesregierung auf die Stimme des Volkes hören und die "Pleite-Griechen", als die die Bevölkerung Griechenlands an den Pranger nationaler Schuld und Schande gestellt wird, tatsächlich pleite gehen lassen. Das rhetorische Einprügeln auf diesen kleinen Mitgliedstaat der Europäischen Union, an dem nicht nur der Boulevard sein populistisches Messer wetzt, sondern dem auch in den gehobenen Kreisen der Funktionseliten mit nationalpathologischer Delinquenz zu Leibe gerückt wird, hat längst das Ende der "Wertegemeinschaft" EU herbeigeführt. Sie wurde zugunsten einer Hackordnung überwunden, in der die Schwächsten den Beutejägern ausgeliefert werden, die am Rand der Herde darauf lauern, daß ein Tier nicht mehr mithalten kann und zurückgelassen wird. Selbst das Beschwören einer "Schicksalsgemeinschaft" EU ist obsolet geworden, denn das Gemeinschaftliche reduziert sich auf eine Kosten-Nutzen-Logik, die auf zwischenstaatlicher Ebene reproduziert, was im Verhältnis zwischen Kapitaleigner und Lohnabhängigen grauer sozialdarwinistischer Alltag ist.

Was also hält die Bundesregierung davon ab, Griechenland am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen? Sie weiß sehr genau, daß es im Interesse des deutschen Kapitals liegt, die Währungsunion nicht zu gefährden und das System durch den Wachstums- und Stabilitätspakt auf Gedeih und Verderb miteinander verkoppelter Volkswirtschaften aufrechtzuerhalten. Die Kapitaleigner der Bundesrepublik haben bislang am meisten davon profitiert, daß sie mit den anderen Ländern der Eurozone in einen Wettbewerb um die Ausbeutung nationaler Produktivitätsunterschiede auf der Basis einer fixen monetären Bewertungsgrundlage eingetreten sind. Die Exportoffensive der deutschen Wirtschaft hat Unterschiede in den Leistungsbilanzen zwischen den Euroländern vertieft und darüber Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen, die auch der hegemonialen Vormachtstellung Berlins gegenüber den anderen Hauptstädten der EU zugutekommen. Historisch betrachtet hat Deutschland damit die sich in Kürze zum 65. Mal jährende militärische Niederlage in einen wirtschaftlichen Sieg verwandelt, mit dem viel von dem erreicht wurde, was damals nicht erzwungen werden konnte.

So werden hierzulande von Politik und Medien Ressentiments gegen die südeuropäischen Mitgliedstaaten im allgemeinen und Griechenland im besonderen geschürt, aus denen ein restaurativer Triumphalismus tönt, der insbesondere vor dem Hintergrund der Geschichte deutscher Aggressionen denjenigen Recht gibt, die die angebliche Harmlosigkeit des bei der Fußball-WM 2006 zelebrierten Patriotismus schon damals als gefährlichen Nationalismus kritisiert haben. Zum einen wird die eigene Bevölkerung für dumm verkauft, soll sie doch die Schuld an ihrer Verarmung bei den "Pleite-Griechen" verorten, anstatt zu fragen, wer in diesem Land von der Rücknahme sozialer Vergünstigungen und angemessener Löhne profitiert. Zum andern wird der griechischen Bevölkerung mit der Verzögerung einer Hilfszusage deutlich gemacht, daß die an die Gewähr von Krediten geknüpften Bedingungen unabdingbar sind. Der Regierung in Athen wird auf diese Weise Rückendeckung verschafft, kann sie sich bei den verlangten sozialen Einschnitten doch darauf berufen, daß sie nicht die Möglichkeit besitzt, von diesen Auflagen abzuweichen.

Diese Einschränkung der griechischen Handlungsfreiheit, die gegebenenfalls durch die Überantwortung hoheitlicher Rechte an ein Aufsichtsorgan der Gläubigerstaaten und -institutionen vertieft würde, wird von deutschen Funktionseliten als Ertrag einer Hegemonialstrategie gefeiert, der die Dominanz der eigenen Kapitalmacht ebenso ökonomisches Mittel zum politischen Zweck ist, wie der daraus gewonnene Einfluß auf die EU die Interessen deutscher Unternehmen und Investoren befördert. So wird mit der sehr sichtbaren Hand des Marktes, deren angeblich selbstregulative Funktion durch die krisenbedingte Alimentierung der Banken vollends als propagandistisches Blendwerk kenntlich gemacht wurde, ökonomische Gewalt ausgeübt, die sich für Lohnabhängige und Erwerbsunfähige als unverhohlene Form der Klassenherrschaft darstellt. Wäre es anders, dann hätte man den Investoren, die auf dem Finanzmarkt die Zinsen griechischer Staatsanleihen hochtreiben, längst Zügel angelegt. Die wohlfeile Ankündigung der administrativen Regulation räuberischer Praktiken, bei denen von jeder materiellen Güterproduktion abgekoppelt Zinsdifferenzen und Wechselkursunterschieden zu Lasten ganzer Volkswirtschaften ausgebeutet werden, hat sich als Beschwichtigungsmanöver erwiesen, mit dem der Zugriff des öffentlichen Interesses auf die Aneignungspraktiken des Finanzkapitals verhindert werden sollte.

Folgte die Bundesregierung den Forderungen, Griechenland in den Staatsbankrott treiben zu lassen oder es aktiv aus der Eurozone auszuschließen, dann beschädigte sie zum einen die Basis der nationalen Kapitalakkumulation. Ein solcher Präzedenzfall könnte dazu führen, daß auch andere Staaten wie Portugal, Spanien, Italien und Irland die Eurozone verlassen müßten, so daß das die Bundesrepublik begünstigende Währungsregime geschwächt würde. Er könnte dazu führen, daß die von Deutschland erwirkte Durchsetzung strikter Konvergenzkriterien auch gegen die Bundesrepublik geltend gemacht würde und ihre wirtschaftspolitische Handlungsfreiheit einschränkte. Schließlich könnte sich zeigen, daß die Rückkehr Griechenlands zur eigenen Währung und eine Restrukturierung der Staatsschuld für seine Bevölkerung vorteilhafter wäre als das dauerhafte Schuldenregime im Rahmen des Euro-Systems. Nähmen sich andere Staaten daran ein Beispiel, dann könnte dies die an die supranationale Integration gehefteten Großmachtinteressen erheblich beschädigen. Nicht zu vergessen ist zudem die mit prozyklischer Austeritätspolitik erwirkte Zerstörung industrieller Kapazitäten in anderen Ländern, die zur krisenhaften Überakkumulation beigetragen haben, zugunsten der Schaffung neuer Expansionsräume für deutsche Unternehmen.

Zum andern entledigten sich die europäischen Kapitaleliten mit einem Staatsbankrott Griechenlands der Möglichkeit, das Primat der Währungsstabilität weiterhin als zentrales Instrument der Umverteilung von unten nach oben zu nutzen. Was am Beispiel der griechischen Lohnabhängigen und Erwerbsunfähigen durchexerziert wird, dient der Etablierung und Verallgemeinerung eines sozialpolitischen Zwangs- und Mangelregimes, wie es mit Hartz IV in der Bundesrepublik als Mittel der Sozialkontrolle und Kostensenkung durchgesetzt wurde. Konzipiert als suprastaatliche marktwirtschaftliche Verwertungsordnung, die die Allokation des Kapitals grenzüberschreitend zu Lasten der durch wachsende Überlebenskonkurrenz gegeneinander getriebenen und durch ein europaweites Repressionsregime unter Kontrolle gehaltenen Lohnabhängigen optimiert, während es seine weltwirtschaftliche Schlagkraft mit gemeinsam organisierter Militärmacht sichert, bietet die Währungsunion den deutschen Eliten so viele Vorteile, daß ein Ausscheren Griechenlands nicht in ihrem Sinn sein kann.

Wenn sich lohnabhängige und erwerbsunfähige Bundesbürger der als nationales Kollektiv verkleideten Kapitalmacht zugehörig fühlen und die Griechen einer angeblich selbstverschuldeten Krise bezichtigen, dann unterwerfen sie sich aus freien Stücken einem nationalökonomischen Paradigma, das auf die Eurozone nicht mehr anwendbar ist. Mit dem bloßen Abgleich makroökonomischer Daten vor dem Hintergrund einer willkürlich bestimmten monetären Leistungsnorm wird über die hochgradige Interdependenz der Staaten der Währungsunion hinweggegangen, als habe es den Prozeß der europäischen Integration niemals gegeben. Gegeneinander ausgespielt werden diejenigen Menschen, die nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben und durch systematische Kostensenkung in einen gegenseitigen Unterbietungswettbewerb getrieben werden, der alle Beteiligten als Verlierer zurückläßt. Vereinnahmt durch die Ideologie der nationalen Schicksalsgemeinschaft und atomisiert durch die marktwirtschaftliche Standortkonkurrenz werden ihnen materielle Entbehrungen abverlangt, während die sie nötigenden Verwertungspraktiken und Herrschaftsverhältnisse im Numinosum der höheren Ordnung jeder Rechenschaftspflicht entzogen werden. Die Unvereinbarkeit von nationaler Souveränität und supranationaler Verfügungsgewalt gerät zum programmatischen Ausweichmanöver, so daß die Betroffenen im Falle individuellen Scheiterns noch widerstandsloser jener Bezichtigungslogik zum Opfer fallen, mit der sie gegen die griechische Bevölkerung polemisieren.

26. April 2010