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HEGEMONIE/1802: Entsorgt, verwertet, nachgehalten ... (SB)



Sodom und Gomorrha: Sachgerechte Entsorgung unseres Wohlstandsmülls in Ghana

Die Stacheldrahtverhaue, Schutzmauern oder militarisierten Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge werden an Europas Grenzen mit immer größerer Brutalität ins Werk gesetzt. Während jedes Jahr Tausende von Schutzsuchenden im Mittelmeer ertrinken, wird gleichzeitig ein Mehrfaches an Flüchtlingen durch zivile, polizeiliche oder militärische Kräfte vor dem Tod gerettet, in Auffanglager verbracht und der weiteren Behandlung zugeführt. Das humanitäre "Grenzmanagement" konsolidiert sich in komplementärer Weise: Hier die rettende Hand von Hilfsorganisationen und Küstenwachen, dort die sicherheitstechnischen, administrativen und militärischen Bollwerke der Flüchtlingsabwehr, die die europäischen Wohlstandsinseln vor den migrantischen "Fluten" schützen sollen.

Die führenden Industrieländer verteidigen aber nicht nur immer aggressiver ihren relativen Wohlstand gegen die krisen- und kriegsgeschüttelten Armutsländer, deren Notstände sie oftmals selbst herbeigeführt haben. Im Krieg um verbliebene Ressourcen, höheres Wirtschaftswachstum und technologische Vorherrschaft sind die abgehängten Weltregionen auch als Müllkippen der reichen Konsum- und Wegwerfgesellschaften vorgesehen. Vor dem Hintergrund, daß jährlich Millionen Tonnen Elektromüll aus Deutschland, anderen Ländern Europas oder den USA vor allem in Afrika und Asien abgeladen werden, davon ein großer Teil illegal, erklärte Entwicklungsminister Gerd Müller: "Es kann nicht sein, dass wir unseren Wohlstand auf dem Rücken der Menschen in Afrika leben." [1]

Regt sich hier das soziale Gewissen eines CSU-Ministers, dessen Partei mit aller Macht darauf drängt, die Schotten dicht zu machen, um das Elend der eigenen Reichtumsproduktion draußen zu halten?

Gerd Müller hatte im April 2015 zusammen mit Bundesgesundheitsminister Herrmann Gröhe (CDU) auch die ghanaische Abfalldeponie Agbogbloshie besucht, jenen trostlosen Ort, der von den Ghanaern auch "Sodom und Gomorrha" genannt wird. Die Deponie in einem Slum der Hauptstadt Accra gehört zu den größten Elektromüll-Halden der Welt. Die Ausschlachtung ausgedienter Rechner, Fernseher, Handys, Kühlschränke oder anderer Elektrogeräte, oft von Kindern besorgt, ist extrem gesundheits- und umweltschädlich. Die nackte Überlebensnot zwingt die Menschen dazu, wertvolle Rohstoffe mit bloßen Händen aus dem Schrott zu extrahieren und über verschlungene Vertriebswege weiterzuverkaufen. Über verschiedene Händler landen die recycelten Rohstoffe schließlich wieder in den Industriestaaten. Dort ist das Verlangen nach neuesten Handymodellen, Unterhaltungselektronik oder High-Tech-Anwendungen schier unersättlich - ein systemischer Hunger höchster Produktivkraft.

Damit das Versprechen auf wachsenden Wohlstand und Konsum in den reichen Ländern industriell weiter befeuert werden kann, und dies ökologisch guten Gewissens, sollen die informellen Erwerbsformen in Ghana auf eine nach kapitalistischer Lesart gesunde Wirtschaftsbasis gestellt werden. "Zusammen mit unseren Partnern in Ghana arbeiten wir inzwischen daran, die bisher hochgiftige Entsorgung von Elektroschrott Schritt für Schritt umzuwandeln in eine Recyclingwirtschaft, die Menschen und Umwelt nicht zerstört", kündigte Entwicklungsminister Gerd Müller an. Außerdem seien in Deutschland die Kontrollen verschärft worden, um illegale Mülltransporte aus Europa nach Afrika zu unterbinden. Überdies werde in Zusammenarbeit mit dem Land Nordrhein-Westfalen, der RWTH Aachen und der University of Ghana ein Gesundheitsposten eingerichtet, um Müllarbeiter und Frauen, die auf dem Gelände Essen verkaufen, zu behandeln. [1]

Wie das Landesportal in NRW in einer Pressemitteilung vom 21. Mai mitteilte, werde die Gesundheitsstation "zur Erstversorgung von Unfällen und Krankheiten sowie für die Arbeitsschutz-Beratung auf Agbogbloshie errichtet". Die Station solle unter anderem durch Studierende der Universität Accra betreut werden und auch Teams der RWTH Aachen als Anlaufstation dienen. Die Stadtverwaltung Accra übernehme als weiterer Partner die laufenden Betriebskosten. Die NRW-Landesregierung beteiligt sich zudem an einem "Biomonitoringprojekt" (auch finanziell), bei dem es darum geht, "zum ersten Mal die tatsächlichen Gesundheitsbelastungen für Arbeiter und Anwohner wissenschaftlich nachzuweisen, um auf dieser Basis zukünftig Arbeitsschutzmaßnahmen ergreifen zu können". [2]

Das Projekt läuft bis Februar 2018. Ob dann "wissenschaftlich nachgewiesen" ist, was sich jedem Besucher beim Anblick der toxisch schillernden Kloaken oder aufgrund des Gestanks der schwarzen Rauchwolken, die durch das Verbrennen von Kabeln und Isolierschaum auf der Müllhalde entstehen, sofort erschließt?

Europaminister Franz-Josef Lersch-Mense (SPD), der das NRW-Partnerland Ghana besucht hatte, war sehr beeindruckt von diesem Gesundheitsprojekt auf der Elektroschrotthalde. "Mit Projekten wie diesem stellen wir uns der Verantwortung für eine sachgerechte Entsorgung unseres Wohlstandsmülls. Hier gilt, wie auch für andere Projekte in Ghana: Wir wollen die Menschen vor Ort in die Lage versetzen, selbst aktiv werden zu können und unabhängig von ausländischer Hilfe zu werden." [2]

Das nennt man wohl "Green Economy" oder "Fliegen mit einer Klappe schlagen": Hunderttausende von Tonnen Elektroschrott aus Deutschland werden weiterhin nach Ghana verfrachtet - möglichst legal und wohl auch bald überwacht von Fregatten oder Drohnen der Bundesmarine. Schließlich strebt die Bundeswehr die Sicherung der Handelswege und Ressourcenversorgung an. Dazu noch jahrelange wissenschaftliche Untersuchungen, ob der Giftmüll auch wirklich giftig ist und welche "Belastungen" medizinisch und arbeitsschutztechnisch vertretbar sind. Die Abfallverwerter vor Ort, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine verkürzte Lebenserwartung haben, bekommen bei akuten Krankheiten oder Unfällen schon mal eine Erstversorgung - wohlgemerkt, nachdem sie erkrankt sind. Als Lektion lernen sie, daß "selbst aktiv werden" nicht nur eine Quantified-Self-Aufforderung aus den Mobilgeräten jener Menschen ist, deren Wellnessmüll sie auf Kosten der eigenen Gesundheit beseitigen dürfen. Den Ghanaern wird auch vermittelt, daß sie sich gefälligst selbst um eine funktionierende Recyclingwirtschaft zu kümmern haben. Die aufwendige High-Tech, die sie kaufen müssen, um den Elektroschrott der reichen Industrieländer kohlenstoffarm und ressourceneffizient aufzuarbeiten, damit diese noch größere Konsum- und Schrottberge produzieren können, gibt es ebenfalls nicht geschenkt, sondern muß bei der hiesigen Öko-Industrie eingekauft werden. Wir lernen: "Urban Mining" von Elektroschrott ist ein Riesenabfallgeschäft, das sehr wohl auf dem Rücken der Menschen in Afrika betrieben werden kann - es muß nur mit grünen Recycling-Etiketten und politischen "Ignorativen" bemäntelt werden.

Fußnoten:

[1] http://www.heise.de/newsticker/meldung/Deutscher-Elektroschrott-in-Ghana-Hilfe-fuer-Sodom-und-Gomorrha-3317254.html. 09.09.2016.

[2] https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/minister-lersch-mense-informiert-sich-im-nrw-partnerland-ghana-ueber-ein. 21.05.2016.

17. September 2016


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