Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1773: Kanzlerindämmerung im Widerschein sozialchauvinistischer Offensiven (SB)



So unübersichtlich ist die Lage nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche zur sogenannten Jamaika-Koalition nicht. Eine Kanzlerindämmerung ist so oder so hochwahrscheinlich, ob im Rahmen einer Minderheitsregierung, die keine volle Legislaturperiode überlebte, sondern lediglich bessere Voraussetzungen für die unausweichlichen Neuwahlen schüfe, oder im Zuge der nächsten Wochen, wenn sich eine Reorientierung der CDU an ihren nationalkonservativen Idealen abzeichnet und die Konstitution eines rechten Lagers inklusive AfD möglich erscheint. Noch sieht es so aus, als werde Bundeskanzlerin Merkel gebraucht, um tiefere Einbrüche im EU-europäischen Hegemonialmanagement zu verhindern. Frankreichs Präsident Macron und einige Regierungen der osteuropäischen EU-Staaten stärken ihr ausdrücklich den Rücken, weil sie eine handlungsfähige Bundesregierung mit EU-Perspektive benötigen, um ihre eigenen Ziele verfolgen zu können. Doch auch auf europäischer Ebene stehen die Befürworter verstärkter EU-europäischer Integration und die Verfechter einer Politik der Renationalisierung einander zusehends feindselig gegenüber.

Der Aufstieg der AfD und die Rückkehr der FDP, die am 24. September zusammen auf fast ein Viertel der Wählerstimmen kamen, markieren das keineswegs ausgeschöpfte Potential einer neuen Rechten, die sich vor dem Hintergrund vermeintlich verkrusteter Strukturen in Staat und Gesellschaft als aufbegehrende Avantgarde eines niemals vollständig genug verwirklichten Neoliberalismus und endlich wieder bedenkenlos zu feiernden Nationalismus inszeniert. Unter dem Vorwand, gegen die illegitime Dominanz der Volksparteien, die immer noch von der vermeintlich staatsaffirmativen Ideologie der 68er zehrten, der sich selbst die CDU unter Angela Merkel angeschlossen habe, und ihrer Funktionseliten in den Apparaten und Institutionen vorzugehen, wird Stimmung gegen alles gemacht, was nicht zur Verteidigung nationaler und kultureller Besitzstände Deutschlands beiträgt. Die Grundstimmung richtet sich gegen links, worunter alles gefaßt wird, was Gesellschaft und Wirtschaft mit den Mitteln staatlicher Fiskalautorität zum Zwecke des sozialökologischen Ausgleichs reguliert.

Diese Offensive leuchtet den WahlbürgerInnen nach dem vergeblichen Aushandeln ökosozialer Minimalzugeständnisse und dem Insistieren der Grünen auf einer liberalen Migrationspolitik desto mehr ein, als sich die Haltlosigkeit des Versuchs, neoliberale und sozialdemokratische Politikkonzepte unter einen Hut zu bringen, durch das Scheitern der Sondierungsgespräche erwiesen habe. Staatliche Abzüge vom Gesamtprodukt für die Alimentierung flüchtender Menschen zu akzeptieren, kann in der betriebswirtschaftlichen Logik, nach der AfD und FDP die Funktionsfähigkeit staatlichen Handelns beurteilen, schon deshalb keinen Sinn machen, weil nur die Reinvestition aller Gelder in Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit nationalen wie individuellen Nutzen widerspruchslos maximieren könne. Das gilt natürlich nur für Deutsche, wobei gegen hierzulande ebenfalls gewinnträchtig arbeitende EU-BürgerInnen nichts einzuwenden ist, solange dies nicht zu einer Transferunion führt, mit der der Niedergang der Wirtschaftsmacht Deutschland beschlossene Sache wäre.

Nur "kulturfremd" sollten die hier lebenden Menschen eher nicht respektive nur in kleiner Zahl sein. Insbesondere die islamfeindliche AfD erntet heute, was Thilo Sarrazin mit sozialchauvinistischen Argumenten gegen das angebliche Aussterben der Deutschen vor sieben Jahren gesät hat. Aber auch die FDP, bei der sich der Sozialdemokrat Sarrazin stets großer Beliebtheit erfreute, stößt heute um so entlasteter ins Horn einer kulturalistischen Suprematie. Sie ist Sinn und Zweck des von Lindner ausgegebenen Zieles der "weltbesten Bildung" für Deutschland, zu deren Verwirklichung nur der bestehende "Bildungsföderalismus" abgeschafft werden müsse. Gemeint ist nichts anderes als die weitere Ökonomisierung auch dieser bislang vor allem staatlich gewährleisteten Reproduktionserfordernis zugunsten gewinnträchtiger Investitionen großer Bildungskonzerne, die den Aufstieg in privilegierte gesellschaftliche Stellungen noch mehr als bisher an den dafür zu entrichtenden Preis binden.

