Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1712: Rezeptur der Unterwerfung - Gesinnungsverdacht und Dilemmastrategie (SB)



Die Antieuropäer setzten "mit ihrer Propaganda dieses große Zivilisationsprojekt des 20. Jahrhunderts aufs Spiel", tönte Sigmar Gabriel unter großem Applaus auf dem Berliner Bundesparteitag zur EU-Wahl im Januar 2014 und gelobte: "Deshalb werden wir den Gegnern Europas entschieden entgegen treten!" [1] Um der Konkurrenz von links in die Parade zu fahren, verortete er die Linkspartei zusammen mit der AfD im Lager der "Feinde Europas" und behauptete: "Links- und Rechtspopulisten setzen die EU aufs Spiel" [2]. Wie zivilisiert und solidarisch ein Parteivorsitzender der SPD sein kann, bewies Gabriel dieser Tage, als er dort, wo scharfe Ansagen des deutschen EU-Direktorats auf besonders fruchtbaren Boden fallen, Vollzug in Athen anmahnte: "Wir wollen Griechenland helfen und sie auch im Euro halten. Aber nicht nur die Zeit wird knapp, sondern überall in Europa auch die Geduld. Überall in Europa wächst die Stimmung ES REICHT!" [3]

Gabriel brachte die seit Antritt der griechischen Regierung im Januar in deutschen Medien geschürte Empörung über die vermeintlich betrügerische Haltung, einmal gemachte Schulden nicht bedienen zu wollen, in der Bild-Zeitung auf den paternalistischen Imperativ, ohne mit einem Wort die akute existentielle Not von Millionen Griechinnen und Griechen zu erwähnen. Da die unterstellte Hilfe in Form weiterer Kredite daherkommt, die die um den Hals der griechischen Bevölkerung gelegte Schlinge der Austeritätspolitik noch enger ziehen, machte sich Gabriel mit seinen Worten zum Sachwalter eines Diktats, das die davon Betroffenen in eine aussichtslose Lage manövriert. Werden Täter und Opfer in einer rhetorischen Rochade miteinander ausgetauscht, ohne daß sich am zugrundeliegenden Gewaltverhältnis irgend etwas ändert, dann resultiert jedes Aufbegehren des Opfers in einem zusätzlichen Beweis seiner moralischen Schuldhaftigkeit. Daß Gabriel diese Selbstgerechtigkeit auch noch mit antikommunistischer Polemik würzte, läßt an jenen SPD-Politiker denken, der seine Rolle bei der Niederschlagung der revolutionären Linken 1919 damit rechtfertigte, daß einer "den Bluthund machen" müsse: "Deshalb werden Europa und Deutschland sich nicht erpressen lassen. Und wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen" [3].

Nur durch die Aufkündigung der Abhängigkeit, in die sich Griechenland begeben hat, könnte sich die Bundesregierung von Griechenland "erpressen" lassen. Daß es dazu nicht kommt und die Unterordnung Athens nicht beendet wird, belegt eher die Existenz von Verbündeten auf griechischer Seite und kennzeichnet den Vorwurf der Erpressung als Aufforderung zur Kapitulation. Kommunisten beuten deutsche Arbeiter aus - wie weit dieser Genosse der Bosse hinter alles zurückfallen kann, was sozialdemokratische Politik sich einmal auf die Fahnen schrieb, entbehrt jedes Vergleiches. Da es sich bei den Staatsschulden Griechenlands hauptsächlich um Kredite handelt, die vom privaten in den öffentlichen Sektor verschoben wurden, um die Außenstände westeuropäischer Banken zu sichern und den Euro in Wert zu halten, ist die griechische Lohnabhängigenklasse das eigentliche Opfer dieser Scharade. Die ohnehin kaum eingelösten Wahlversprechen Syrizas stehen bestenfalls für einen Bruchteil dieser Staatsschuld und waren sozialen Linderungen gewidmet, die zu verhindern, wie es nun im großen Stil geschieht, nichts anderes als einen Angriff auf die Menschenrechte darstellt.

