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HEGEMONIE/1796: Das "deutsche Europa" im Aufwind (SB)



Wes Geistes Kind das "deutsche Europa" [1] ist, zeigt die vier Tage nach dem britischen Brexit-Referendum präsentierte Erklärung des deutsch-französischen Führungstandems, vorgelegt durch die Außenminister Jean-Marc Ayrault und Frank-Walter Steinmeier. Unter dem akuten Handlungsbedarf reklamierenden Titel "Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt" [2] wird zum Aufbau einer "Sicherheitsunion" aufgerufen, in deren Mittelpunkt die militärische Handlungsfähigkeit der EU auch und gerade außerhalb der NATO steht. Die Zäsur des möglichen Austritts des Vereinigten Königreiches wird zum Anlaß genommen, eine Form der europäischen Integration zu propagieren, deren Bindekraft vor allem aus Aggression nach außen und Repression nach innen erwachsen soll. Die gravierenden sozialen Verwerfungen innerhalb der EU spielen nur insofern eine Rolle, als die "Verbindung von Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und sozialem Zusammenhalt (...) das Herzstück unseres europäischen Modells" bilde, das es zu bewahren gelte, um auf diese Weise auch "unsere gemeinsamen Werte nach innen und nach außen zu verteidigen".

Am neoliberalen Charakter der EU wird nicht gerüttelt, und eine Sozialunion ist schon gar nicht im Angebot. Wird sozialer Zusammenhalt in der Krisenkonkurrenz an weltmarkttaugliches Wirtschaftswachstum gekoppelt, dann ist die Verschärfung der Klassenwidersprüche Programm. Zum unhintergehbaren Nachweis seiner Leistungs- und Zahlungsfähigkeit genötigt wie von der zweiten Haut informationstechnischer Sozialkontrolle in verwertungstaugliche Form gepreßt wird das Marktsubjekt kaum weniger wirksam an die neoliberale Zwangsgemeinschaft gefesselt, als die Bürger autokratischer Staaten mit offener Gewalt unterjocht werden. Doch nicht der Druck zur weiteren Senkung der Arbeitskosten und zur Erhöhung der Kapitalproduktivität schürt die Angst der Menschen vor dem sozialen Abstieg und die Aggression gegen vermeintliche Freßfeinde, nein, "Terroristen versuchen, Angst in unseren Gesellschaften zu verbreiten und deren Spaltung zu bewirken". Wie Werte, die in einer demokratischen Gesellschaft permanent Gegenstand öffentlicher Erörterung und Überprüfung wären, zu Bastionen einer Freund-Feind-Logik geraten, die ihre Mißachtung mit strafender Gewalt auflädt, so verkommt der Anspruch auf Weltoffenheit zur todbringenden Offensivstrategie.

Mit keinem Wort erwähnt wird die destruktive Wirkung der Kriegführung der NATO-Staaten auf die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens. Kaum über den Status postkolonialer Trümmerprodukte hinausgekommen sind sie seit der Aushungerung und Eroberung des Iraks fast ohnmächtiger Spielball imperialistischer Interessen. Selbstredend wird die davon ausgehende Terrorgefahr als Vorwand mißbraucht, die systematisch erzeugten Bruchlinien metropolitaner Klassengesellschaften einem vermeintlich hintergrundslosen Gewaltphänomens anzulasten. Frei nach der neoliberalen Ideologie, daß das Walten des Marktes alles Wissen um die historische Bedingtheit des Menschen gegenstandslos mache, ist das deutsch-französische Strategiepapier ein Paradebeispiel für die systematische Einebnung aller Widersprüche, die die eigene Teilhaberschaft an sozialen Zwangs- und Gewaltverhältnissen greifbar machen könnten. Da der Terrordiskurs spätestens seit 2001 die Logik exekutiver Ermächtigung antreibt, wäre die hauptsächliche Begründung für das deutsch-französische Projekt einer "Sicherheitsunion" kaum der Rede wert. Wenn jedoch anläßlich des möglichen Ausscheidens des militärisch stärksten EU-Staates unter dem fadenscheinigen Vorwand, es gehe darum, diejenigen EU-Mitglieder, die nicht der NATO angehören, besser zu schützen, militärische Handlungsfähigkeit für die EU angemahnt wird, dann spielt dieser Aufbau eines militärischen Aggressionspotentials insbesondere in der Bundesrepublik angesiedelten Interessen in die Hände. Während insbesondere die US-Regierung daran interessiert zu sein scheint, das Ergebnis des Brexit-Referendums rückgängig zu machen, um über London weiterhin Einfluß auf die EU ausüben zu können, will die Bundesregierung die Chance, die europäische Integration zum eigenen Lehen zu machen, nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Das geht auch aus einem Interview mit Finanzminister Wolfgang Schäuble [3] hervor, der zwar verhalten, aber doch vernehmlich den deutschen Führungsanspruch innerhalb der EU bekräftigt. Natürlich nicht so grob wie im Falle Griechenlands, das unverhohlen ausgeplündert wird, während man sich mit der despotisch regierten Türkei arrangiert und die Bedeutung der griechischen Regierung als Gleiche unter Gleichen weiter schwächt. Aber doch mit der Genugtuung über eine Entscheidung der britischen Bevölkerung, die den deutschen Hegemonialanspruch langfristig zementiert, wie Schäubles Andeutungen über die Irrelevanz der EU-Kommission zu verstehen geben. In Berlin befindet man sich in der komfortablen Position, Druck auf die britische Regierung hinsichtlich der Einleitung des EU-Austritts ausüben als auch die Konditionen des Brexits weitgehend in eigener Regie gestalten zu können. So ideal der Zugang Britanniens zum Gemeinsamen Markt bei gleichzeitiger Beibehaltung der eigenen Währung war, deren Einsatz als global gehandeltes Kreditgeld die City of London fast gleichrangig zur Wallstreet in New York hat aufschließen lassen, so verheerend wäre jede Erschwerung des Finanzgeschäftes mit der EU für ein Land, dessen Akkumulationsmodell maßgeblich vom Finanzplatz London abhängt.

Es gibt also viel zu gewinnen und noch mehr zu verlieren. Die in beiden Strategiepapieren betonte Notwendigkeit gemeinsamen Handelns basiert auf der Prämisse, das kein Land in der EU groß genug ist, um weltpolitischen Einfluß zu reklamieren. Eben dies zu tun ist in Zeiten beschleunigter Krisendynamik ohne Krieg nicht zu haben. So bestätigt diese Reaktion auf den Brexit, was die Linkspartei Anfang 2014 als zu radikal verwarf, als sie die Bewertung der EU als "neoliberale, militaristische und weithin undemokratische Macht" aus dem Programm zur Europawahl entfernte [4]. Damit überließ sie das Feld der EU-Kritik ohne Not einer AfD, die damals noch in den Kinderschuhen steckte und heute Die Linke bei Wahlen in ihren rechten Schatten stellt. Anstatt mit windelweichem Populismus Anleihen am Erfolg der neoliberalen Rechten zu machen, wäre eine Kritik am deutschen Europa vonnöten, die mit deutschnationalem Souveränitätsgedröhn nicht verwechselt werden kann, weil sie aus ihrer internationalistischen, antimilitaristischen und antikapitalistischen Stoßrichtung kein Hehl macht.


Fußnoten:

[1] REZENSION/655: Tomasz Konicz - Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar655.html

[2] http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Europa/Aktuell/160624-BM-AM-FRA_ST.html

[3] http://www.welt.de/politik/deutschland/article156764432/In-Europa-nicht-so-weitermachen-wie-bisher.html

[4] BERICHT/012: Links der Linken - EU solidar (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0012.html

3. Juli 2016


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