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HEGEMONIE/1785: "Doppelte Standards" als operatives Mittel deutscher Machtpolitik (SB)




So viel Ehrlichkeit muß sein. Das Truggebilde des humanitären Interventionismus wird gerade dadurch glaubwürdig, daß mit den relevanten Motiven deutscher Außenpolitik nicht vollständig hinterm Berg gehalten wird. Das Menü möglicher Kriegsvorwände sollte auch jenes Körnchen Wahrheit enthalten, das die schnell verdunstenden Krokodilstränen mit der harten Währung strategischer Interessen deckt. Diejenigen, die die Suppe nachher auslöffeln müssen, sollen nicht darüber klagen können, daß ihnen wichtige Informationen vorenthalten worden wären, sondern wissen, daß die Durchsetzung der Staatsräson ohne die Anwendung "doppelter Standards" nicht auskommt. Das gilt auch für den möglichen Fall, daß der emotional aufgeladene Anlaß, aufgrund dessen die Bundesrepublik Partei in einem kriegerischen Konflikt weit außerhalb des NATO-Bündnisgebiets ergreift und absehbar zum unmittelbaren militärischen Akteur wird, vorüber ist, noch bevor die dazu erforderlichen politischen Weichen gestellt wurden.

So erklärte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen anläßlich der Debatte um die Lieferung deutscher Kriegswaffen in den Nordirak, daß es sich dabei um "eine Weiterentwicklung der Sicherheitspolitik" handle: "Wichtiger als die Frage, ob und welche Waffe wir am Ende liefern, ist die Bereitschaft, Tabus beiseitezulegen und offen zu diskutieren. (...) Wenn wir wirtschaftlich und politisch global agieren, dann sind wir auch sicherheitspolitisch global herausgefordert."[1] Hier ist nicht nur daran zu denken, daß die betreffende Region zu den größten Lagerstätten erschwinglich zu fördernder fossiler Energie in Form von Öl und Gas zählt, sondern auch daran, daß die Bundesrepublik nur Einfluß auf die anstehende Neuordnung der Region nehmen kann, wenn sie auch zu den dort aktiven Gewaltakteuren zählt.

Wer anläßlich des aus humanitären Gründen keinen Aufschub duldenden Entscheidungsdrucks, der im Sicherheitskabinett der Bundesregierung entfacht wurde, fragt, wieso bei den sogenannten Antiterroroperationen in Gaza und im Osten der Ukraine nicht mit gleicher Elle gemessen wird, findet die Antwort dafür schon in der vorgenommenen Kategorisierung. Erhält eine Regierung in ihrem Anspruch, den Terrorismus zu bekämpfen, die Anerkennung der Wertegemeinschaft, besitzt sie praktisch einen Freibrief dafür, auf besonders brutale und unverhältnismäßige Weise gegen Teile der eigenen Bevölkerung oder gegen Menschen, die als Opfer der eigenen Besatzungspolitik nach internationalem Recht besonderen Schutz genießen, vorzugehen. Selbst wenn dabei Frauen und Kinder in erheblichem Umfang getötet oder mit lebenslangen Folgen verwundet werden, wenn die zivile Infrastruktur planmäßig zerstört und durch internationales Recht geschützte Einrichtungen angegriffen werden, so können sich die Initiatoren dieser seitens der USA und EU legitimierten Gewaltanwendung weitgehend sicher sein, mit einer Grausamkeit ungestraft davonzukommen, die an anderer Stelle zum Anlaß weltweiter Empörung gerät.

Der Unterschied zwischen "Terroristen", die getötet werden, obwohl die von ihnen ausgehende Gewalt - wie im Fall der Aufständischen im ukrainischen Donbass - Folge eines politischen Putsches und einer bürgerkriegsartigen Eskalation im eigenen Land ist, oder - wie im Falle der Palästinenser des Gazastreifens - durch das Widerstandsrecht einer von fremder Besatzung betroffenen Bevölkerung völkerrechtlich legalisiert ist, und "Terroristen", die als IS-Milizen eine schutzlose Bevölkerung massakrieren, gründet in der dabei zur Anwendung gebrachten Staatsräson. Anders ist die offenkundige Diskrepanz bei der Bewertung dieser Konflikte nicht auf den Nenner eines Regierungshandelns zu bringen, das für sich in Anspruch nimmt, durch Recht und Gesetz gedeckt zu sein.

Da der Vorwurf des Terrorismus die potentielle Anwendung aller Mittel und damit die Relativierung internationalen Rechts geltend macht, kann der operative Einsatz sogenannter doppelter Standards nicht erstaunen. Er entspricht dem Profil jenes "neuen liberalen Imperialismus", den der ehemalige Chefstratege des Europäischen Rats, der dem Generaldirektorat für außenpolitische und politisch-militärische Angelegenheiten von 2002 bis 2010 vorstehende Sir Robert Cooper, als Matrix einer exekutiven Ermächtigung propagiert, die sich auf universale Werte berufen und diese gleichzeitig mißachten kann. In seinem vielzitierten Buch "The Post-Modern State and the World Order" forderte er schon im Jahr 2000, daß "wir uns an die Idee doppelter Standards gewöhnen müssen." Während man innerhalb der EU und im Verhältnis zu den USA im Rahmen einer "rechtstaatlichen und sicherheitspolitisch kooperativen Basis" miteinander agiere, gelte es, bei "altmodischen Arten von Staaten" auf "die rauheren Methoden einer früheren Ära zurückzugreifen - Gewalt, präemptive Angriffe, Täuschung, was auch immer für diejenigen notwendig ist, die immer noch in der Welt des 19. Jahrhunderts für sich selbst existierender Staaten leben."[2]

Was der maßgeblich an der Etablierung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) beteiligte und dort zum Berater der Hohen Vertreterin Catherine Ashton avancierte Cooper offen ausspricht, erweist sich unter dem Schirm des für imperialistische Übergriffe aller Art in Anspruch genommenen Werteuniversalismus als eine Form legalistischer Willkür, dergegenüber hoffnungslos ins Hintertreffen gerät, wer auf die Widerspruchsfreiheit der in Anspruch genommenen menschen- und völkerrechtlichen Normen pocht. Er fällt einer machiavellistischen Herrschaftsstrategie zum Opfer, deren Sachwalter strategische Vor- und Nachteile kühl kalkulieren, um zu ihrer Durchsetzung tiefempfundene Empörung zu demonstrieren oder heiße Tränen zu vergießen. Daß dabei Menschen gezielt ins Unrecht gesetzt werden, während andere Opfer kriegerischer Gewalt zum Anlaß einer humanitären Intervention geraten, legt das instrumentelle Verhältnis offen, das die Interventionsmächte zu beiden Betroffenen unterhalten.

Auf diesem Feld strategischer Intelligenz mit Britannien, Frankreich und den USA gleichzuziehen, ist ein wesentliches Merkmal des nunmehr konkrete Gestalt annehmenden Aufrufs führender Repräsentanten der Bundesrepublik, endlich den Ballast historisch begründeter Zurückhaltung abzuwerfen und bei der imperialistischen Bewirtschaftung der Welt aufzuschließen. Dabei marschieren staatliche Repression, mediale Feindbildproduktion und administrative Verfügungsgewalt im Gleichschritt mit. Nur so kann gewährleistet werden, daß offenkundige Widersprüche nicht an die Maßgaben demokratischer und verfassungsrechtlicher Grundsätze zurückgebunden werden.


Fußnoten:

[1] http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/NYtNC8IwEET_0W4Dih83Sw9awYMXrRdJmyUsNElZt_Xijzc5dAYeDI_BF-ZGu7C3yinaEZ_YDXzsv9CHxUPgyB8l4TmAI3mvG4QcRXyUuyMYUiQtVIrKmV6sJoEpiY7FzCLZADvsKtPUlanWmN_htju3181231zqO04hnP6rJucp/

[2] http://www.demos.co.uk/files/postmodernstate.pdf?1240939425

26. August 2014