Den unter allen Umständen zu leistenden Schuldendienst Griechenlands in einen Interessensgegensatz zu den Lohnabhängigen der Bundesrepublik zu setzen, kann mithin als unverschnittener Rechtspopulismus verstanden werden. Und das nicht nur, weil hier eine Bevölkerung gegen die andere in Stellung gebracht wird, anstatt das Verbindende und zu Überwindende ihrer bedrängten Situation herauszustellen. Da die Lohnzurückhaltung der erwerbsabhängig Beschäftigten der Bundesrepublik die Basis des nicht wundersamen, sondern zu Lasten von Millionen notleidender Menschen in anderen Teilen der Welt erwirtschafteten deutschen Exportwunders bildet und die Schuldenbremse für die öffentlichen Haushalte in der BRD über die Refinanzierung des Schuldendienstes der Defizitländer an deren Gläubiger mittelbar die Hegemonie deutscher Kapitalmacht sicherstellt, ergeben sich materielle Vorteile, die die hiesigen Lohnabhängigen aus diesem Unterwerfungsverhältnis angeblich ziehen, bestenfalls aus der fatalen Logik des kleineren Übels.

Anhand des Vergleichs zu anderen Bevölkerungen zu konstatieren, daß es einen selbst noch nicht so schlimm getroffen hat, zeitigt in der Standortkonkurrenz, der sozialdemokratisch geführte Gewerkschaften frönen, das zweckdienliche Ergebnis ganz anderer Interessen als derjenigen Menschen, für die Gabriel vermeintlich die Stimme erhebt. Wenn milliardenschwere Subventionen als direkte Zahlung oder indirekte Vergünstigung für Unternehmensinteressen freigesetzt werden, wenn die Bundeswehr mit modernsten Waffen kriegsfähig gemacht wird, wenn mit öffentlichen Mitteln geförderte Infrastrukturprojekte die Lebensqualität der Menschen mindern oder brutale Regimes durch staatliche Kreditbürgschaften gestützt werden, hält sich das Lamento sozialdemokratischer Politiker über diesen Betrug am Wahlvolk in Grenzen. Wofür ihre zentrale Klientel hinhalten muß, wenn die SPD in Regierungsverantwortung ist, darf nicht ruchbar werden, sonst könnte die Traditionspartei bei den Wahlen sogar hinter die linke Konkurrenz zurückfallen.

Nationalkollektive zu formieren, um sie im Interesse lachender Dritter gegeneinander aufzubringen, scheint nicht im Widerspruch zu dem von Gabriel beschworenen Zivilisationsprojekt der EU zu stehen. Der Staatenbund ist seiner neoliberalen Konstitution gemäß auf eine Marktlogik festgelegt, die die Menschen einer Überlebenskonkurrenz zu fast jedem Preis unterwirft und sie letztlich selbst zur Ware macht. Das war einer der Gründe, warum die Linkspartei auf ihrem Europaparteitag im Februar 2014 beschließen wollte, der EU in der Präambel ihres Programmentwurfes anzulasten, sie sei "zu einer neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht" geworden. Diese Passage wurde bekanntlich im Vorwege durch ein Bekenntnis zur EU ersetzt, die man zwar verändern, aus der man sich jedoch nicht zurückziehen wolle.

Damit agiert Die Linke als Schwesterpartei Syrizas nicht anders als diese im objektiven Interesse derjenigen Verfügungsgewalt aus Staat und Kapital, die die Menschen im Stand ihrer Unmündigkeit als bloße Partikel kapitalistischer Produktionsverhältnisse belassen will. Ein Blick auf die bisherigen Ergebnisse des Vollzugs der Forderungen der Gläubiger durch die griechische Regierung bestätigt, daß der gegen die im Grundsatz EU-kritische Linke gerichtete Vorwurf des Rechtspopulismus eben das ins Werk setzt, was rechte Politik in ihrem antiemanzipatorischen und antidemokratischen Kern ausmacht. Diesen Anwurf zu fürchten, anstatt ihn mit allen Mitteln der materialistischen und ideologiekritischen Analyse zurückzuweisen, führt nur immer tiefer hinein in das Dilemma aus sozialistischem Anspruch und seiner realpolitischen Aufhebung. Dem Verdacht, daß es sich dabei um ein herrschaftsstrategisches Manöver zum Zwecke dessen handeln könnte, die Alternativlosigkeit angeblicher Sachzwänge zu belegen, kann die Athener Regierung kaum glaubwürdig entgegentreten. Ihr Zugeständnis an die Troika erfolgte, nachdem die Bevölkerung deren Forderungen mit großer Mehrheit abgelehnt hatte, was auf geradezu klassische Weise die Tragödie einer Linken hervorbringt, die ihren eigenen Wurzeln nicht mehr traut.


Fußnoten:

[1] http://www.spd.de/aktuelles/114672/20140126_bpt2014_gabriel_rede.html

[2] http://www.taz.de/!5049950/

[3] http://www.bild.de/politik/ausland/alexis-tsipras/vize-kanzler-gabriel-macht-griechen-chefs-schwere-vorwuerfe-41350198.bild.html

5. Juli 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang