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HERRSCHAFT/1549: Protektorat Haiti - Aus Okkupation und Naturkatastrophe geboren (SB)



Offiziell ist Haiti kein Protektorat und äußerte man den Verdacht, an den Haitianern werde ein Mangelregime auf niedrigstem Niveau exerziert, flöge einem empörter Protest nur so um die Ohren: Versäumnisse, Fehleinschätzungen, Unzulänglichkeiten gewiß, vielleicht sogar Gleichgültigkeit und Selbstsucht, doch die Annahme, im Zeichen humanitärer Hilfe werde die Administration verelendeter Massen und die Prävention der Hungerrevolte erprobt und perfektioniert, geht denn doch zu weit.

Wie man aus Haiti hört, kursieren unter der Bevölkerung, die nun schon seit Monaten vergeblich auf spürbare Fortschritte hofft, zahllose Verschwörungstheorien. Die NGOs, so lautet eine, hielten die Menschen absichtlich so lange in den Lagern, um den Notstand aufrechtzuerhalten und weiter Gelder zu kassieren. Die Regierung verzögere absichtlich die Beseitigung des Schutts und den Wiederaufbau, um internationalen Gebern das Maximum aus der Tasche zu ziehen, meinen andere. Hilfsorganisationen und Friedenssoldaten zeigten sich nur vor laufender Kamera spendabel, während sie sich ansonsten nicht blicken ließen, klagen Dritte. Abwegige Phantasien, wie gesagt, gespeist aus Unwissenheit und Ungeduld, denn schließlich könne man angesichts des ungeheuren Ausmaßes der Katastrophe nur in kleinen Schritten vorankommen, weisen die Aufgeklärten solchen unsinnigen Argwohn zurück.

Bei dem verheerenden Erdbeben vom 12. Januar nahe der Hauptstadt Port-au-Prince waren rund 230.000 Menschen ums Leben gekommen, 1,5 Millionen Haitianer obdachlos und wesentliche Teile der Infrastruktur des Landes zerstört worden. Sechs Monate später zeichnete Präsident Rene Préval in den Überresten des Nationalpalastes diverse ausländische Persönlichkeiten für ihre Verdienste um Hilfe und Wiederaufbau mit Ehrenmedaillen aus, darunter den Chef der UN-Mission in Haiti, führende Vertreter von NGOs sowie allerlei Politiker, Prominente und Journalisten namentlich US-amerikanischer Provenienz. Letzteres animierte den französischen Botschafter zu dem sarkastischen Scherz, wie wichtig es doch sei, dem mächtigen Nachbarn im Norden die Anerkennung nicht zu versagen, schließlich hatte kein einziger Franzose - von Kubanern oder Venezolanern ganz zu schweigen - eine Medaille abbekommen. Davon abgesehen plauderte man angeregt über Hoffnung und Fortschritt, wie man auch allseits einräumte, daß natürlich vieles noch verbessert werden müsse, wo man andererseits doch schon so viel erreicht habe. [1]

Auf einer Geberkonferenz im März hatte die internationale Gemeinschaft Haiti 9,9 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau zugesagt. Als Monate später die Regenzeit anbrach, rief IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn die beteiligten Staaten auf, "schnell" ihre gemachten Hilfsversprechen einzulösen, damit "der Wiederaufbau beschleunigt, der Lebensstandard rasch erhöht und soziale Spannungen gemildert" werden könnten. Was war geschehen? Diversen Berichten zufolge sind bislang nur zehn Prozent, laut CNN gar nur zwei Prozent dieser Summe eingetroffen. Und wie UN-Missionschef Edmond Mulet freimütig einräumte, sei der Sinn von Dringlichkeit inzwischen abhanden gekommen. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß nach wie vor mehr als 1,5 Millionen Menschen unter notdürftigsten Verhältnissen in Lagern leben, wo sie extremen Witterungsbedingungen ausgesetzt sind. [2]

Vielleicht klärt sich der Widerspruch dahingehend auf, daß es die ausländischen Offiziellen aller Couleur, die mehr oder minder amtlich oder beruflich in Haiti weilen, tatsächlich nicht sonderlich eilig haben. Sie hungern und dursten nicht, frieren nicht in Notunterkünften, werden nicht vom Sturm gepeitscht und von Wolkenbrüchen durchnäßt, nicht beraubt und bestohlen, nicht vergewaltigt und geschlagen, nicht von angeheuerten Banden der Grundbesitzer vertrieben und dergleichen Widerwärtigkeiten mehr. Die Wiederaufbaukommission unter Vorsitz des UN-Sondergesandten Bill Clinton und des haitianischen Premierministers Max Bellerive, die de facto die gewählte Regierung ersetzt hat, scheint jedenfalls Zeit zu haben, wurde ihre zweite Sitzung doch soeben um einen Monat verschoben.

