Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1727: Queere Querfront? (SB)



"Danke für nix" lautete das Motto der diesjährigen Demonstration zum Christopher Street Day (CSD) in Berlin, und 500.000 Menschen stimmten offensichtlich darin überein, daß die Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LGBTI) zu wünschen übrigläßt. Doch nicht nur das, die große Zahl der Protestierenden ist auch der analog zum Aufstieg rechtsradikaler und nationalchauvinistischer Bewegungen anwachsenden Homophobie in Europa geschuldet. Jüngstes Beispiel dafür war die lange Zeit, die Bundeskanzlerin Angela Merkel brauchte, um die Opfer des Anschlags von Orlando auch in ihrer konkreten Betroffenheit als LGBTI-Menschen anzusprechen [1].

Wo das konservative Familienbild, das die biologische Reproduktion ins Zeichen von Staat und Nation stellt und Abtreibung aus welchen Gründen auch immer dementsprechend verteufelt, wieder auf Zustimmung stößt, wo die patriarchalische Gesellschaft sozialdarwinistische Ideale der Durchsetzungskraft und des Erfolgsstrebens zum Maßstab kapitalistischer Vergesellschaftung erhebt, da müssen sich davon abweichende Minderheiten doppelte Mühe geben, um als gleichberechtigt anerkannt zu werden. Nun hat die neoliberale Leitdoktrin durchaus vermocht, das emanzipatorische Anliegen der Geschlechtergerechtigkeit und sexuellen Vielfalt in ihre Zwecke einzugemeinden, so daß längst nicht mehr davon ausgegangen werden kann, daß von heteronormativer, die Werte und Praktiken heterosexueller Paarbeziehungen verabsolutiernder Diskriminierung betroffene Menschen zugleich progressive und linke Ziele verfolgen.

Zugleich sind nicht alle nationalchauvinistischem und antimuslimischem Rassismus frönenden Bewegungen per se homophob, wie nicht nur das Beispiel des in den Niederlanden ermordeten Pim Fortuyn zeigt. Islamfeindlichkeit kann sich auch an in mehrheitlich islamischen Gesellschaften verbreiteter Homophobie entzünden und mit der Propagierung eines westlichen Liberalismus einhergehen, dessen dabei glorifizierte Freiheiten allerdings ihren bürgerrechtlichen Anspruch zusehends eingebüßt haben, um desto widerstandsloser in den Dienst der Kapitalverwertung gestellt werden zu können. Klassenwidersprüche und materielle Gewaltverhältnisse sollen nicht mehr als Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe verstanden werden, ihre Überwindung soll kein Ziel kollektiven Widerstands mehr sein. Das Format individueller Selbstverwirklichung fügt sich perfekt in die Rücksichtslosigkeit der Ellbogengesellschaft ein und kann auf diese Weise auch für Minderheiten fruchtbar gemacht werden, die ansonsten gefährdet wären, die eigene Diskriminierung zum Ausgangspunkt einer darüber hinausweisenden politischen Streitbarkeit und Solidarität zu machen. Die neoliberale Bezichtigungslogik, laut der jeder selbst für sein Scheitern verantwortlich ist und daher keinen Anspruch auf sozialpolitischen Ausgleich erheben kann, legitimiert als Schattenwurf des liberalen Credos vom konstitutionellen Recht jedes Menschen, sein Glück zu machen, massenhafte Verelendung auch in reichen Gesellschaften.

Es kann daher nicht erstaunen, daß in der LGBTI-Community alle politischen Farben und Ressentiments vertreten sind, so daß die Eindeutigkeit des emanzipatorischen Kampfes durch die gleichzeitige Befürwortung etwa imperialistischer Kriege oder staatsautoritärer Praktiken gebrochen ist. So kann die in Rußland grassierende Homophobie [2] als Anlaß mißdeutet werden, die anwachsende Aggressivität der NATO-Staaten gegenüber dem Land mit der fatalen Folge eines ausgewachsenen Staatenkrieges zu unterstützen. Eine Israel als Schutzraum für LGBTI-Menschen begreifende Linke kann durchaus die israelische Besatzungspolitik in Palästina und das damit einhergehende Wohlstandsgefälle, das den schon erheblichen Klassenunterschied der israelischen Binnengesellschaft noch weit übertrifft, gutheißen und den sozialen Widerstand dagegen als Antisemitismus diffamieren. Ob den Lesben und Schwulen nichtwestlicher Staaten dadurch gedient ist, daß hiesige LGBTI-Communities die im übrigen sehr patriarchalische Sanktions- und Kriegsagenda ihrer Regierungen gegen Länder des Südens gutheißen, darf wohl eher bezweifelt werden.

Der verbreiteten Praxis, den emanzipatorischen Kampf gegen Homophobie für die reaktionäre Politik des Staates Israel zu instrumentalisieren, der nicht nur die eigene arabische Bevölkerung strukturell benachteiligt, sondern Palästinenserinnen und Palästinenser massiv unterdrückt, treten denn auch die Schwulen und Lesben der Gruppe Berlin Against Pinkwashing entgegen. Als diese versuchten, während der Ansprache des israelischen Botschafters in der Bundesrepublik, Yakov Hadas-Handelsman, mit Sprechchören und Plakaten wie "No Pride in Israeli Apartheid" darauf hinzuweisen, daß es auch LGBTI-Menschen gibt, die sich nicht für kolonialistische Praktiken vereinnahmen lassen wollen, indem das Plädoyer für ihre Rechte als Werbung für einen Staat mißbraucht wird, der auch von vielen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern als zusehends autoritär und repressiv kritisiert wird [3], wurden sie massiv aus der Demonstration heraus attackiert [4]. Die Polizei handelte ganz im Sinne der Angreifer, zu denen laut den Betroffenen auch ein Abgeordneter der Berliner Linksfraktion gehört, und schloß die Gruppe von der Demonstration aus.

Vielleicht belebt dieser Vorfall die überfällige Diskussion in der Linken über den Umgang mit Gruppierungen und Personen innerhalb der Partei, die unter einem ideologiekritischen Vorzeichen, das die Affirmation herrschender Ideologie nur in Kollaboration mit dieser verbergen kann, rassistische und chauvinistische Positionen vertreten, um der linken Bewegung im Endeffekt den Rest zu geben. Nicht nur Querfrontambitionen, laut denen sich rechte und linke Positionen im Grundsatz nicht mehr unterscheiden ließen, machen linke Parteien als Sachwalter emanzipatorischer Ziele unglaubwürdig. Auch Queers, die den Weg des geringsten Widerstands auf die Seite der mutmaßlichen Gewinner dem streitbaren Umgang mit der Ohnmacht der Ausgebeuteten und Unterdrückten vorziehen und dies als linke Position ausgeben, verzerren die ohnehin große Verwirrung der Restlinken bis zur Unkenntlichkeit dessen, wofür einmal der revolutionäre Aufbruch von unten stand.


Fußnoten:

[1] HERRSCHAFT/1725: Toleranz ist zu wenig ... (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1725.html

[2] INTERVIEW/032: Vegane Fronten - Doppelfluchten ...    Wanja Kilber im Gespräch (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/tiere/report/trin0032.html

[3] HERRSCHAFT/1726: Lex Zoabi ... vom Parlament zum Tribunal (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1726.html

[4] kurzlink.de/Attacke_CSD

26. Juli 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang