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HERRSCHAFT/1572: Abgesang 2010 ... mit Sarrazin in eine neofeudale Zukunft marschieren (SB)



Das die bundesrepublikanische Gesellschaft dominierende Ereignis des Jahres 2010 war zweifellos die Veröffentlichung und Dauerpräsentation des Buches "Deutschland schafft sich ab" des SPD-Politikers Thilo Sarrazin. Die sich daran unter dem Namen des Stichwortgebers anschließende Debatte geht allerdings weit über das Thema der sogenannten Integration hinaus. Mit dieser Interpretation wurde dem Topf, in dem das durch die neoliberale Umverteilungspolitik angeheizte sozialrassistische Ressentiment aufkocht, ein offiziöser, blanke Feindseligkeit in gesellschaftsfähige Verächtlichkeit ummünzender Deckel aufgesetzt.

Sarrazins nach einer kurzen Phase der Orientierung, in der die Bereitschaft zur allgemeinen Akzeptanz rassistischer Hetze geprüft wurde, massenmedial als Befreiungsschlag bejubelter Tabubruch eröffnete eine Offensive gegen soziale und ethnische Minderheiten, die in der Geschichte der BRD ihresgleichen sucht. Endlich einmal sagen zu können, was an die Oberfläche des gesellschaftlichen Diskurses drängt, bislang jedoch von linken Denkverboten unterdrückt wurde - die Sprache der Klassenherrschaft kleidet sich ins Gewand der Freiheit und schafft breite Zustimmung durch die rassistische Stigmatisierung in Deutschland lebender Muslime.

Sarrazins Leistung besteht im wesentlichen darin, vorherrschende Ressentiments in einer volkswirtschaftlichen Vulgärlogik zu verankern, die im Münteferingschen Diktum "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" auf den Nenner ihres sozialdemokratischen Antikommunismus gebracht werden kann. Dabei handelt es sich nicht, wie der gelernte Ökonom behauptet, um ein hieb- und stichfestes Ergebnis wissenschaftlicher Berechnungen. Ob in einer arbeitsteilig organisierten und industriell hochentwickelten Gesellschaft denjenigen, die für ihre Kapitalakkumulation nicht mehr benötigt werden, ein angemessenes Leben ermöglicht wird oder nicht, ist eine Frage der Position. Sie im Sinne neoliberaler Ratio zu verneinen unterwirft die Gesellschaft sozialdarwinistischen Kriterien. Tonangebend wird die Anthropologie des Überlebens zu Lasten des anderen. Die Sieger organisieren sich im Kollektiv der Anspruchsberechtigten, um das eigene Interesse unter Zuhilfenahme von Argumenten durchzusetzen, deren Gültigkeit auf nichts anderem als ökonomischer und institutioneller Macht beruht.

Das eigene Überleben zu verabsolutieren, indem das Primat der Erwerbsarbeit mit gesellschaftlicher Partizipation in eins gesetzt wird, ist gleichbedeutend damit, all denjenigen, die ihm nicht genügen, den sozialen Krieg zu erklären. Sarrazins großer Erfolg erklärt sich daraus, daß er der imperialistischen Aggression, mit der die westlichen Metropolengesellschaften ihren zusehends in Frage gestellten globalen Hegemonialanspruch zu sichern versuchen, ein gesellschaftliches Äquivalent verschafft hat, mit Hilfe dessen sich diejenigen der Teilhaberschaft an der Beute versichern können, deren soziale Stellung durch die neoliberale Umverteilung gefährdet ist. Nachdem die Gültigkeit des Klassenantagonismus durch den Niedergang der sozialistischen Staatenwelt dementiert erscheint, verbleibt der nach 1990 von Samuel Huntington zum neuen weltpolitischen Paradigma erklärte Clash of Civilizations als Deutungsmuster, das die ersehnte Antwort auf die eigene Misere bietet.

Die damit vollzogene Klassenspaltung bedient sich klassischer rassistischer Stereotypien, um sogenannten Herkunftsdeutschen das Feindbild zu liefern, das sie zuverlässig auf die Seite der Herrschenden zieht und unter dem Banner eines angeblich positiven Patriotismus gegen angebliche innere und äußere Feinde in Stellung bringt. Dabei steht der Muslim durchaus in Kontinuität zum Kommunisten, auch wenn ihn mit diesem nichts verbindet außer seiner Eignung, inneren Frieden durch Haß nach außen zu stiften:

"Doch unterhalb dieser Arbeiterklassen, die sich in einem Prozeß der Verbürgerlichung befinden, ist durch die Zuwanderung ein neues ethnisches Subproletariat entstanden, das, assimilations- und bildungsfern, in seinen ghettoähnlichen Wohnquartieren, in denen der Einfluß eines fundamentalistischen Islams um sich greift, den Aufenthalt in einer abgeschirmten Subkultur vorzieht. Dort könnte sich ein Sprengstoff ansammeln, der die 'Rote Gefahr' des 19. Jahrhunderts bei weitem übertrifft." [1]

Was der linksliberale Historiker Hans-Ulrich Wehler im fünften Band seines angeblich epochalen Werks "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" als bedrohlichen Ausblick auf die nähere Zukunft präsentiert, taugt nur deshalb zum selbstevidenten Feindbild, weil es jeglichen Zusammenhangs sozialer und geopolitischer Art enthoben ist. Dies gilt für Sarrazins biologistisch aufgeladene Diffamierung muslimischer Mitmenschen als ökonomisch unproduktive und kulturell im Mittelalter verbliebene Nutznießer deutscher Produktivität nicht minder. Was sich das nationale, auf Sieg im globalen Verdrängungskampf abonnierte Kollektiv unter dem Titel einer offenen, liberalen Gesellschaft an Ein- und Ausschließungsprozessen leistet, wird auf sozial unterprivilegierte Gruppen projiziert, auf daß die Mehrheitsbevölkerung ihre aus ganz anderen Quellen gespeiste Notdurft an ihnen abarbeiten kann.

