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HERRSCHAFT/1700: Unglaubwürdiges Lamentieren über rechten Aufschwung (SB)




Das Lamento über den Erfolg rechtspopulistischer Parteien bei den Wahlen zum EU-Parlament dient vor allem dazu, die Verantwortung der sogenannten proeuropäischen Parteien für diese Entwicklung unter den Tisch zu kehren. Indem diese ein Europa ohne Grenzen, des Friedens und der Menschenrechte als quasi naturwüchsigen Ausgangspunkt und logische Konsequenz des europäischen Einigungsprozesses propagieren, während Flüchtlinge zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken, Angst vor Erwerbslosigkeit und Armut insbesondere unter Jugendlichen grassiert, die Menschen in den europäischen Krisenstaaten sich auf einem Niveau an Daseinsfürsorge mit den Ländern des Südens wiederfinden und die EU in der Ukraine eine offensiv gegen Rußland gerichtete Hegemonialpolitik verfolgt, tritt der Abstand von Sein und Schein immer unübersehbarer hervor.

Wo der Absturz ins Elendsproletariat droht und Mehrwert vor allem auf der nach unten offenen Skala der Kostensenkungen produziert wird, sind die Menschen konkretem Überlebensdruck ausgesetzt. Die Angst geht um, und das ist gewollt, könnte die Beherrschbarkeit der Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen doch kaum besser garantiert werden als durch die Androhung des Entzugs unverzichtbarer Lebens- und Nahrungsmittel. In einem Europa der ungleichen Entwicklung muß Einheit auf symbolpolitische und kulturelle Weise inszeniert werden, wenn sie nicht auf füreinander verantwortliche und verbindliche Weise gegen diejenigen umgesetzt wird, die den Anspruch auf Einheit als Mittel sozialer Ungleichheit einsetzen. Solange das Gefälle zwischen hochproduktivem Zentrum und ihm zuarbeitender Peripherie als Motor der Wertschöpfung eingesetzt wird, solange ist gegen den race to the bottom kein Kraut gewachsen.

Das dogmatische Festhalten an einer Europaideologie, die Wettbewerb und Wachstum zu einer angeblich auch noch sozialfreundlichen Heilslehre verabsolutiert, führt bei Menschen, die kaum noch etwas zu verlieren haben, dazu, ihr Heil in der Rückbesinnung auf die nationale Schicksalgemeinschaft zu suchen. Die realpolitischen Konkurrenzverhältnisse unter den EU-Staaten treiben immer mehr Menschen in existenzielle Bedrängnis, so daß nationalistische und neofaschistische Parteien beste Voraussetzungen haben, sich als Retter in der Stunde der Not zu empfehlen. Daß sie dabei das Geschäft bürgerlicher Eliten verrichten, denen das nationale Produkt auch unter Maßgabe der europäischen Integration über alles geht, ist an der von ihnen propagierten Vertiefung staatlicher Zwangs- und Gewaltanwendung unschwer zu erkennen. So erweist sich der vermeintliche Dissens zwischen der sogenannten politischen Mitte und dem rechten Rand spätestens dann als bloßes Mittel zum Zweck, wenn er bei bürgerlichen Parteien von Grün bis CDU/CSU zum Vorwand gerät, angeblich aus wahlstrategischen Gründen rechte Themen besetzen zu müssen.

Deutschland schafft sich längst nicht mehr ab, wie Thilo Sarrazin behauptete, sondern bildet die Speerspitze einer durch die EU vertieften Ordnung sozialer Unterschiede, in der die Menschen am besten abschneiden, die die propagierte sozialdarwinistische Leistungsdoktrin am rücksichtslosesten durchsetzen. Dem eine sozialistische Botschaft entgegenzuhalten, kann nur auf Resonanz stoßen, wenn der Schein der Wertegemeinschaft so wirksam perforiert wird, daß das Sein der Arbeitsgesellschaft in seinem Unterwerfungscharakter unübersehbar hervortritt. Der von rechts geschürte Sozialneid spielt kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung direkt in die Hände, indem die Logik, das Weniger des anderen bestimme das eigene Mehr, den sozialen Niedergang beschleunigt. Dem andern etwas als Sozialleistung zu gönnen, was selbst nur unter Entbehrungen erwirtschaftet werden kann, fördert die Zustimmung zum Sozialabbau gerade unter denjenigen, die im Zweifelsfall auf Sozialtransfers angewiesen sind. Die Peitsche des Mangels unter Hungerleidern zu schwingen, verrichtet das Geschäft der Herren quasi in vorauseilendem Gehorsam.

Hierzu hätte eine unerschrockene politische Linke viel zu sagen, doch sie zieht es allzuhäufig vor, sich allein auf symbolpolitischer Ebene von der Rechten unterscheiden zu wollen. Wo die Solidarität mit den Ärmsten und Schwächsten gestärkt wird, wo Gewaltverhältnisse zwischen Geschlechtern und Ethnien, zwischen Mensch und Natur aufgehoben anstatt vertieft werden, da hat die sozialrassistische Rechte nichts zu melden. Daß sie einen derartigen Erfolg wie bei den Wahlen zum EU-Parlament einfahren kann, ist nicht zuletzt der bescheidenen Angst einer Linken geschuldet, die den materialistischen Kern ihres Kampfes vergessen und durch PR-Manöver identitätspolitischer Art ersetzt hat. Auf diesem Gebiet sind Rechte immer glaubwürdiger. Sie propagieren gar nicht erst die Abschaffung des Kapitalismus, sondern die Maximierung seiner Aggressivität zugunsten des räuberischen Nationalkollektivs. Das siegt in letzter Instanz über eine Linke, die sich anschluß- und regierungsfähig machen zu müssen meint, um darüber ganz und gar im Pluralismus des anything goes zu verschwinden.

26. Mai 2014