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HERRSCHAFT/1679: Konkurrenz statt Umverteilung - Westerwelles neoliberales Stoßgebet (SB)




Wenn selbst die größte deutsche Boulevardzeitung konstatiert, daß "die Schere zwischen Reich und Arm" doch "sehr weit aufgegangen" sei [1], kann es sich zu Wahlkampfzeiten keine Partei leisten, das Offenkundige zu bestreiten. Das gilt um so mehr, als die Metapher der Schere vorzüglich geeignet ist, eine von allen gemeinsam erwirtschaftete Wertschöpfung zu unterstellen, deren Produkt nur angemessen verteilt werden müsse. Hat man die Existenz eines Kuchens geschluckt, ohne nach seiner Herkunft zu fragen, läßt sich herzhaft über die Größe der Stücke streiten, die jeder abbekommen soll. Zugleich schießen Spekulationen ins Kraut, welche Treibmittel geeignet seien, das offenbar schrumpfende Backwerk wieder aufgehen zu lassen.

Die SPD legt den akrobatischen Spagat aufs Parkett, im selben Atemzug die Agenda 2010 samt Hartz IV als Jahrhundertreform zu preisen und sich als Sachwalter sozialer Gerechtigkeit in die Brust zu werfen. Lachhaft, winken die Grünen verächtlich ab und behaupten kurzerhand, sie seien schon damals für eine sozialverträgliche Agenda gewesen. Nachhaltig schreite man in die ökosoziale Zukunft voran, grün und gedeihlich winke die Ökonomie maßvollen Wachstums. SPD-Chef Sigmar Gabriel nennt die Grünen gar die "im besten Sinne Liberalen" in Deutschland, um Rot-Grün zur Wiederauferstehung sozial-liberaler Blütenträume zu verklären.

Das kann die für überflüssig erklärte FDP nicht auf sich sitzen lassen, setzt es doch ihrer notorischen Fünf-Prozent-Schwäche die Krone auf, daß kein Hahn mehr nach ihr kräht. Guido Westerwelle, als Außenminister weithin geschmäht, weil er der deutschen Kriegsbegeisterung zeitweise Zügel angelegt hat, will wenigstens innenpolitisch Punkte für sich und seine Freidemokraten machen. Einfach ist das nicht, eine ausgemachte Klientelpartei als Segen für die Mehrheitsgesellschaft zu verkaufen, und so hört sich sein argumentatives Flickwerk im Bild-Zeitungs-Interview recht kurios an:

Eine Gerechtigkeitsdebatte ist willkommen, darf aber nicht mit Umverteilung verwechselt werden. Es gibt keinen Mangel an Umverteilung in Deutschland. Wir brauchen mehr Leistungs- und Chancengerechtigkeit, keine weiteren Belastungen der Mittelschicht. Ein Land ist dann gerecht, wenn persönlicher Aufstieg durch gute Bildung nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt.

Daß sie Gerechtigkeit erfahren können, obgleich ihr Geldbeutel leer bleiben wird, dürfte zumindest jene Millionen von Bundesbürgern erstaunen, die nicht länger wissen, wie sie ihr Dasein und das ihrer Kinder fristen sollen. Wenn es hierzulande keinen Mangel an Umverteilung gibt, wie Westerwelle verkündet, scheint er folglich die florierende Umverteilung von unten nach oben zu Zeiten der Krise für höchst erfreulich, weil einer handfesten Konkurrenzgesellschaft würdig, zu erachten.

Daß das Hauen und Stechen, vom Minister vorsichtshalber als "Leistungs- und Chancengerechtigkeit" verbrämt, nicht ohne Kollateralschäden abgeht, kann selbst Westerwelle nicht ganz in Abrede stellen. "Auswüchse oben und unten" gebe es, die habe die FDP "angepackt". Aber "die sozialste Politik" sei immer noch, "Mittelstand und Mittelschicht zu stärken", denn das schaffe "Wohlstand für alle". Das beste Konjunkturprogramm für alle sei die Überwindung der Schuldenkrise.

Davon abgesehen, daß schleierhaft bleibt, was die FDP oben und unten angepackt haben will, nötigt einem die Unverfrorenheit, angesichts der Koinzidenz einer Konzentration immensen Vermögens in Händen weniger und massenhafter Verelendung von gleichsam marginalen Auswüchsen zu sprechen, nicht einmal mehr widerwilligen Respekt vor der Chuzpe aus Politikermund ab. Wenn es um die "große Richtungsentscheidung für Deutschland" geht, die Westerwelle in der Bundestagswahl 2013 sieht, steht seine Partei für eine klare Absage an jede Steuererhöhung: Damit käme man "wieder auf die schiefe Bahn, die Europa gerade verlassen will". Man könne nur verteilen, was vorher auch erwirtschaftet wurde, kolportiert er die Fiktion eines Staatshaushalts ohne Neuverschuldung, um der Fortsetzung einer rigiden Sparpolitik das Wort zu reden.

Die Steuererhöhungspläne der Oppositionsparteien "wären Gift für die Konjunktur in Deutschland und Europa", während die christlich-liberale Koalition "für ein Ende dieser Schuldenpolitik" stehe, bleibt Westerwelle jede Antwort schuldig, wie er sein Aufstiegsversprechen zu finanzieren gedenkt. Reduziert man die Verschuldung der öffentlichen Haushalte, während zugleich eine höhere Besteuerung von Spitzenverdienern und Vermögenden ausgeschlossen wird, bleibt von dem Wahlversprechen der FDP nur noch ein Stoßgebet an die neoliberale Doktrin, welche die Klientel der Liberalen erlösen soll. Und sollte dieses Wunder ausbleiben, reicht es vielleicht wenigstens für die Rettung der FDP.

Fußnote:

[1] http://www.bild.de/politik/inland/bundestagswahl/guido-westerwelle-interview-fdp-29728446.bild.html

2. April 2013