Für die meisten Haitianer ist keine Besserung in Sicht. Im Laufe eines halben Jahres wurden landesweit nur 5.500 sturmsichere sowie rund 28.000 vorläufige Unterkünfte errichtet. Werfen wir einen Blick auf das Lager Corail, das als Modell einer erfolgreichen Umsiedlung gehandelt wird. Es verfügt im Unterschied zu den allermeisten anderen Lagern, von denen es Tausende gibt, über Latrinen, Duschen, eine Krankenstation und sogar eine kleine Bücherei. Als die Regenstürme einsetzten, wurden jedoch hundert Zelte auf der Stelle zerstört. Am schlimmsten jedoch ist die Isolation des Standorts. Errichtet an einem kahlen Berg in einer Wüste ohne Schatten und Vegetation, gibt es nichts außer feinem Sand, den der Wind durch alle Ritzen treibt. Wer den nächsten Ort erreichen will, muß eineinhalb Stunden mit mehreren Bussen fahren. Das einzig Nennenswerte in der Nachbarschaft des Lagers ist ein Massengrab, das früher von Todesschwadronen benutzt wurde und nach dem Erdbeben im Januar zahllose namenlose Opfer aufnahm.

Für die Lagerinsassen gibt es in dieser Umgebung nicht das geringste zu tun, obgleich man es tagsüber im Zelt vor Hitze und draußen vor Staub nicht aushält. Tausende leben hier in völliger Ungewißheit, wie man weiter mit ihnen verfahren wird. Bleiben sie für Monate oder gar Jahre in diese Einöde verbannt oder transportiert man sie morgen in irgendein anderes Lager? Verlieren sie ihre allerletzten Habseligkeiten beim nächsten Sturm, stiehlt man ihnen auch noch den Rest? Werden sie von Banden drangsaliert, die in der Lagerathmosphäre wie Pilze aus dem Boden schießen?

Sieht so das Modell der Zukunft aus, die man 1,5 Millionen Haitianern zugedacht hat? Sollen Hunderttausende darum betteln, für 4,50 Dollar pro Tag Trümmer mit Vorschlaghämmern zerkleinern und in Schubkarren abtransportieren zu dürfen? Natürlich müssen sie dabei aufpassen, nicht von den vollklimatisierten Fahrzeugen der bessergestellten Kreise, wohlhabenden Diasporahaitianer oder ausländischen Berater, von denen etliche locker 1000 Dollar am Tag verdienen, über den Haufen gefahren zu werden. Manche des Elends müde Helfer internationaler Organisationen logieren - so hört man - auf dem "Love Boat", einem Schiff der Vereinten Nationen, dessen tägliche Betriebskosten sich auf 112.500 Dollar belaufen sollen, was dem Gegenwert von hundert provisorischen Unterkünften entspricht.

Doch genug damit. Was, bitte, sollen Armut und Reichtum, Unterdrückung und Ausbeutung mit einer Naturkatastrophe dieses Ausmaßes zu tun haben, vor der bekanntlich alle Menschen gleich sind? Lassen wir die Regierungen und Hilfsorganisationen, die Grundbesitzer, Unternehmer und Geschäftsleute in Ruhe ihre Arbeit machen. Auch wenn nicht alles perfekt läuft und vieles der Nachbesserung bedarf, besteht doch kein Anlaß, finstere Absichten zu unterstellen und Zusammenhänge zu vermuten, wie sie nur abseitiges Denken ausbrüten kann.

Anmerkungen:

[1] Too Soon for Medals. In Haiti the Sense of Urgency Has Been Lost (15.07.10)
Counterpunch

[2] Rained Out? Opportunities in Haiti are Washing Away (21.07.10)
Counterpunch

28. Juli 2010