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HEGEMONIE/1725: Suprematie macht einsam - Israel droht regionale Isolation (SB)



"Der Nahe Osten erlebt ein Erdbeben historischen Ausmaßes", räumte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Erschütterungen ein, die an den Grundfesten der israelischen Sicherheitsdoktrin rütteln. Verteidigungsminister Ehud Barak sprach von einem Tsunami, der auf die Küsten des Landes zurolle, und dieses Bild fand seinen Widerhall in diversen Leitartikeln, die in einer Mischung aus Unverständnis, Empörung und Furcht ein Verhängnis an die Wand malten, das man auf unabsehbare Zeit verbannt zu haben glaubte. Von Verbündeten im Stich gelassen und vermeintlich felsenfester Stützen beraubt, sieht sich Israel plötzlich in der Region isoliert und rundum von Gefahren umgeben, während im Innern die Wut der Palästinenser gärt und der Sozialprotest hochkocht. Bewahrheitet sich damit, was israelische Regierungen stets vorgehalten haben, nämlich daß der Staat Israel von Feinden umgeben sei, die seine Vernichtung anstreben?

Wortspiele wie "Erdbeben", "Tsunami" oder auch der "arabische Frühling", mit denen man das Verhängnis zu umschreiben versucht, mögen zwar die empfundene Wucht der hereinbrechenden Ereignisse widerspiegeln, doch taugen sie nicht zu einer angemessenen Analyse der Verwerfungen israelischer Regionalarchitektur. Weder handelt es sich um Naturkatastrophen, die aus heiterem Himmel ihre Wirkung entfalten, noch um Fremdphänomene, an denen die israelische Führung unbeteiligt wäre. Israel hat wie kein anderer Staat der gesamten Region stets die Kontrolle aller maßgeblichen politischen und militärischen Prozesse betrieben und diese vorzugsweise initiiert und ausgesteuert. Was immer sich derzeit im Nahen Osten abspielt, ist mithin untrennbar mit diesem Hegemonialstreben verknüpft. Was nun zurückschlägt, ist der überspannte Bogen einer aggressiven Sicherheitspolitik, die stets auf überlegene Waffengewalt setzte und die Suprematie eigener Interessen zur ideologischen Unanfechtbarkeit erhob.

So ist das Unvorstellbare eingetreten. Der Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo veranlaßte Ministerpräsident Netanjahu, alle israelischen Diplomaten mit ihren Angehörigen aus Ägypten abzuziehen. Nur der stellvertretende Botschafter blieb an einem sicheren Ort zurück. Die israelische Luftwaffe flog noch in der Nacht 80 Israelis nach Hause. Die chaotische Flucht der Diplomaten weckte in Israel Erinnerungen an Szenen während der Islamischen Revolution in Teheran im Jahr 1979, als westliche Ausländer überstürzt den Iran verlassen mußten. Tausende Demonstranten waren mit ägyptischen und palästinensischen Flaggen vom Tahrir-Platz zur israelischen Botschaft gezogen und hatten den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel gefordert. Es sei eine Stimmung wie beim Fall der Berliner Mauer gewesen, sagte ein Demonstrant der Zeitung Al Ahram. Die Muslimbrüder sprachen sich dafür aus, die Beziehungen zu Israel zu "überprüfen", und verlangten, die Erdgaslieferungen zu Vorzugspreisen an Israel zu beenden. In der Region gebe es nach der Arabellion "keinen Platz mehr für israelische Arroganz und Aggression". Das müsse Israel endlich einsehen. [1]

