Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1431: Bei Regression und Depression hilft Systemkritik (SB)



Die psychosozialen Folgen der Wirtschaftskrise lassen sich immer weniger übersehen. Nun suchen auch Spitzenkräfte der Finanzindustrie und andere hochbezahlte Manager die Praxen der Psychotherapeuten auf, um vom Streß der Menschen, deren Überleben vom Erhalt ihres Jobs abhängt, ganz zu schweigen. Bezeichnenderweise werden derartige Phänomene nur vor dem Hintergrund einer Normalität wahrgenommen, die erst erlaubt, psychisches Unwohlsein als Problem zu artikulieren, weil sie im Weltmaßstab keineswegs als solche zu bezeichnen ist. Wo Menschen vor allem von ihrem Hunger umgetrieben werden, ist von psychosozialen Problemen eher selten die Rede. Wie im Falle posttraumatischer Belastungsstörungen, von denen immer mehr Soldaten der Bundeswehr betroffen sein sollen, obwohl sie zu den Truppenkontingenten in Afghanistan gehören, die am wenigsten von Angriffen betroffen sind, handelt es sich bei streßbedingten Reaktionen psychischer Art um ein Privileg, daß sich nur materiell versorgte Menschen leisten können.

Wer klagte einem Therapeuten schon von seinem Seelenleid, wenn das eigene Kind zu verhungern droht? Für die Armen ist die Religion in solchen Fällen gut genug, und sie wird ihnen in großen Dosen verabreicht, damit sie nicht losziehen und sich gewaltsam nehmen, was ihnen vorenthalten wird. Das gilt es zu verhindern, dafür sind Priester und Therapeuten gleichermaßen gefragt. Wenn der Grandseigneur der bundesrepublikanischen Friedensbewegung, der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, im Interview mit dem Handelsblatt (16.03.2009) angesichts der rapiden Zunahme durch die bedrohliche wirtschaftliche Lage bedingter psychischer Störungen diagnostiziert, daß die Menschen "verwirrt" seien, weil angesichts der Krise kein "äußerer Feind, an dem man das Unbehagen abreagieren kann - keine Terroristen, keine Schurkenstaaten, keine der üblichen Verdächtigen wie Gauner oder Gewalttäter" verfügbar wären, dann spricht er damit ein Legitimationsproblem von nicht geringer Brisanz an.

Es mache zunächst "ohnmächtig und ratlos", daß die "anonymen Schuldigen" sich als "ganz normale Leute aus der renommierten Bankenwelt" entpuppten, so der 85jährige Richter über das Dilemma offensichtlich gutgläubiger Menschen, für die der Kapitalismus so lange in Ordnung war, als sie selbst davon profitieren. Wenn also übliche Feindbilder versagen und die Behebung des Problems nicht an die Bundeswehr im fernen Afghanistan delegiert werden kann, wie gehen dann die "verunsicherten Menschen eigentlich mit ihren Aggressionen um?", so die Frage des Handelsblatts. Sie "medizinalisieren" sie, antwortet Richter und verweist auf eine pessimistische Grundeinstellung, die mit "diffusem Leidensgefühl" und psychosomatischen Störungen wie "chronischer Müdigkeit, Erschöpfbarkeit und Schlafstörungen" einhergehe.

Der Griff zum Stimmungsaufheller oder das therapeutische Gespräch können wohl kaum reparieren, was ganz objektiv im Argen liegt, dies zumindest scheint auch der große alte Mann der Psychoanalyse zu meinen. Sein pädagogischer Ansatz, die Krise durch "mitreißende Vorbilder" und "beispielhaftes Engagement" zu meistern, bleibt allerdings wenig greifbar, wenn die materiellen Lebensbedingungen der Menschen nicht verbessert werden. Auch ein noch so optimistischer Barack Obama, den Richter dabei erklärtermaßen im Sinn hat, kann die soziale Krise nur beschönigen, wenn seine Rezeptur auf den Fortbestand etablierter Herrschaftsstrukturen in Wirtschaft und Gesellschaft abzielt.

Wenn man mehr tun will als die Legitimationsfassade des Kapitalverhältnisses notdürftig zu flicken, dann wird wohl kaum etwas anderes übrig bleiben als die Systemfrage zu stellen, anstatt den "anonymen Schuldigen" das Gesicht gieriger Finanzinvestoren und Banker zu geben. Diese haben lediglich einen Raub maximiert, der der kapitalistischen Mehrwertabschöpfung und dem von existentiellem Mangel betriebenen Zwang zur Selbstverwertung von vornherein inhärent ist. Das Grundverständnis, der Kapitalismus produziere Werte in Form wachsenden Reichtums, hat auch vor der Krise nicht gestimmt. So lange Armut und Not von Milliarden in bitterem Widerspruch zum überbordendem Reichtum und luxuriösen Wohlstand einer kleinen Minderheit der Menschheit stehen, kann kaum behauptet werden, daß diese Verwertungsweise das beste aller Systeme sei.

Der von Richter beklagte Rückzug ins Innere erfolgt nicht deshalb, weil man keine Adresse für sein Leid hätte. Ganz im Gegenteil, die immensen Anstrengungen, die seitens der Kapital- und Funktionseliten unternommen werden, die bestehenden Verhältnisse zu sichern, künden davon, daß eine Auseinandersetzung mit den herrschenden Kräften mit persönlichen Nachteilen verbunden sein könnte, die weit über den Verlust des Jobs hinausgingen. Regression und Depression sind Vermeidungsstrategien, die nicht aus psychologischen Fehldispositionen gewählt werden, sondern Machtverhältnisse spiegeln.

Wer angesichts der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung verwirrt ist, hat offensichtlich Interesse daran, den Blick über den Tellerrand persönlicher Befindlichkeiten zu vermeiden. Es ist viel einfacher, sich unter Inanspruchnahme einer Diagnose, die in weitgehend vorformulierte therapeutische Maßnahmen mündet, dem medizinaladministrativen Reparaturbetrieb zu überantworten, als eben das zu tun, was der Neoliberalismus mit dem Primat der "Eigenverantwortung" niemals gemeint hat. Wer sein Leben ohne Prothesen und Halteseile in die Hand nimmt, bedarf großen Muts, kann aber sehr viel mehr an Freiheit und Autonomie erreichen, als konsumistische Verheißungen und das Versprechen auf persönliches Glück im kleinfamiliären Reproduktionskarussell jemals ermöglichen. Andernfalls droht eine Entwicklung, in der die Übelebensprobleme so anwachsen werden, daß die Wahl des richtigen Psychopharmakons das geringste Problem sein wird.

19. März 2009