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HERRSCHAFT/1527: ELENA verhindern ... die neue Bürgerrechtsbewegung hat Zukunft (SB)



Fast 35.000 Bundesbürger haben 2008 gegen die Vorratsdatenspeicherung Verfassungsbeschwerde eingelegt. Wie das vor einem Monat in Karlsruhe ergangene Urteil belegt, hat sich die Mühe gelohnt. Das anlaßlose Registrieren von Daten der Telekommunikation wurde zwar nicht grundsätzlich verworfen, aber mit Einschränkungen versehen. Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der die Verfassungsbeschwerde initiiert und organisiert hat, ist entschlossen, gegen eine Neufassung des Gesetzes wie auch die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, die dies verlangt, vorzugehen.

Die Mobilisierung so vieler Menschen gegen den massiven Grundrechteeingriff, der mit der präventiven Observation aller Teilnehmer an elektronischer Telekommunikation in Stellung gebracht wurde, ist ein Beleg dafür, daß der Sicherheitsstaat nicht mehr selbstredend auf den Untertanengeist bauen kann, der deutschen Bürgern nachgesagt wird. Gegen die selbstherrliche Anmaßung des die Privatsphäre immer penetranter durchdringenden großen Bruders regt sich Widerstand im Lande. Die neue Aufmerksamkeit, die die Bürgerrechte im Bereich der elektronischen Telekommunikation genießen, läßt auf breiteren Protest gegen staatliche Maßnahmen auch auf anderen Feldern der Herrschaftsicherung hoffen. Wo die Menschen merken, daß einmal gewährte demokratische Rechte auch wieder genommen werden können, sie also etwas zu verlieren haben, das sich nicht in Euro und Cent messen läßt, sondern den demokratischen Charakter ihres gesellschaftlichen Daseins betrifft, können sich völlig neue Fragen stellen.

Überzeugend bestätigt wird die Bedeutung dieser Bewegung durch die nun beim Bundesverfassungsgericht eingereichte Beschwerde gegen das ELENA-Verfahren zur zentralen Speicherung von Arbeitnehmerdaten. Auch bei diesem offiziell dem Bürokratieabbau gewidmeten Projekt handelt es sich um eine Form der Vorratsdatenspeicherung, die Millionen Erwerbstätige betrifft und in ihrer bedrohlichen Qualität kaum geringer zu schätzen ist als die generelle Aufbewahrung von Kommunikationsdaten aus Sicherheitsgründen. Zwar wurde die geplante Aufnahme von Streikbeteiligungen in den ELENA-Datensatz nach entschiedenem Einspruch von Datenschützern zurückgenommen. Doch Personendaten in Kombination mit Angaben zu Fehlzeiten, Abmahnungen, sogenanntem Fehlverhalten sowie mit individuellen Bewertungen durch den Arbeitgeber bieten allemal Anlaß für den Verdacht, daß eines Tages Profile von Lohnabhängigen erstellt werden könnten, bei denen es keineswegs nur um die effizientere Organisation des Arbeitsmarktes geht.

Als Initiator dieser Verfassungsbeschwerde fungierten die Bielefelder Datenschutzaktivisten vom FoeBuD (Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs e. V.). Zahlreiche weitere Aktivisten und Organisationen wie der AK Vorratsdatenspeicherung beteiligten sich an der Mobilisierung und stießen dabei auf große Resonanz. Innerhalb von zwei Wochen erteilten 22.005 Bürger den Initiatoren der Verfassungsbeschwerde gegen ELENA eine Vollmacht. Brauchte man 2007 noch mehrere Monate, um die im Februar 2008 eingereichten Vollmachten der knapp 35.000 Beschwerdeführer gegen die Vorratsdatenspeicherung zusammenzubekommen, so öffneten die Aktivisten des FoeBuD e.V. und ihre freiwilligen Helfer in nur wenigen Tagen tausende von Briefen und bereiteten die Vollmachten in Form von mehr als 60 Aktenordnern, die dem Karlsruher Gericht am 31. März übergeben wurden, für die Verfassungsbeschwerde auf.

In Anbetracht dessen, daß die geplante Vorratsdatenspeicherung sehr viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhielt als das ELENA-Verfahren, das seinen Anfang 2002 unter dem Titel "JobCard" im Rahmen der geplanten Arbeitsmarktreformen nahm, ist das kurzfristige Zustandekommen dieser Massenklage ein um so größerer Erfolg. Indem die hauptsächlich über das Internet kommunizierenden Datenschutzaktivisten Bedrohungen der Freiheit der Bürger ins Visier nehmen, die vor wenigen Jahren noch ein Nischendasein fristeten, berühren sie einen gesellschaftlichen Widerspruch von erheblichem Streitpotential. ELENA geht nicht zufällig auf die Entwürfe der Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" unter Peter Hartz zurück, handelt es sich bei der zentralisierten Administration der Arbeitsgesellschaft doch um ein Instrument der intensiveren Erschließung noch nicht für das Kapital verwerteter menschlicher Potentiale. Setzt man sich detaillierter mit den Konzepten des ehemaligen VW-Managers, dem der Name des veritablen Zwangssystems Hartz IV geschuldet ist, auseinander, dann erschließen sich Nutzanwendungen der datenelektronischen Erfassung aller Lohnabhängigen, die allein vom Zweck ihrer maximalen Ausbeutung bestimmt sind.

So hat die Frage, was die Herrschenden zum permanenten Ausbau ihres Überwachungs- und Repressionsarsenals bewegt, viel mit dem virulenten sozialen Konflikt um Armut und Reichtum zu tun. Der Sicherheitsstaat macht keineswegs nur gegen den Terrorismus mobil, wie das krasse Mißverhältnis zwischen der unaufhaltsam erscheinenden inneren Aufrüstung und der faktischen Bedrohung durch Anschläge belegt. Die durch die Weltwirtschaftskrise beschädigte Legitimation des Kapitalismus und die daraus resultierende Verschärfung des Verteilungskampfes hat die überwunden geglaubte Frage nach einer lebenswerteren Gesellschaft wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Die erfolgreiche Diskreditierung des Sozialismus hat zwar bislang verhindert, daß sich eine Protestbewegung formiert, der es nicht nur um befristete Vorteile bestimmter Interessengruppen geht, doch die weitere Entwicklung ist so offen wie seit langem nicht mehr. Wenn die Menschen merken, daß sie etwas von unten bewegen können, wenn sie entdecken, daß politisches Engagement gerade auch außerhalb der dafür üblicherweise zuständigen Massenorganisationen Wirkung zeigen kann, dann fassen sie vielleicht auch Mut, die Vereinzelung zu überwinden und neue Formen des gemeinschaftlichen Kampfes zu wagen.

1. April 2010