Die Türkei, noch vor kurzem ein wertvoller und zuverlässiger Verbündeter Israels, zeigt Profil. Ankara verlangt von Jerusalem eine offizielle Entschuldigung für seine Kommandoaktion gegen die Gaza-Hilfsflotte im Mai 2010, bei der neun türkische Aktivisten getötet wurden. Da Israel dies verweigert, wies die türkische Regierung den israelischen Botschafter aus und legte die militärische Zusammenarbeit auf Eis. Heute ist Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan als erster türkischer Regierungschef seit 15 Jahren nach Kairo gereist, um dort in einer Grundsatzrede die Vorstellungen seines Landes zur Zukunft des Nahen und Mittleren Ostens darzulegen. Er trifft zudem mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton zusammen. Überdies kündigte Erdogan an, er wolle von der ägyptischen Landseite nach Gaza reisen. [2]

Neun getötete Türken und sechs israelischem Beschuß erlegene Ägypter, die im ersten Fall als Akt der Selbstverteidigung gerechtfertigt und im zweiten als bedauerlicher Irrtum unter den Tisch gekehrt werden sollten, waren die Auslöser einer heftigen Reaktion. Die israelischen Streitkräfte haben im Laufe der Jahre so viele Palästinenser und Libanesen umgebracht, ohne ein ernsthaftes Echo fürchten zu müssen, daß man fast geneigt ist, vom Tropfen zu sprechen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat. Der 1979 geschlossene Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten war ein Frieden der Regierenden, nicht jedoch der ägyptischen Bevölkerungsmehrheit. Viele Ägypter wollen den Nahostkonflikt endlich beendet sehen und stehen an der Seite der Palästinenser, die von einem eigenen Staat träumen. Der Volksaufstand, der den von den USA und Israel gestützten Machthaber und Kollaborateur Hosni Mubarak im Februar gestürzt hat, verwandelte Israels zuvor freigehaltenen Rücken in eine empfindliche Flanke.

Die Beziehungen Israels zu seinen wichtigsten Partnern in der Region haben einen Tiefstand erreicht, was selbst die Regierung in Jerusalem nicht bestreitet. Auch in Jordanien ist es in jüngerer Zeit mehrfach zu anti-israelischen Demonstrationen gekommen, und für nächstes Wochenende riefen Aktivisten zu einer Großkundgebung auf. In der Hauptstadt Amman fuhren zusätzliche gepanzerte Fahrzeuge vor der israelischen Botschaft auf.

Unterdessen hält Mahmoud Abbas daran fest, auch gegen internationalen Widerstand die Anerkennung eines Palästinenserstaats durch die Vereinten Nationen zu erreichen. Einen entsprechenden Antrag will er am 19. September in New York UN-Generalsekretär Ban Ki Moon übergeben. Der Wunsch der Palästinenser auf Anerkennung der Unabhängigkeit für das Westjordanland, den Gazastreifen und Ostjerusalem - Gebiete, die Israel 1967 im Sechstagekrieg erobert hat und seither besetzt hält - dürfte in der Generalversammlung auf überwältigende Zustimmung stoßen. Im Sicherheitsrat gilt hingegen ein Veto der USA als sicher. Da die Entscheidungen der Vollversammlung rechtlich nicht bindend sind, handelt es sich in erster Linie um eine symbolische Entscheidung. Darüber hinaus gilt als wahrscheinlich, daß die Palästinenser einen Beobachterstatus als Nicht-Mitgliedsstaat erhalten, der ihnen Zugang zu verschiedenen Gremien der UNO und möglicherweise auch zum Strafgerichtshof verschafft. Die Führung der Palästinenser hofft, daß durch ihre Initiative der Druck auf Israel wächst, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen, so daß sie mit einer stärkeren Position in direkte Friedensverhandlungen eintreten könnten.

Die israelische Regierung scheint sich bewußt zu sein, daß ihre traditionelle Strategie, unnachgiebig zu drohen und mit harter Hand zu sanktionieren, in der befürchteten Zeitenwende nicht in jedem Fall das Mittel der Wahl sein kann. So wurde der soziale Massenprotest im eigenen Land bislang mit Samthandschuhen angefaßt und Versprechen geködert. Den Palästinensern hingegen kündigt man die finanzielle Austrockung und rigorose Aufstandsbekämpfung an, sollten sie an ihrem Vorhaben festhalten. Im Umgang mit der türkischen Regierung zeichnen sich widersprüchliche Reaktionen ab. Während der pragmatische Flügel des rechtsgerichteten Kabinetts den Ball flach zu halten versucht, drohen Außenminister Avigdor Lieberman und andere ultrarechte Hardliner mit Seekrieg im östlichen Mittelmeer und einer Initiative zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern.

