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HERRSCHAFT/1458: Verlogenes Lamento über geringes Interesse an EU-Wahl (SB)



Das Lamento über die geringe Begeisterung der Bürger, am Sonntag die deutschen Abgeordneten des EU-Parlaments wählen zu können, ist so unreflektiert, wie die Wahlplakate, mit denen deutsche Parteien für sich werben, inhaltsleer sind. Die häufig zu vernehmende Behauptung, dabei handle es sich um ein "Kommunikationsproblem", sprich die Bürger wüßten nicht, was ihnen entgeht, basiert auf dem kurzen Gedächtnis, mit dem Europapolitiker die fortschreitende Demokratisierung der Union bejubeln.

Sie haben vergessen, daß die wesentlichen Entscheidungen, mit denen über die Zukunft der Bundesrepublik befunden wurde, über die Köpfe der Bundesbürger hinweg getroffen wurden. Alle wichtige Vertragsveränderungen, die zur Folge hatten, daß der Prozeß der politischen Willensbildung auf EU-Ebene verlagert wurde, erfolgten ohne angemessene Aufklärung der Bevölkerung hinsichtlich ihrer weitreichenden Konsequenzen. Die Zustimmung des sogenannten Volkssouveräns einzuholen wurde von vornherein ausgeschlossen, statt dessen verwies man auf die Wahlen zu einem Parlament, das nicht einmal über das wesentliche, namensgebende Vorrecht einer Volksvertretung, das legislative Initiativrecht, verfügt.

Anläßlich dieser Europawahl wird immer wieder darauf verwiesen, daß das EU-Parlament mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon über erweiterte Zustimmungsbefugnisse in fast allen Politikfeldern verfüge. Damit wird dem Bürgern eine Reform der EU-Institutionen und eine Definition ihrer Ziele schmackhaft gemacht, die bei vereinzelten Verbesserungen rechtlicher und partizipativer Art vor allem kapitalistischen und imperialistischer Interessen zuarbeitet. Die Mitgliedstaaten werden auf ein System offener Märkte mit freiem Wettbewerb festgelegt, die sogenannten Grundfreiheiten des freien Verkehrs von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen fördern einen Standortwettbwerb, der vor allem zu Lasten der Lohnarbeiter geht, die Privatisierung der Daseinsvorsorge schreitet weiter voran, während die Möglichkeiten des solidarischen Engagements in diesem Bereich weiter eingeschränkt werden, und eine monetaristische Finanzpolitik führt zur Verknappung öffentlicher Mittel und dementsprechenden Einschnitten bei den Sozialleistungen.

Für Entscheidungen der Außen- und Sicherheitspolitik gesteht der Lissabonvertrag dem EU-Parlament auch in Zukunft kein Mitentscheidungs- oder Vetorecht zu, das gilt auch für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Auf diesen Gebieten wollen die Regierungen der Mitgliedstaaten weiterhin das Heft in der Hand halten, um Kapitalmachtinteressen in aller Welt auch mit Waffengewalt durchsetzen und die bewährte Klassenstruktur ihrer Gesellschaften mit Hilfe der Gewaltorgane sichern zu können. Nicht daß vom EU-Parlament eine entschiedene Gegenbewegung zu erwarten wäre, ganz im Gegenteil, die dortigen Mehrheitsfraktionen folgen in ihren Entscheidungen der marktliberalen Doktrin, die in den meisten EU-Staaten dominiert. Dennoch könnten auf diesem Wege radikalere Parteien Einfluß auf Dinge gewinnen, die sie nichts angehen.

Als die Bevölkerung Frankreichs vor vier Jahren in einem Referendum den Entwurf zum EU-Verfassungsvertrag mit deutlicher Mehrheit ablehnte, obwohl die Konsensmaschinerie in Politik und Medien zuvor massiv auf eine Zustimmung gedrängt hat, da bewiesen rund 70 Prozent der französischen Wähler, daß es durchaus ein Interesse an politischer Partizipation gibt, wenn die eigene Stimme Folgen zeitigt, die nicht rein symbolischer Natur sind. 2004 hatten sich nur 43 Prozent der französischen Wahlberechtigten an den EU-Wahlen beteiligt. Ein Jahr später gingen die Menschen nach einer heftigen und erstaunlich sachkundigen Diskussion, die im Vorfeld des Referendums in der französischen Gesellschaft ausgebrochen war, massenhaft zu den Wahlurnen, um ihre Stimme geltend zu machen.

Es ist also schlichtweg verlogen zu behaupten, die Menschen interessierten sich nicht für "Europa" oder die Politik der EU. Sie werden auf antidemokratische Weise von wesentlichen Entscheidungen ausgeschlossen und dann auch noch bezichtigt, für die Wahl zu einem untergeordneten, da dem klassischen Konzept der Gewaltenteilung kaum genügenden supranationalen Parlament nicht genügend Interesse aufzubringen. Die politischen Funktionseliten, die die Formation eines imperialen Blocks der EU-Staaten vorantreiben, haben kein ernsthaftes Interesse an Mitsprache der Bevölkerung. Der demokratische Schein einer angemessenen Wahlbeteiligung sollte schon gewahrt bleiben, aber keinesfalls zu dem Preis einer möglichen Intervention von unten, die die Pläne der Herrschenden behindern oder durchkreuzen könnte.

5. Juni 2009