Sarrazin ist ein klassischer Demagoge, dessen Zeit gekommen ist, wie an die 1,3 Millionen verkaufte Exemplare und eine dementsprechende Leserreichweite seines Buches "Deutschland schafft sich ab" verraten. Auch viele moderate Kritiker der von ihm aufgestellten Behauptungen sind der Ansicht, daß der SPD-Politiker eine längst überfällige Debatte angestoßen hat. Die Unterwerfung ausländischer Mitbürger unter die deutsche Leitkultur respektive ihre Abstrafung und Vertreibung ist bloßer Abglanz der programmatischen Absicht, jeden Gedanken daran zu überwinden, daß das eigene Leben nicht gleichbedeutend ist mit dem quasi naturgegebenen Anspruch auf Expansion zu Lasten anderer Menschen und Lebewesen. Das Primat des Starken zu verabsolutieren beginnt mit der Entsorgung jeglicher emanzipatorischer Ideale, exekutiert an der Dämonisierung einer angeblich linken Hegemonie, die in den 1960er Jahren wurzeln soll. Dazu ist man sich nicht zu schade, regelrechte Verschwörungstheorien über die Unterdrückung liberaler Geister in Politik, Medien und Wissenschaft in die Welt zu setzen.

Angeblich könne man in seiner Karriere schweren Schaden erleiden, wenn man bestimmte Meinungen äußert, behaupteten die Teilnehmer einer Diskussion, in der sich Norbert Bolz, Hendryk M. Broder, die Autorin Brigitte Klump und der Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung, Bernd Hilder, unter dem Titel "Man wird doch wohl noch sagen dürfen - Meinungsfreiheit zwischen Tabubruch und politischer Korrektheit" im Eindreschen auf Linke aller Couleur übertrafen. Das Lamento des Journalisten Hilder über die angeblich karriereschädigende Maßregelung durch altlinke Professoren an deutschen Universitäten mündete in ein Loblied auf Sarrazin, der insbesondere für seine Angriffe auf die sogenannte Political Correctness breite Zustimmung erhalten habe. Ihm sei zu danken, weil

"die Menschen aufgeatmet haben und gesagt haben, wir leben seit Ewigkeiten unter diesem Druck, zu bestimmten Themen sich überhaupt nicht äußern zu dürfen, Angst davor zu haben, die eigene Meinung zu äußern, weil man ständig von diesen Agenten der Political Correctness gemaßregelt wird und weil es auch Drohungen gibt. Es gibt schlicht Drohungen, und das ist eine Atmosphäre, die so antiaufklärerisch wie irgend möglich ist. Da müßte man unbedingt ansetzen. (...)

Was wir im Moment erleben, ist eigentlich das letzte Gefecht der 68er und ihrer nachfolgenden Wächtergeneration. Von den 68ern ist im Grunde politisch gar nichts übrig geblieben außer dem Marsch durch die Institutionen. Der hat stattgefunden und der war wahnsinnig erfolgreich. Sie sitzen überall, in allen Chefredaktionen, sie sitzen in allen Intendantenbüros, vor allem in den Universitäten und in der Regierung. Der Witz bei der ganzen Sache ist, daß diese Leute auch um ihre politische Hegemonie kämpfen. Das ist ein Hegemonialanspruch. Die 68er haben eine Generationenherrschaft ausgeübt, wenn man so will, von der Zeit, als sie aufmüpfige Schüler waren, bis hin zu pensionierten Außenministern. Sie haben die ganze Zeit Deutschland beherrscht geistig, und diese geistige Hegemonie steht jetzt auf dem Spiel. Deshalb auch die wütenden Reaktionen gegenüber ... (wird unterbrochen). Sie steht auf der Kippe, ich sehe das auch ganz optimistisch, und ich könnte mir vorstellen, daß Sarrazin einmal im Rückblick nicht aufgrund der Integrationsdebatte in Erinnerung bleibt, sondern als ein Symptom oder als ein Augenblick, an dem man sagen kann, hier ist die geistige Vormacht der 68er endlich zerbrochen, und das wäre natürlich eine fantastische Entwicklung." [2]

Die mehrfach von starkem Applaus begleitete Philipikka des Chefredakteurs eines sozialdemokratischen Traditionsblatts arbeitete sich an sogenannten 68ern ab, deren Erfolg gerade darin besteht, daß sie ihren Frieden mit dem System gemacht und darüber führende Positionen in ihm erlangt haben. In Anbetracht dessen, daß Diskussionsrunden wie diese längst mehrheitlich von neoliberalen und neokonservativen Stichwortgebern bevölkert sind, ist die Genugtuung Hilders über den absehbaren Sieg im Kampf gegen die Staatslinke weit relevanter als die Unterstellung, eine linke Meinungsdiktatur verhindere die das nächste Mal unumkehrbare Restauration neofeudaler Verhältnisse.

Fußnoten:

[1] entnommen aus Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 84, Dezember 2010, S. 41

[2] Deutschlandfunk, Zur Diskussion, 29. September 2010

30. Dezember 2010