Im Umgang mit der ägyptischen Führung zeigt sich Israel bemüht, den diplomatischen Schaden tunlichst zu begrenzen. Ministerpräsident Netanjahu erklärte in Jerusalem, sein Land wolle an dem Friedensvertrag mit Ägypten "im Interesse beider Länder" festhalten und seinen Botschafter so schnell wie möglich nach Kairo zurückschicken. "Ich bin froh, dass es andere Kräfte in Ägypten gibt, die den Frieden bewahren wollen - allen voran die ägyptische Regierung." Um die Entscheidungsträger in Kairo zum Eingreifen zu zwingen, hatten Netanjahu und Barak in der Nacht des Sturms auf die Botschaft US-Verteidigungsminister Leon Panetta und Präsident Barack Obama zur Hilfe gerufen. "Er wendete alle Mittel und Einflussmöglichkeiten der Vereinigten Staaten von Amerika an - und die sind beachtlich", zog Netanjahu am folgenden Tag zufrieden Bilanz.

Die USA gewähren Ägypten jährlich 2,2 Milliarden Dollar Militärhilfe unter der Bedingung, daß es Frieden mit Israel hält. Wie groß die Einflußmöglichkeiten der US-Regierung sind, zeigte die Reaktion des ägyptischen Militärrats. Informationsminister Osama Heikal verlas eine Erklärung, wonach sich Ägypten zu den "internationalen Verpflichtungen" gegenüber allen Abkommen und Verträgen, einschließlich des Friedensvertrags mit Israel bekenne. Man werde die Verantwortlichen vor Notstandsgerichten zur Verantwortung ziehen und "abschreckende Maßnahmen" anwenden, um weitere Ausschreitungen zu verhindern. Da sich das Land in einer Krise befinde, werde die Regierung einige Befugnisse der weiter gültigen Notstandsgesetze wieder nutzen.

Seit der Machtübernahme der Militärs wurden fast 12.000 Zivilisten vor Militärgerichte gestellt - mehr als in den drei Jahrzehnten der Herrschaft Mubaraks. 93 Prozent der Angeklagten wurden verurteilt, wobei man die meisten wegen Beleidigung von Militärs bestrafte. Die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit hat sich seit Mubaraks Sturz nur noch verschlimmert, ein Wahltermin steht immer noch nicht fest. Zudem versuchen die Militärmachthaber, die Berichterstattung durch die Medien mit Drohungen zu unterbinden. Nun schwören Jerusalem und Washington das Militärregime in Kairo darauf ein, die Duldung israelfeindlicher Demonstrationen und Ausschreitungen zu beenden und die Kollaboration der Mubarak-Ära nahtlos fortzusetzen. Die ägyptische Bevölkerung wird diesen Pakt mit verschärfter Repression und sozialem Elend bezahlen und gegen die Militärmachthaber aufbegehren. Werden die Menschen darüber vergessen, daß sie dieses Elend nicht nur ihrer eigenen Regierung zu verdanken haben? Darauf setzt offenbar die israelische Führung, die um so verbissener in den ihr vertrauten Mustern gewaltsamer Regulation jedweden Widerstands Zuflucht sucht, je weiter diese sie auf schwankenden Boden führen.

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/artikel/C31325/angriff-auf-israels-botschaft-in-kairo-die-generaele-und-der-zorn-der-revolutionaere-30684796.html

[2] http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article13598881/Israel-und-Aegypten-um-Deeskalation-bemueht.html

12. September 2011