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HERRSCHAFT/1797: Brasilien - Rechtsruck ... (SB)



Ich bin für Folter, weißt du das? Mit Wahlen wird sich in diesem Land nichts ändern, überhaupt nichts. Sondern leider nur mit einem Bürgerkrieg.
Jair Bolsonaro (Präsidentschaftskandidat in Brasilien) [1]

Die Rede ist von der wichtigsten Wahl seit dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien 1985 und ihr Ausgang könnte die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas in Verhältnisse stürzen, die fatal an jene der Juntazeit erinnern. Das Land steckt in einer schweren Krise, die Wirtschaft läuft nur schleppend, zahlreiche Politiker sind in Korruptionsskandale verwickelt und die Gewalt nimmt immer weiter zu. Über 60.000 Menschen wurden im vergangenen Jahr getötet, in den Favelas liefern sich Drogenbanden und Sicherheitskräfte regelmäßig stundenlange Schießereien. In einem Klima existentieller Verunsicherung, um sich greifender Angst und zum Ausbruch drängender Empörung nimmt die Radikalisierung und Polarisierung der Gesellschaft bis hin zu einer tiefen Spaltung der politischen Lager dramatisch zu.

Profiteur dieser Eskalation, die er selbst nach Kräften anheizt, ist der ultrarechte Fallschirmjäger-Hauptmann der Reserve Jair Bolsonaro, der von den Großunternehmern, Börsenanlegern, konservativen Parteien, Teilen der Justiz und der Massenmedien, dem Militär und nicht zuletzt den höchst einflußreichen evangelikalen Kirchen unterstützt wird. Wenngleich der 63jährige seit 30 Jahren für neun verschiedene Parteien im Parlament saß, gibt er sich als Anti-System-Kandidat aus, der mit dem Politzirkus nichts zu tun hat: "Ich werde den Saustall Brasília ausmisten!" Er wendet sich nicht über die Presse an die Öffentlichkeit, sondern kommuniziert vorzugsweise in den sozialen Medien, was ihn der Beantwortung aller Fragen nach seiner inhaltlichen Programmatik enthebt. [2]

Als Parlamentarier ist er nie durch Sachpolitik, wohl aber gezielte Hetze vor allem gegen Frauen, Schwarze und Schwule bekanntgeworden. Er verhöhnte die Demokratie und rühmte das Militärregime samt seinen Folterschergen: "Ich bin für Folter, weißt du das? Mit Wahlen wird sich in diesem Land nichts ändern, überhaupt nichts. Sondern leider nur mit einem Bürgerkrieg." Bei der Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff rief Bolsonaro "Für Oberst Ustra", das war der Offizier, der die linke Politikerin einst foltern ließ. Er fordert eine Schließung der nördlichen Grenze, über die täglich Hunderte Flüchtlinge aus Venezuela kommen, und angesichts der ausufernden Gewalt und Kriminalität eine weitgehende Freigabe von Schußwaffen: "In einem gesetzlosen Land, in dem die Polizei einen nicht mehr beschützt, muss man das Recht letztlich wohl in die eigenen Hände nehmen!"

Aussichtsreichster Gegenkandidat ist Fernando Haddad von der Arbeiterpartei (PT), ein ehemaliger Bildungsminister und Bürgermeister von São Paulo. Er ersetzt den früheren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, der ursprünglich als hoher Favorit bei der Wahl galt, dann aber nach einem international umstrittenen Prozeß inhaftiert wurde und nicht mehr kandidieren durfte. Haddad vertritt den gemäßigten Flügel der PT und hat die meisten Gewerkschaften und sozialen Bewegungen auf seiner Seite, wobei er vor allem im armen Nordosten des Landes mit Zustimmung rechnen konnte. Da Lula bis zuletzt für seine eigene Kandidatur gekämpft hatte, blieb dem wenig bekannten Haddad nur ein Monat Zeit für den Wahlkampf.

Der erste Wahlgang glich einem Siegeszug Bolsonaros, der mit 46,7 Prozent die absolute Mehrheit nur knapp verfehlte und die letzten Vorhersagen weit übertraf. Auf Haddad entfielen 28,37 Prozent, der zwar etwas besser als erwartet abschnitt, dessen Rückstand auf Bolsonaro sich aber gegenüber der Prognose nahezu verdoppelte. Bei der Stichwahl am 28. Oktober werden viele Stimmen zusammenfließen, um Bolsonaro gemeinsam zu verhindern. Da der linke Kandidat Ciro Gomes jedoch nur auf enttäuschende 12,5 Prozent kam und die zweimalige Präsidentschaftskandidatin Marina Silva mit nur einem Prozent in der Bedeutungslosigkeit verschwand, reicht das rechnerisch noch nicht, zumal der Favorit nur wenige Prozentpunkte zulegen muß, um das Rennen zu machen.

Daß die vordem populäre Umweltpolitikerin Marina Silva, die bei den Wahlgängen 2010 und 2014 noch rund 20 Millionen Stimmen bekommen hatte, derart abgestürzt ist, zeugt von einem dramatischen Schwund ökologischer Fragen und Kämpfe in der öffentlichen Wahrnehmung. Für Dilma Rousseff dürfte mit diesen Wahlen sogar die politische Karriere beendet sein, da sie im Bundesstaat Minas Gerais als viertplazierte Kandidatin mit knapp 15 Prozent der Stimmen den Einzug ins Parlament verfehlte. Dagegen konnte Janaína Paschoal, eine der Urheberinnen des Amtsenthebungsverfahrens gegen Rousseff, einen strahlenden Sieg in São Paulo einfahren: Niemals zuvor hat eine Abgeordnete mehr Stimmen bekommen. Der kalte Putsch gegen Rousseff und die Arbeiterpartei, dem die Verurteilung und Inhaftierung Lulas folgte, scheint im Bewußtsein der Mehrheitsgesellschaft als gerechtfertigt wahrgenommen zu werden. [3]

Bei der Abstimmung am Sonntag ging es nicht nur um das Präsidentenamt. Mehr als 145 Millionen Menschen waren aufgerufen, die 531 Mitglieder des Abgeordnetenhauses in Brasília und zwei Drittel des Oberhauses neu zu bestimmen. Zur Wahl standen auch die Gouverneure der 27 Bundesstaaten und des Hauptstadtdistrikts sowie deren Parlamente. Das politische System Brasiliens ist ein Hybrid aus einem Präsidentialismus nach US-Vorbild und dem Parlamentarismus europäischen Modells. Der Präsident muß vor jeder wichtigen Abstimmung im Kongreß die Regierungsmehrheit neu verhandeln, es gibt weder Fraktionszwang noch eine Fünfprozenthürde. Das führt dazu, daß zuletzt 27 Parteien im Kongreß saßen und sich die Regierung ihre Unterstützung oftmals erkaufen muß, so daß Korruption gewissermaßen integraler Bestandteil des Politikbetriebs ist. [4]

Die Programme der Parteien sind bis auf wenige Ausnahmen leere Hüllen. Sie fungieren als Vehikel elitärer Politunternehmer, die oftmals mit ihrem ganzen Clan im Geschäft sind. Die kostspieligen Wahlkämpfe sind dementsprechend personalisiert, und wer viel Geld mitbringt, kann seine Kampagne ausgiebiger finanzieren. Wenngleich die Parteien auch Gelder aus öffentlichen Fonds erhalten, ziehen doch im Parlament Lobbys wie die der Großagrarier und der Evangelikalen die Fäden, wobei letztere dabei sind, ihren Einfluß beträchtlich auszuweiten. Zudem ist davon auszugehen, daß landesweit operierende Kartelle des organisierten Verbrechens vielerorts Einfluß auf die Wahl nehmen. [5]

Der Aufstieg Bolsonaros verdankt sich nicht zuletzt einem weit verbreiteten und teils ins Irrationale gesteigerten Haß gegen die langjährige Regierungspartei PT. Nun schlug die Stunde des Hinterbänklers, der mit hemmungslosen Bezichtigungen und Falschmeldungen in den sozialen Netzwerken eine professionelle Kampagne lostrat und den Messerangriff von Anfang September populistisch ausschlachtete. Eigentlich stand ihm kaum Sendezeit für Wahlspots in Radio und Fernsehen zu, doch seit dem Attentat berichteten die Nachrichtensender fast rund um die Uhr über Bolsonaro. Um seine Anhänger aufzuheizen, reichte ein Foto aus der Intensivstation auf Twitter, wobei er stets seine Lieblingsgeste zeigte: Daumen und Zeigefinger abgespreizt zu einer imaginären Schußwaffe. Die Frage, wie Bolsonaro nach der letzten Umfrage noch einmal um fast zehn Prozentpunkte zulegen konnte, führt zu den beiden brasilianischen Fußballstars Ronaldinho und Rivaldo, die ihre Millionen Anhänger am Sonntagmorgen zur Wahl Bolsonaros aufgerufen hatten. [6]

Es waren vor allem Wähler aus dem gemäßigten bürgerlichen Lager, die im letzten Moment zu Bolsonaro schwenkten und ihm fast zu einem Sieg im ersten Wahlgang verhalfen. So verfestigt sich der Eindruck, daß es in Brasilien derzeit eine rechtsextreme Mehrheit gibt. In der Wirtschaftskrise und den unablässigen Korruptionsskandalen der zurückliegenden Jahre hat das Vertrauen in die demokratischen Institutionen schwer gelitten, setzen immer mehr Menschen ihre Hoffnungen in einen Machthaber, der mit eisernem Besen durch die Gesellschaft zu fegen verspricht. Reale Gewalt mittels omnipotenter Gewaltphantasien in noch schärfere Repression zu verwandeln ist das Metier einer radikalen Rechten, die im Dienst der besitzenden und herrschenden Klasse auf den starken Staat, die Niederwerfung der Linken und nicht zuletzt rassistische wie auch patriarchale Unterdrückung setzt.

Der große Bogen des Konters gegen die Linke in Lateinamerika, durchgetragen von Washington und den nationalen Eliten, findet seine Entsprechung in der sozialen Keimzelle des wiedererstarkenden Machismo, ohne den die extreme Rechte keine Massenbasis gewönne. Verbale Schläge gegen hochstilisierte Haßobjekte reichen zur Mobilisierung auf die Dauer nicht aus, wenn es auf der Straße und im häuslichen Umfeld nichts zu prügeln gäbe. Während Jair Bolsonaro von Folter und Waffenbesitz schwärmt, feierten Anhänger vor seinem Anwesen in Rio de Janeiro in den Landesfarben, sangen die Nationalhymne und vollführten einen militärischen Drill samt Liegestützen auf dem blanken Asphalt. Die Botschaft ist angekommen. Der rechte Tsunami rollt durch Brasilien und droht am 28. Oktober vollendete Tatsachen zu schaffen.


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/ausland/bolsonaro-portraet-101.html

[2] www.tagesspiegel.de/politik/praesidentschaftswahl-rechtspopulist-bolsonaro-gewinnt-erste-wahlrunde-in-brasilien/23158794.html

[3] www.welt.de/politik/ausland/article181798078/Praesidentschaftswahlen-Brasilien-erlebt-den-Beginn-einer-rechten-Revolution.html

[4] www.spiegel.de/politik/ausland/brasilien-jair-bolsonaro-liegt-laut-hochrechnungen-vor-fernando-haddad-a-1232033.html

[5] amerika21.de/2018/10/214509/brasilien-extreme-rechte-bolsonaro-wahl

[6] www.sueddeutsche.de/politik/brasilien-wahl-bolsonaro-haddad-1.4160749

8. Oktober 2018


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