Die Produktion neuer Eliten bei vertiefter, an Leistungs- und Effizienzkriterien ausgerichteter Selektion zur Sicherung von Besitzständen, in denen die soziale Zugehörigkeit biologistisch legitimiert und dynastisch weitergereicht wird, erinnert an die moderne Reformulierung mittelalterlicher Ständestaaten, wie etwa von dem österreichischen Philosophen Othmar Spann in den 1920er Jahren als Dritter Weg zwischen Demokratie und Marxismus propagiert und vom österreichischen Faschismus in den 1930er Jahren zumindest in Anspruch genommen. Daß all dies cool und lässig - höchst überzeugend inszeniert in der Bildsprache der FDP-Wahlkampagne - daherkommt und - bei aller Verteidigung der bürgerlichen Kleinfamilie als reproduktive Zelle der Nationalgemeinschaft - mit modernen Lebensentwürfen wie der lesbischen Partnerschaft der AfD-Fraktionsvorsitzenden Weidel vereinbar ist, belegt die Kompatibilität dieses liberalen Gesellschaftsentwurfes mit einem aggressiven Sozialchauvinismus, der die äußeren Insignien der alten Rechten vollends abgelegt hat.

Wenn also Angela Merkel, obschon für die Herrschaft von Staat und Kapital in der Bundesrepublik und die Hegemonie Deutschlands in Europa lange Zeit unentbehrlich, nach zwölf Jahren Kanzlerschaft von den Parteigängern der AfD und FDP eine sozialdemokratische oder gar sozialistische Grundtendenz angelastet wird, dann ist das Ausdruck einer politischen Lagerbildung, die die verschärften Bedingungen künftiger Verteilungskämpfe und Ressourcenkriege vorwegnimmt. Dem dezisionistischen Credo nationalsouveräner Kampfbereitschaft gemäß wird der erwünschte Konsens parlamentarischer Mehrheitsbeschaffung zur Durchsetzung eigener Forderungen maximal ausgereizt und gegebenenfalls torpediert. Wie sich immer deutlicher abzeichnet, hat der FDP-Vorsitzende Lindner die Reißleine gezogen, gerade weil eine Einigung im Jamaika-Format als erreichbar erschien. Nur so konnte er das Profil einer FDP retten, die nicht mehr bloße Mehrheitsbeschafferin sein, sondern im Rückenwind der in vielen westlichen Gesellschaften vorherrschenden Rechtsentwicklung ganz andere Horizonte erreichen will.

Auch das Angebot des führenden AfD-Politikers Poggenburg, unter der Bedingung, daß Merkel geht, eine von CDU und FDP gebildete Minderheitsregierung zu tolerieren, schlägt in die Kerbe der Delegitimierung einer vergleichsweise moderaten Regierungspolitik zugunsten der Stärkung rechter Kräfte in der Union. Da die SPD gute Gründe dafür hat, ihren geringen Restbestand an sozialdemokratischer Glaubwürdigkeit nicht dadurch zu gefährden, daß sie in einer Situation sich abzeichnender sozialer Kämpfe erneut als Mehrheitsbeschafferin einer CDU-Kanzlerin fungiert, was zudem die Chancen für die Neuaufstellung einer nicht ganz so weichgespülten parlamentarischen Linken verbesserte, bleibt das Nein zu einer Neuauflage der Großen Koalition bislang glaubwürdig.

Die sich abzeichnende Zäsur im politischen System der Bundesrepublik ist auch deshalb so tief und folgenschwer, weil der soziale Ausgleich unter der Kanzlerschaft Merkels nur noch ein Abglanz des Klassenkompromisses ist, mit dem die Bevölkerung der BRD in der Systemkonfrontation des Kalten Krieges bei Laune gehalten wurde. Als Resultat sozialer Unterwerfung und imperialistischer Politik seit jeher ausgeblendet und daher in seiner immanenten Aggressivität verkannt, dürften dem vielbeschworenen sozialen Frieden in der Bundesrepublik immer höhere Kosten des Verzichtes auf bürgerliche Freiheiten und angemessene Lebensführung abverlangt werden. Auf seiner Unterseite längst als sozialer Krieg entbrannt, hält er der Zerreißprobe verschärfter Widerspruchslagen immer weniger stand, was all denjenigen, die sich dem Regime notgedrungener Einsicht und Anpassung nicht unterwerfen wollen, spannende bis angespannte Zeiten verheißt.

21. November 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang